Die jüngsten Vorfälle in Südtirol zeigen: Der Wolf verliert seine natürliche Scheu vor dem Menschen. Der Wildtierbiologe und emeritierte Münchner Universitätsprofessor Wolfgang Schröder erklärt den einfachen Grund für diese Verhaltensänderung – und das Risiko, das wir damit eingehen. Er weiß auch, warum sich Wölfe nicht mit einem getöteten Schaf zufrieden geben, sondern wie im Blutrausch in der Herde wüten. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="829619_image" /></div> <BR /><b>Um 10 Uhr am Vormittag streift ein Wolf am Kinderspielplatz der Schgaguler Schwaige vorbei: Was sagen Sie zu dieser Szene?</b><BR />Wolfgang Schröder: Ich finde das Video von der Seiser Alm nett, in dem ein Hund – ein Dalmatiner glaube ich – einem jungen Wolf hinterherläuft. Das war in dem Fall ungefährlich, für Hund und Kinder in der Nähe. Für den Hund hätte es schon anders ausgehen können, wenn es ein erwachsener Wolf gewesen wäre.<BR /><BR /><b>Der Wolf gilt aber allgemein als scheues Tier, das sich vor dem Menschen lieber versteckt. Warum schlagen Wölfe inzwischen sogar in der Nähe von Bauernhöfen und Wohnsiedlungen zu, wie Vorfälle in Olang, Prags und Martell zeigen?</b><BR />Schröder: Was wir auf der Seiser Alm sahen, war einen „furchtloser“ Wolf, der am helllichten Tag die Gegend inspiziert hat. Im Buch „Der Wolf im Visier“ habe ich beschrieben: Wölfe sind von Natur aus furchtlos, sie sind Spitzenprädatoren und haben keinen Grund sich groß vor irgendwas zu fürchten, am ehesten von Ihresgleichen. Solche furchtlosen Wölfe bei uns sind allerdings eine neue Erscheinung. Es gibt sie, seit Wölfe sich wieder ausgebreitet haben und nicht verfolgt werden. <BR /><BR /><b>Im Klartext: Wölfe kommen uns näher, weil sie nichts zu befürchten haben.</b><BR />Schröder: Die ausgebliebene Verfolgung ist der Schlüssel für diese Verhaltensänderung. Wölfe waren nämlich in der jüngeren Vergangenheit scheu, ja extrem scheu, weil sie mit allen Mitteln verfolgt wurden. Heute kehren sie zu unserer Überraschung zum alten, furchtlosen Verhalten zurück. Durch dieses neue Verhalten und durch ihre zunehmende Häufigkeit geraten sie näher an die Siedlungen, näher an Ortschaften, an Naherholungsgebiete. <BR /><BR /><b>Wie gefährlich kann das dann werden?</b><BR />Schröder: Wir haben ein Glück, dass die Wölfe in der Regel für Menschen nicht gefährlich sind. Wir haben in Deutschland bald 200 Wolfsrudel mit weit über 1000 Wölfe, alles in besiedelter Landschaft. Es gab keinen einzigen Zwischenfall mit einem Menschen. Das ist schier unglaublich, wenn man an die vielen Verletzten und auch Todesfälle mit Hunden denkt.<BR /><BR /><b>Also Entwarnung...</b><BR />Schröder: Nein, wir müssen einen klaren Blick bewahren: Die Wolfsszene ist sehr dynamisch, die Tiere werden häufiger, furchtloser und rücken uns näher auf die Pelle. Wölfe ändern auch ihr Verhalten. Wir sollen kein Risiko eingehen. Wir sollen Wölfe in der Nähe unserer Siedlungen nicht tolerieren. Wir wollen scheue Wölfe, die Abstand halten. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="829622_image" /></div> <BR /><b>Noch eine andere Frage, die viele beschäftigt: Warum reißen Wölfe oft reihenweise Nutztiere, die sie nicht einmal fressen?</b><BR />Schröder: Unter Raubtieren ist das Verhalten weit verbreitet, gelegentlich mehr Beutetiere zu töten, als sie unmittelbar fressen. Das machen Wiesel mit Wühlmäusen, Schwertwale mit Seehunden, Leoparden mit Gazellen oder Füchse mit Pinguinen in Australien. Weit verbreitet ist das Verhalten bei Katzen mit Mäusen. Jeder kennt das von Wölfen und Braunbären und den Schafen als Beutetieren. <BR /><BR /><b>Es gehört also zur Natur von Wölfen, dass sie halbe Schafsherden reißen.</b><BR />Schröder: Landläufig spricht man bei diesem Verhalten von „Blutrausch“, weil es Entsetzen und Unverständnis hervorruft. Doch die Bezeichnung ist falsch. Wolfe und Bären sind nicht in Rage, wenn sie „übermäßig“ Schafe töten und nicht fressen. Es ist ein normales Verhalten für das Raubtier. Im Deutschen gibt es keinen treffenden Begriff, wie im Englischen, dort heißt es „surplus killing“ und bedeutet „mehr zu töten als man braucht“.<BR /><BR /><b>Und warum machen sie das?</b><BR />Schröder: Verhaltensforscher sehen, dass die gesamte Jagd in drei Phasen abläuft: Verfolgung, Töten und Fressen. Meist fliehen andere Beuteltiere nach dem Tötungsakt des ersten. Dann kann das Raubtier in Ruhe fressen. Laufen aber noch andere Beutetiere in der Nähe rum, dann geht das Raubtier zunächst weiter dem Tötungstrieb nach. Es ist bezeichnend, dass in dieser Phase nicht mehr groß nachgejagt wird, sondern nur gefangen und getötet wird.<BR />Besonders krass ist das bei Schafen, weil sie kein den Rehen oder Rothirschen vergleichbares Fluchtverhalten haben, da laufen nach dem Töten der ersten noch weitere Schafe herum, die getötet werden, bevor gefressen wird. Für Schafe ist es besonders fatal, wenn sie im Zaun sind und nicht aus können. Hier wird getötet, bis keines mehr herumläuft. Englisch heißt es wieder treffend „hen house effect“ – Hühnerstalleffekt. Den kennen wir vom Marder und Fuchs.<BR />Manche Raubtiere kehren später zurück und fressen von den Getöteten, aber nicht immer. Manche legen sogar Vorräte an, wie der Vielfraß in Norwegen, der viele Schafe tötet, sie in Felsspalten stopft als Vorrat, was besonders ärgerlich für die Bauern ist.<BR /><BR /><BR />ZUR PERSON<BR /><BR />Wolfgang Schröder, 1941 in Graz (Steiermark) geboren, studiert Wildbiologie und Ökologie in den USA. Nach Abschluss des Studiums an der Forstlichen Fakultät der Universität Göttingen in Hann wechselt er nach Bayern, er wird Leiter des Instituts für Wildforschung und Jagdkunde der Forstlichen Forschungsanstalt München. In Oberammergau richtete er eine Außenstelle des Instituts ein. <BR />Ab 1. September 1980 und bis zur Emeritierung ist Schröder Professor für Wildbiologie und Jagdkunde an der Universität München. Als erfahrener Gebirgsjäger interessiert er sich vor allem für das Hochgebirge und die dort lebende Gämse. Das mit Werner Knaus verfasste Buch „Das Gamswild“ gilt als Standardwerk. Schröder war Vorstand der 1977 gegründeten Wildbiologischen Gesellschaft München e.V. (WGM) und Herausgeber der „Zeitschrift für Jagdwissenschaft“. Außerdem engagiert er sich im internationalen Naturschutz, 1983 wurde er für seine Biotopforschungen mit dem Philip Morris Forschungspreis ausgezeichnet. <BR />Schröder interessiert sich besonders für die Mensch-Wolf-Beziehung, auch in anderen Kulturen, und deren Wandel von der Steinzeit bis in die Gegenwart.<BR /><BR />DAS BUCH<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="825962_image" /></div> <BR />Heinrich Aukenthaler (Herausgeber): <b>Der Wolf im Visier</b> – Konflikte und Lösungen. Im Fokus: Der Wolf im Alpenraum. 352 Seiten, Verlag Athesia Tappeiner, 2022, ca. 25 Euro. <BR /><BR />Dieses Buch widmet sich dem Problemkreis „Wolf“ mit rund 90 Fragen, zu deren Beantwortung Fachleute der Wildbiologie und des Wildtiermanagements gebeten wurden, aus Italien, Österreich, Deutschland, der Schweiz und Norwegen. Zu Wort kommen auch Weidetierhalter, Jäger, Tierärzte und Rechtsexperten. Südtirol ist u.a. mit den Autoren Heinrich Aukenthaler, Matthias Gauly, Alberich Hofer, Markus Moling, Walter Obwexer und Benedikt Terzer vertreten. <BR /><BR /><BR />