Am 23. Mai um 17.58 Uhr jährt sich das <a href="https://www.stol.it/artikel/chronik/30-jahre-nach-attentat-auf-giovanni-falcone-mafia-vergisst-nicht" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Attentat</a> auf den Mafiajäger Giovanni Falcone zum 30. Mal. Auf meiner Reise zu allen Etappen dieser Tragödie habe ich viele Zeugen getroffen und Gespräche über „omertà“ (Schweigepflicht) geführt. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771749_image" /></div> <BR /><BR /><b>Welche Erinnerungen haben Sie an den 23. Mai 1992?</b><BR />Leoluca Orlando: Ich werde diesen Tag nie vergessen, ich war in Assisi bei einer politischen Versammlung meiner Bewegung „La Rete“, als plötzlich der Quaestor von Perugia in den Saal stürmt und mich darüber informiert, dass es ein Attentat auf Giovanni Falcone gegeben hat. Ich bin sofort abgereist, zuerst nach Rom und dann nach Palermo.<BR /><BR /><BR /><b>Welche Gefühle löst das Attentat heute noch bei Ihnen aus?</b><BR />Orlando: Der 23. Mai, aber auch der 19. Juli 1992, als das Attentat auf Paolo Borsellino verübt wurde, waren die traurigen Höhepunkte des Krieges zwischen der Mafia und dem Staat Italien. Ab diesen 2 schrecklichen Ereignissen hat die Mafia begonnen, den Krieg zu verlieren, sie wurden zum Bumerang für sie. Die Bevölkerung begann sich aufzulehnen und sagte: „Genug ist genug“. Viele viele Jahre lang wurde „nichts gesehen, nichts gehört und nichts gesagt“, nach den Attentaten hat sich dies grundlegend geändert. Das war eine Revolution, die Menschen haben endlich Zivilcourage gezeigt.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771752_image" /></div> <BR /><BR /><b>Und was haben Sie gedacht, als die beiden Hauptverantwortlichen für diese Verbrechen, die Mafiabosse Totó Riina und Giovanni Brusca verhaftet wurden?</b><BR />Orlando: Ich sagte immer wieder: „Sie haben verloren, sie haben zu viele Menschen ermordet und letztlich verloren.“ Es ist so traurig, dass so viele Morde nötig waren, damit Italien und die Welt versteht, wie schwer es war, in einer Stadt zu leben, die von der Mafia regiert wurde. In den 70er und 80er Jahren hatte die Mafia in Palermo viele Gesichter: von Politikern, Polizisten und Staatsanwälten, auch das Gesicht des Bischofs. Wir sind da in meinem Büro, und ich muss Ihnen sagen, dass für viele Jahre hier Oberbürgermeister regierten, die Freunde von Mafiabossen waren, einmal war sogar der Oberbürgermeister selbst ein Mafiaboss. Als ich mich gegen die Mafia stellte, hat man mir vorgeworfen, Atheist und Kommunist zu sein. Ich war nie Atheist und auch nie Kommunist. Die Mafia regierte, die Mafia hatte das Gesicht des Staates und der Staat hatte das Gesicht der Mafia.<BR /><BR /><BR /><b>Kannten Sie Giovanni Falcone? Wie war er als Mensch?</b><BR />Orlando: Giovanni Falcone war eine sehr seriöse und professionelle Person. Ich habe Giovanni und Francesca in diesem Büro, in dem wir uns gerade befinden, standesamtlich getraut, mit nur 2 Trauzeugen, ohne Champagner, ohne Fotos ganz geheim in einer Samstagnacht, aus Sicherheitsgründen. Ich habe die beiden oft getroffen, und wir sind auch einmal zusammen 2 Wochen nach Russland gereist, gemeinsam mit meiner Frau. Da waren wir dann weit weg, von der schwierigen Lage Palermos. Giovanni Falcone hat gemeinsam mit Paolo Borsellino, Antonino Caponnetto und anderen einen wesentlichen Beitrag im Kampf gegen die Mafia geleistet.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771755_image" /></div> <BR /><BR /><b>Hätten Sie eine Botschaft für die Jugendlichen heute, speziell für unsere in Südtirol?</b><BR />Orlando: Sie müssen an die Zukunft glauben, und sie dürfen nicht sagen, die Mafia ist wie eine Tropenkrankheit, die man isolieren und bekämpfen kann, denn die Mafia ist überall auf der ganzen Welt. Wenn der Bürgermeister von Bozen sagen würde, es gibt keine Mafia in Bozen, dann wäre dies wie eine offizielle Einladung an die Mafia, in Bozen aktiv zu werden. Die Mafia braucht Dunkelheit und Schweigen und dass die Menschen sagen, es gibt sie hier nicht. Das Wort „Mafia“ kommt ja aus der arabischen Sprache und bedeutet: „Es gibt nicht“. Es gibt einen Unterschied zwischen der „normalen“ organisierten Kriminalität – bitte entschuldigen Sie in diesem Zusammenhang das Wort „normal“ – und Mafia: Die „normale“ organisierte Kriminalität ist gegen den Staat und außerhalb des Staates, gegen die Banken und außerhalb der Banken, gegen die Kirche und außerhalb der Kirche, die Mafia hingegen ist gegen und innerhalb des Staates, gegen und innerhalb der Banken, gegen und innerhalb der Kirche. Sie braucht die Infiltration der Organisationen, um die Kontrolle zu erlangen. Deswegen ist der Kampf gegen die Mafia ein Kampf für Demokratie und Menschenrechte.<BR /><BR /><BR /><b>„Giovanni Falcone war ein äußerst seriöser Mann und pflichtbewusst bis zum Tod</b>“<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771758_image" /></div> <BR /><BR /><b>Prof.ssa Falcone, wenn Sie Ihrem Bruder Giovanni heute, 30 Jahre nach dem tödlichen Attentat, etwas sagen dürften, was wäre das?</b><BR />Maria Falcone: Ich würde ihm sagen: „Mein lieber Giovanni, du würdest heute in mancherlei Hinsicht die Stadt Palermo nicht mehr wiedererkennen. Alle hier erinnern sich an dich, sie lieben dich immer noch, weil sie erkannt haben, wie wichtig und groß dein Opfer war, in deinem Kampf, unser Land von der Mafia zu befreien. Vielleicht aber Giovanni, lieben dich doch nicht alle hier, denn einige Teile unseres Landes sind immer noch von der Mafia infiziert. Wir hoffen aber, dass mit den Jahren dieser Anteil immer geringer wird.“<BR /><BR /><BR /><b>Und was glauben Sie, können wir von Giovanni Falcone und Paolo Borsellino heute für unser Leben lernen?</b><BR />Falcone: Die wichtigste Sache, die ich den Schülern immer erzähle, ist, dass Giovanni eine Art „weltliche Religion“ hatte, und zwar die „Religion der Pflichterfüllung“. Daher trage ich ihnen immer auf, sie sollen in ihrem Leben das tun, was Giovanni und Paolo (Anm.d.Red.: Er war ebenfalls Richter und Mafiajäger und wurde am 19.7.1992 von der Mafia ermordet) vorgelebt haben: Sie haben einfach nur ihre Pflicht erfüllt. Ein Satz von John F. Kennedy hat Giovanni immer begleitet: <i>„Man muss seine Pflicht bis zum Ende erfüllen, samt allen Opfern und Konsequenzen, die damit verbunden sind. Denn dies macht die menschliche Würde aus“.</i><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771761_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie war ihr Bruder privat?</b><BR />Falcone: Seine Haupteigenschaft lag darin, dass er jede Aufgabe, die ihm übertragen wurde – und war sie auch noch so klein – mit maximalem Engagement und Einsatz all seiner Fähigkeiten zu erfüllen versucht hat. Dies war bereits in seiner Jugend so und dann natürlich auch in seinem späteren Beruf als Ermittlungsrichter.<BR /><BR /><BR /><b>Was fühlen Sie, wenn Sie an das Attentat auf Ihren Bruder vom 23. Mai 1992 denken?</b><BR />Falcone: Ich kann ihnen gar nicht alle Gefühle beschreiben, die meine Erinnerungen daran auslösen. Es ist ein tiefer und seit langem anhaltender Schmerz, und mein Leben teilt sich seit diesem Datum in ein „Vorher“ und ein „Nachher“. Vorher war ich eine bestimmte Person und nachher bin ich eine andere geworden.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771764_image" /></div> <BR /><BR /><b>Kennen wir alle Wahrheiten über dieses schreckliche Attentat, oder fehlt etwas?</b><BR />Falcone: Ich lese in den Büchern, die erst vor Kurzem zu den Attentaten von Capaci und Via d'Amelio erschienen sind und aus den Erkenntnissen der Prozesse, die bis heute in Caltanissetta zu den Attentaten an meinen Bruder und an Paolo Borselino laufen, dass es neue Theorien über die Hintergründe gibt, die außerhalb von „Cosa Nostra“ liegen. Ich hoffe, dass sich in den nächsten Jahren daraus konkrete Erkenntnisse ergeben, um endlich Klarheit zu haben, wer hinter diesen Anschlägen steckt.<BR /><BR /><BR /><b>Sind Gerechtigkeit und Wahrheit für Sie 2 unterschiedliche Dinge?</b><BR />Falcone: Nein, das Eine hängt mit dem Anderen zusammen. Nur über die Wahrheit wird man Gerechtigkeit erlangen. Auch wenn ich froh bin, dass die Reaktion des Staates Italien gegen die Mafia nach den Anschlägen auf Giovanni und Paolo entschlossen war. Die meisten dafür verantwortlichen Mafiosi sitzen heute hinter Gittern und verbüßen ihre teils lebenslange Strafe. Aber wir dürfen nie aufhören, dafür zu kämpfen, die ganze Wahrheit zu erfahren.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771767_image" /></div> <BR /><BR /><b>Und wie war Francesca Morvillo, die Frau Ihres Bruders, an was erinnern Sie sich?</b><BR />Falcone: Francesca war eine liebe Freundin. Sie war eher reserviert und hat nicht gerne in der Öffentlichkeit ihre Gefühle gezeigt, sie hat nicht einmal mir gegenüber ihre Ängste geäußerte, ihre Ängste, die sie sicherlich täglich hatte und die auch ich als Schwester von Giovanni täglich hatte. Darüber haben wir nie gesprochen. Francesca war die Frau, die es Giovanni ermöglicht hat, das zu tun, was er tun wollte. Ich weiß nicht, wie viele andere Ehefrauen es ihren, über alles geliebten Ehemännern ermöglicht hätten, einen Beruf auszuüben, der sie in permanente Gefahr brachte. Ich glaube Francesca hatte in ihrem Herzen mehr Angst um Giovanni als um sich selbst. Sie hat auch nie gezögert, sich mit ihm ins Auto zu setzen und wir alle wissen, wie es endete…<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771770_image" /></div> <BR /><BR /><b>Welche Botschaft würden Sie gerne unseren Jugendlichen in Südtirol übermitteln?</b><BR />Falcone: Eine Botschaft, die ich seit 30 Jahren allen Jugendlichen gebe, ist: Die Mafia, die „Cosa Nostra“ wie sie sich in Sizilien nennt, aber auch die „Camorra“, die „N'Drangheta“ und die „Sacra Corona Unita“, alles schreckliche, kriminelle Organisationen, welche im Süden Italiens beheimatet sind, beeinflussen das Leben aller Italiener negativ, von Sizilien bis Südtirol. Demnach ist die Mafia nicht ein sizilianisches, apulisches, kalabresisches oder kampanisches sondern – wie auch Giovanni sagte – ein nationales und internationales Problem. Die Mafia agiert vor allem in den reichen Regionen Italiens, also im Norden. Und wie wir aus den Ermittlungen aus Mailand wissen, sind die Geschäfte, die sie z.B. in der Lombardei abwickelt, vermutlich größer als jene in Sizilien.<BR /><BR /><BR /><b>Als die Mafiabosse Totò Riina und Giovanni Brusca – die Drahtzieher des Attentats auf Ihren Bruder – verhaftet wurden, was ging Ihnen da durch den Kopf?</b><BR />Falcone: Ich bin sehr religiös und daher habe ich in meinem Herzen keine Rachegefühle sondern nur den Wunsch nach Gerechtigkeit. Die Tatsache, dass der Saat Italien die beiden verhaften konnte, zeigt, dass die Mafia nicht gesiegt hat. Man muss auch daran erinnern, dass Giovanni Brusca, der während seiner Haft damit begann, mit der Justiz zusammenzuarbeiten, durch seine Aussagen viele weitere Attentate verhindert hat. Die Mafiabosse Totó Riina und auch Leoluca Bagarella dachten, sie könnten den italienischen Staat in die Knie zwingen, aber der Staat war letztlich stärker.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771773_image" /></div> <b>War Ihr Bruder eigentlich ein glücklicher Mensch? Er hat den Beruf ausgeübt, den er über alles liebte und die Frau seines Herzens gefunden...</b><BR />Falcone: So gesehen haben Sie Recht, er war ein glücklicher Mensch. Ich möchte Ihnen aber auch etwas sagen, was ich sonst in Interviews nur sehr selten erzähle. Als Giovanni das Angebot annahm, Mitglied des Antimafia-Pools von Palermo unter Rocco Chinnici zu werden, war uns allen bewusst, welchen Gefahren er sich damit aussetzte und was dies für ihn bedeuten könnte. Schließlich waren der Regionalpräsident Siziliens, Piersanti Mattarella, der Bruder unseres amtierenden Staatspräsidenten etwa und auch der Carabinieri-General Carlo Alberto Dalla Chiesa in Palermo ermordet worden. Als ich ihn einmal fragte, warum er sich das antue und dieses Angebot angenommen habe, sagte er: „Man lebt schließlich nur einmal“. Seine Intelligenz, seine Art zu sein, haben ihn glauben lassen, dass das Leben ein einzigartiges, wertvolles Gut ist, und es nicht vergeudet werden darf, sondern einen Sinn haben muss. Für Giovanni bestand der Sinn darin, Sizilien von der Mafia zu befreien.<BR /><BR /><BR /><b>Ich habe großen Respekt vor der Lebensleistung Ihres Bruders, für mich war er ein Ausnahmekönner mit großen intellektuellen und analytischen Fähigkeiten, aber auch mit einer grandiosen ethischen Grundhaltung…</b><BR />Falcone: …ich danke Ihnen sehr für diese Worte. Ich weiß, dass Giovanni von den Italienern sehr geliebt wird, und was ich in all den Jahren versucht habe, war, seine Ideen im Kampf gegen die Mafia weiter zu unterstützen, denn nur dadurch können wir wirklich siegen. Dies ist auch das Ziel der „Fondazione Falcone“, deren Präsidentin ich bin. Wir unterstützen Initiativen, um einen Kulturwandel in der Bevölkerung zu bewirken. Giovanni hat immer wieder versichert, dass man die Mafia nur auf kultureller Ebene wirklich besiegen kann. Daher ist es von fundamentaler Bedeutung, über die Jugendlichen eine neue Gesellschaft aufzubauen, die den Konsens mit der Mafia verweigert.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771776_image" /></div> <BR />Stefan Winkler hat in Palermo einen Dokumentarfilm samt seiner Musik (der Song ist auf STOL abrufbar) gedreht. Wann und wo dieser ge-<BR />zeigt wird, steht noch nicht fest.<BR /><BR /><BR /><BR />