Zwei Tage später, in der Nacht vom 9. auf den 10. November, fand daraufhin die die Pogromnacht: Es wurde geplündert, geraubt, geschlagen, zertrümmert und zerstört und Synagogen angezündet. 400 Juden und Jüdinnen werden getötet.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="961540_image" /></div> <BR /><BR />Noch am 7. November wies Propagandaminister <b>Joseph Goebbels</b> die gleichgeschaltete deutsche Presse an, wie das Attentat als „Anschlag des Weltjudentums“ dargestellt werden sollte – Goebbels: <BR /><i>„Alle deutschen Zeitungen müssen in größter Form über das Attentat berichten. Die Nachricht muss die erste Seite voll beherrschen. […] In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat des Juden schwerste Folgen für die Juden in Deutschland haben muss.“</i><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="961543_image" /></div> <BR /><BR />Am nächsten Tag konnte man dann im <b>„Völkischen Beobachter“,</b> dem Parteiorgan der NSDAP, folgenden Leitartikel lesen:<BR /><i>„Es ist ein unmöglicher Zustand, dass in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als 'ausländische' Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen.“</i><BR /><BR />Am selben Abend brannte in Bad Hersfeld die erste Synagoge. In zahlreichen Orten wurden jüdische Geschäfte und Wohnungen demoliert. Bereits hier zeigte sich das gewalttätige Potenzial der antisemitischen Parteibasis.<h3> Der Befehl</h3>Ernst vom Rath – NSDAP-Mitglied – erlag am Abend des 9. November seinen Verletzungen. Zum Zeitpunkt seines Todes feierten gerade die alten NS-Kämpfer im Alten Rathaus in München mit Hitler die Erinnerung an den Marsch zur Feldherrnhalle im November 1923. Dort erhielt Hitler die Nachricht vom Tod des Diplomaten. Sofort besprach er sich mit Goebbels, verließ dann die Veranstaltung und fuhr in seine Privatwohnung.<BR /><BR />Goebbels informierte anschließend gegen 22 Uhr die versammelten Gauleiter und SA-Führer und machte dabei die, wie er formulierte, <i>„Jüdische Weltverschwörung“</i> für den Tod vom Raths verantwortlich. Um 22.30 Uhr ging folgender Befehl aus Berlin an Gauleiter und Gestapostellen im Reich:<BR /><i>„Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. […] Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. […] Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: 'Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.'“</i><BR /><BR />Dann wurde präzisiert: <i>„Es ist vorzubereiten die Festnahme von etwa 20-30.000 Juden im Reich. Es sind auszuwählen vor allem vermögende Juden.“</i><BR /><BR /> Um 23 Uhr begann die SA überall im Reich mit ihren Aktionen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="961546_image" /></div> <h3> Die Durchführung</h3><BR />Wie das im einzelnen ablief, zeigt folgender Augenzeugenbericht aus Nürnberg:<BR /><i>„Zuerst kamen die großen Ladengeschäfte dran; mit mitgebrachten Stangen wurden die Schaufenster eingeschlagen, und der am Abend bereits verständigte Pöbel plünderte unter Anführung der SA die Läden aus. Dann ging es in die von Juden bewohnten Häuser ein. Glastüren, Spiegel, Bilder wurden eingeschlagen, Ölbilder mit den Dolchen zerschnitten, Betten, Schuhe, Kleider aufgeschlitzt, es wurde alles kurz und klein geschlagen. Vorgefundene Geldbeträge wurden konfisziert, Wertpapiere und Sparkassenbücher mitgenommen. Das schlimmste dabei waren die schweren Ausschreitungen gegen die Wohnungsinhaber, wobei anwesende Frauen oft ebenso misshandelt wurden wie die Männer. […] Am anderen Morgen wurden gegen 4 Uhr morgens alle zuvor inhaftierten Personen unter 60 Jahren nach Dachau abtransportiert.“</i><BR /><h3> Die Bilanz</h3>Nach neuesten Erkenntnissen gab es allein in der Pogromnacht 400 Todesopfer. 30.000 Juden wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen eingeliefert. Die Lagerhaft kostete nochmals mehreren Hundert Menschen das Leben: in Buchenwald 207, in Dachau 185. Für Sachsenhausen liegen keine Zahlen vor; insgesamt muss man von höheren Dunkelziffern ausgehen, denn bereits bei der Ankunft in den Konzentrationslagern wurden Dutzende Juden erschossen, Hunderte starben später bei Fluchtversuchen oder durch Zwangsarbeit.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="961549_image" /></div> <BR />Fast sämtliche Synagogen im Reich wurden zerstört, genau 1406. In Wien gab es damals 25 Synagogen; nur eine, der Stadttempel in der Wiener Innenstadt, überstand die Pogrome einigermaßen. Von Berlins 14 Synagogen wurden 11 vollständig niedergebrannt, die übrigen 3 schwer beschädigt. Zerstört wurden ferner 7500 Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Friedhofskapellen.<BR /><BR />Unter dem Schutz staatlicher Obrigkeit ließ der Nazimob damals seinen primitivsten antisemitischen Instinkten freien Lauf. Es wurde geschlagen, getreten, geschrien, geprügelt, gedroht, zerstört gemordet. Opfer waren wehrlose Juden. Gemessen an der Anzahl der jüdischen Bevölkerung sind in keiner anderen Stadt des deutschen Reiches so viele Menschen umgebracht worden wie in Innsbruck: <b>Richard Berger, Richard Graubart, Josef Adler</b> und <b>Wilhelm Bauer</b>. Seit 1997 erinnert die Menorah auf dem Landhausplatz an sie.<BR /><BR /><b>Arnold Zweig</b> nannte gegenüber <b>Sigmund Freud</b> die Täter <i>„die Ratten des menschlichen Abfalls“.</i> Gegen sie wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch unter den Augen der Besatzungsmächte strikt vorgegangen. Obwohl sie fast alle beteuerten, Befehle ausgeführt zu haben, wurden sie z.T. streng bestraft, in der Regel allerdings schon bald begnadigt.<BR /><h3> Die Reaktion</h3>Wie reagierte die Öffentlichkeit? Die Masse wandte sich schweigend ab. Ähnlich die Kirchen, evangelische wie katholische. Dabei gibt es schlimme Äußerungen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="961552_image" /></div> Das geschäftsführende Gremium der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs zum Beispiel erklärte am 16. November 1938 mit Bezug auf ein Lutherzitat:<BR /><BR /><i>„Kein im christlichen Glauben stehender Deutscher kann, ohne der guten und sauberen Sache des Freiheitskampfes der deutschen Nation gegen den jüdischen antichristlichen Weltbolschewismus untreu zu werden, die staatlichen Maßnahmen gegen die Juden im Reich, insbesondere die Einziehung jüdischer Vermögenswerte, bejammern. Und den maßgebenden Vertretern von Kirche und Christentum im Ausland müssen wir ernstlich zu bedenken geben, dass der Weg zur jüdischen Weltherrschaft stets über grauenvolle Leichenfelder führt.“</i><BR /><BR />Nur einzelne Christen – meist einfache Pfarrer – protestierten öffentlich. Der württembergische Dorfpfarrer <Fett>Julius von Jan</Fett> aus dem kleinen Ort Oberlenningen predigte am Buß- und Bettag (16. November 1938) über den vorgegebenen Bibeltext Jer 22,29:<BR /><BR /><i>„Die Leidenschaften sind entfesselt, die Gebote missachtet, Gotteshäuser, die andern heilig waren, sind ungestraft niedergebrannt worden, das Eigentum der Fremden geraubt oder zerstört. Männer, die unserem deutschen Volk treu gedient haben […], wurden ins KZ geworfen, bloß weil sie einer anderen Rasse angehörten! Mag das Unrecht auch von oben nicht zugegeben werden – das gesunde Volksempfinden fühlt es deutlich, auch wo man darüber nicht zu sprechen wagt. Und wir als Christen sehen, wie dieses Unrecht unser Volk vor Gott belastet und seine Strafen über Deutschland herbeiziehen muss. […] Gott lässt seiner nicht spotten. Was der Mensch sät, wird er auch ernten!“</i><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="961555_image" /></div> <BR />Einige Tage danach ließ die NSDAP-Kreisleitung Nürtingen SA und SS aus dem dortigen Parteikreis mit Lastwagen und Omnibus zu dem sog. <Kursiv>„Judenknecht“</Kursiv> nach Oberlenningen transportieren, die Julius von Jan vor seinem Pfarrhaus fast totprügelten und dann in die sog. „Schutzhaft“ nahmen.<BR /><BR />Am 12. November 1938 fand bei Hermann Göring, Beauftragter für den Vierjahresplan, eine Konferenz statt. Demnach hatte Hitler Göring beauftragt, in der Judenfrage jetzt die entscheidenden Schritte zusammenzufassen; damit sollte, so Göring, Folgendes erreicht werden: <i>„Der Jude wird aus der Wirtschaft ausgeschieden und tritt seine Wirtschaftsgüter an den Staat ab.“</i><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="961558_image" /></div> <BR />Den Juden wurde die Zahlung von 1 Milliarde Reichsmark als „Sühneleistung“ auferlegt. Die aufgrund der sogenannten „Empörung des Volkes“ entstandenen Schäden im Straßenbild mussten auf eigene Kosten beseitigt werden. <BR />Dem folgten zahlreiche Verbote, um den Juden jegliche Existenzgrundlage in Deutschland zu nehmen. Ihnen wurde verboten: Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäften, Handwerksbetrieben, Tätigkeit als Betriebsführer, Betreten von Theatern, Kinos, Konzerten, Vorträgen, Ausstellungen und ähnlichen Veranstaltungen. Durch eine Polizeiverordnung über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit konnten über Juden räumliche oder zeitliche Ausgangssperren verhängt werden.<BR /> An einer Stelle meinte Göring: <i>„Mir wäre lieber gewesen, ihr hättet 200 Juden erschlagen und hättet nicht solche Werte vernichtet.“</i><BR /><h3> Was bleibt?</h3><BR />Die Vorgänge vom 9. auf den 10. November 1938 in einem zivilisierten Land des 20. Jahrhunderts waren einzigartig in der europäischen Geschichte. Selbst im Mittelalter standen Synagogen unter dem Schutz der Obrigkeit. Wer eine Synagoge antastete, galt als Rechtsbrecher. Die Pogromnacht, die lange Zeit wegen des zerstörten Glases verharmlosend im NS-Jargon <Kursiv>„Reichskristallnacht“</Kursiv> genannt wurde, war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zum Holocaust. <BR /><BR /><b>Zur Person:</b> Rolf Steininger war langjähriger Leiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck – www.rolfsteininger.at<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="961561_image" /></div> <BR /><BR /><b>Buchtipp</b><BR />Rolf Steininger, Novem- bertage. Ent- scheidungen und Erei- gnisse im 20. Jahrhundert, Studienverlag Innsbruck 2018, 171 Seiten<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />