<b>von Christoph Kohl</b><BR /><BR />Für mich bietet Kafkas Blick eine willkommene Gelegenheit, unsere urbane Umwelt in den Blick zu nehmen. In einer Zeit, in der Städte immer dichter besiedelt, Wohnraum immer unerschwinglicher und soziale Strukturen immer komplexer werden, lassen sich zahlreiche Parallelen zwischen Kafkas literarischem Kosmos und aktuellen städtebaulichen Entwicklungen ziehen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1044078_image" /></div> <h3> Labyrinthische Strukturen</h3><BR />Franz Kafka verstand es meisterhaft, in seinen Romanen die Unsicherheit und Absurdität der menschlichen Existenz darzustellen. Seine Protagonisten finden sich oft in labyrinthischen Strukturen wieder, sei es in „Das Schloss“ oder „Der Prozess“. Sie spiegeln sowohl physisch als auch metaphorisch die undurchschaubaren Systeme der Gesellschaft wider. Diese geradezu „kafkaesken“ Szenen können auch als Metapher für die heutige Gesellschaft – und ihre urbanen Manifestationen – verstanden werden, die zunehmend von Bürokratie und Komplexität geprägt ist und deren Regeln und Normen bis hin zur Absurdität eskalieren.<BR /><BR />Ein erstes Beispiel findet sich in der Diskussion um Smart Cities. Diese hypervernetzten Städte versprechen ein optimiertes Leben durch den Einsatz von Big Data und künstlicher Intelligenz. Doch was passiert, wenn diese Technologien versagen oder missbraucht werden? Wie bei Kafka droht die Abhängigkeit von komplexen Systemen zum Alptraum zu werden. Die Datensammelwut der Smart Cities birgt die Gefahr der Überwachung und des Verlustes der Privatsphäre. Wir Stadtbewohner sind schon heute in einem unsichtbaren Netz gefangen – ähnlich wie Kafkas Protagonisten in ihren undurchsichtigen bürokratischen Strukturen.<h3> Entfremdung und Vereinsamung</h3>Ein weiterer Punkt zur Sorge ist die zunehmende Entfremdung und Vereinsamung. Kafkas Figuren agieren oft in einer entpersönlichten und tendenziell feindlichen Umwelt. Diese Tendenz ist auch in unserer modernen Gesellschaft zu beobachten. Die Anonymität der Schlafstädte in Verbindung mit der Digitalisierung des Alltags führt zu einer Fragmentierung sozialer Beziehungen. Gemeinschaftliche Räume werden durch kommerzialisierte Zonen ersetzt, was die Vereinsamung verstärkt. Die jüngst überstandene Pandemie hat die Isolation sogar explizit verlangt.<BR /><BR /><BR />Die soziale Interaktion und die Förderung der zwischenmenschlichen Beziehungen sollten im Vordergrund eines neuen Städtebaus stehen. Ein Blick auf die zeitgenössische Architektur zeigt, dass die Formen von Gebäuden kafkaeske Züge annehmen können. Architekturobjekte, so genannte Solids, die das Stadtbild dominieren, können als Symbole für die Macht und Unnahbarkeit der Big Player gesehen werden. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1044081_image" /></div> <h3> Positive Vision</h3><BR />So wie Kafkas Figuren oft vor unüberwindlichen Barrieren stehen, können sich Stadtbewohner angesichts der schieren Größe und Abstraktheit zeitgenössischer Architektur, deren heute realisierbare Formen nur der Rechenleistung von Hochleistungscomputern zu verdanken sind, ohnmächtig fühlen.<BR /><BR />Doch es gibt Hoffnung und Potenzial für eine positivere Vision. Wenn wir von Kafkas Werken lernen, können wir Auswege finden. Eine menschenzentrierte Stadtplanung, die Transparenz, Partizipation und Gemeinschaft fördert, sollte unsere Antwort auf eine zunehmend kafkaeske Realität sein. Nachhaltige Architektur, zirkuläres Bauen, Shared Spaces sind Ansätze, die das Gefühl der Zugehörigkeit und des Miteinanders stärken können.<h3> </h3>Ein Beispiel hierfür ist die Bewegung der „15-Minuten-Stadt“. Sie zielt darauf ab, alle wichtigen Dienstleistungen und Freizeitmöglichkeiten innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen. Diese Idee, die sich in Städten wie Paris und Melbourne beweist, stellt das menschliche Maß und die Gemeinschaft in den Vordergrund.<BR /><BR />Die politische Philosophin <b>Hannah Arendt</b> (1906-1975) spricht in ihrem Essay „Die verborgene Tradition“ von Kafkas Werk als einem architektonischen Modell – einer Konstruktion, die es uns ermöglicht, die Welt mit anderen Augen zu sehen, indem sie das Große auf eine verständliche, „begreifbare“ Größe reduziert. Diese Verkleinerung und das daraus resultierende Lachen können uns helfen, die Mechanismen und Strukturen unserer Welt kritisch zu hinterfragen und zu erkennen, wie lächerlich sie manchmal sein können. Durch diese befreiende Perspektive können wir die kafkaesken Absurditäten der urbanen Realität verstehen und kreative, menschlichere Lösungen finden.<BR /><BR />Anlässlich seines 100. Todestages sollten wir nicht nur Kafkas literarisches Erbe würdigen, sondern auch die Lehren, die wir aus seinen Visionen für unsere urbane Zukunft ziehen können. Es liegt an uns, die mitunter grotesken Strukturen unserer Städte aufzubrechen und sie in Orte zu verwandeln, die das menschliche Leben in all seiner Vielfalt und Komplexität feiern. So können wir vielleicht verhindern, dass unsere urbanen Träume zu kafkaesken Albträumen werden.