„Dolomiten“: „Das habsburgische Erbe erwies sich für Italien als eine Quelle der Schwäche“, stellt der Historiker Dennison Ivan Rusinow in seiner Einleitung zu „Italy’s Austrian Heritage 1919-1946“ fest. Was meint Rusinow damit? Bernd Schäfer: Die italienische Intoleranz gegenüber den anderssprachigen Minderheiten in Südtirol und Julisch Venetien, und der Versuch ihrer zwangsweisen Italianisierung, zerstörte die liberale Demokratie in Italien nach 1918. Er brachte den Faschismus an die Macht und führte das Land in außenpolitische Konflikte, die schließlich im Desaster des Zweiten Weltkrieges endeten. Nach 1945 war Italien innen- wie außenpolitisch empfindlich geschwächt. „D“: Ein US-Amerikaner setzt sich in den 1950er bzw. 1960er Jahren detailliert mit der Geschichte Trentino-Südtirols und Julisch Venetiens auseinander - wie das? Schäfer: Als Student aus Oxford war Dennison Rusinow 1952 im Skiurlaub in Vorarlberg und brach sich das Bein. Während seiner 6 Wochen in einem lokalen Krankenhaus begann er, Deutsch zu lernen. Nach seinem Militärdienst in der amerikanischen Marine im Mittelmeer wurde er 1958 vom „Institute of Current World Affairs“ nach Wien entsandt, wo er unter anderem sein Deutsch erweiterte. 1959 verbrachte er erstmals zwei Monate in Südtirol, das ihn faszinierte. Er lernte lokale Persönlichkeiten kennen, insbesondere Friedl Volgger und Toni Ebner. Als er im St. Antony’s College in Oxford auf von den Alliierten konfiszierte italienische Dokumente aus Kriegszeiten stieß, entstand der Wunsch, seine Doktorarbeit über Südtirol zu schreiben. In Absprache mit seinem Doktorvater William Deakin wurde das Projekt auf Venezia Giulia ausgedehnt und resultierte in einer 752-seitigen Dissertation, der Grundlage für das 1969 auf Englisch erschienene Buch „Italy‘s Austrian Heritage“.„D“: „Italien wird das Recht seiner Mitbürger anderer Nationalitäten auf den Erhalt ihrer eigenen Schulen (…) anerkennen“, proklamiert Militärgouverneur Pecori Giraldi 1918. Vier Jahre später kommt es zum „Marsch auf Bozen“. Laut Rusinow beförderten die neuen Provinzen den Aufstieg des Faschismus. Wie argumentiert er seine Analyse? Schäfer: Die Faschisten schürten die national italienische Leidenschaft, indem sie durch gezielte Gewaltakte und andere Provokationen die römischen Regierungen unter Druck setzten, die Rechte der nationalen Minderheiten zu annullieren. Letztendlich wollten die Faschisten den Parlamentarismus durch ihre eigene Diktatur ersetzen, indem sie erst in den neuen Provinzen und dann in ganz Italien Fakten schufen. Der aus faschistischer Sicht erfolgreiche „Marsch auf Bozen“ war ein Testfall für den späteren „Marsch auf Rom“. Der Anspruch nationaler Größe war für die Faschisten identisch mit „Italianisierung“ und „Faschisierung“ des gesamten Landes; ein Programm, das in Italien schnell mehrheitsfähig und populär wurde und die im Ersten Weltkrieg erbrachten Opfer legitimieren und überhöhen sollte.„D“: Die Studie bespricht den Versuch der Italianisierung von Südtirolern und Slawen nach 1919. Was sind die essenziellen Gemeinsamkeiten respektive Unterschiede des faschistischen Programms in der Venezia Tridentina und der Venezia Giulia? Schäfer: Die frühen zivilen Verwaltungen in Trient, Triest und Fiume (das heutige Rijeka) erlaubten die offizielle Verwendung lokaler Sprachen, nicht-italienische Schulen und die Bildung politischer und kultureller Vereinigungen. Die Faschisten beschuldigten die liberalen Regierungen in Rom, Italiens „nationale Interessen“ in den neugewonnenen Provinzen nicht durchzusetzen und betrieben eine überbordende Italianisierung. Während die faschistischen Ziele und Methoden in den neuen Provinzen weitgehend ähnlich waren, zeitigten sie unterschiedliche Resultate, was die politischen Folgen anging. Um mit Rusinow zu sprechen: „Die Deutschen blieben deutsch und die Slawen slawisch und beide hatten mehr Gründe denn je, die italienische Politik abzulehnen. Unterdrückung machte die Deutschen nur reif für den Nationalsozialismus und die Slawen für den Kommunismus eines Tito.“ In Julisch Venetien entstand eine kommunistische Partei im Widerstand gegen den Faschismus, deren italienische wie slawische Bestandteile nach 1945 in Italien wie Jugoslawien einflussreich werden sollten. Jene Südtiroler, die aus Widerstand gegen den Faschismus mit österreichischem bzw. deutschem Nationalsozialismus sympathisiert hatten, fanden sich nach 1945 in eher ungünstiger Position. „D“: Stichwort „Triest-Frage“: Nach 1945 diskutieren die Alliierten jugoslawische Gebietsansprüche an Italien, Ansprüche, denen teilweise entsprochen wird. Nimmt dies Einfluss auf Südtirol? Schäfer: Es ist eines der Verdienste des Buches von Rusinow, herausgearbeitet zu haben, dass der Gegensatz zwischen den Westmächten und dem sowjetischen Kommunismus alle Fragen nationaler Minderheiten und der italienischen Grenzen überlagerte. Die Westmächte wollten mindestens so pro-italienisch sein wie Moskau und in den Augen der Italiener keine Schwächung der nicht-kommunistischen Regierung in Rom durch Zugeständnisse in Nationalitätenfragen oder Grenzkorrekturen zulassen. Die westliche Angst vor einem kommunistischen Italien war groß und dies geriet Südtirol zum Nachteil. Mit der Ausnahme von Triest selbst, wo die Jugoslawen sich vereinbarungsgemäß nach der Eroberung der Stadt wieder zurückgezogen hatten, galt das Prinzip der „beati possidentes“: Wer nach Kriegsende 1945 in Kontrolle eines Gebietes war, behielt sie auch. Die Westmächte wollten die Italiener nicht aus Südtirol verdrängt wissen, die Sowjetunion nicht die Slawen aus Julisch Venetien. Rusinow kam zu folgendem Urteil: „Italien hatte mehr, als es aus ethnischen Gründen richtig war, in Venezia Giulia aufzugeben. Aber es hatte mehr, als was aus denselben Gründen richtig war, in Venezia Tridentina [d.h. Südtirol] behalten.“ Italien wollte den Präzedenzfall einer Volksabstimmung in Südtirol unter allen Umständen vermeiden und verzichtete deshalb auch auf Abstimmungen in Julisch Venetien. Außer Görz und Triest verlor Italien den Großteil seiner östlichen neuen Provinz an Jugoslawien. Ein zusätzlicher Verlust Südtirols an Österreich einhergehend mit dem Abzug der italienischen Verwaltung hätte die bürgerliche Regierung in Rom erheblich geschwächt und den Kommunisten eine Machtperspektive verschafft. „D“: Unterdrückt ein Staat seine Minderheiten, ist dies der Nährboden für politische Extreme - so eine Überlegung Rusinows. Auch im Europa der Gegenwart ein relevanter Denkansatz? Schäfer: Rusinows Buch ist eine eindringliche Warnung vor intolerantem Umgang mit nationalen Minderheiten innerhalb der Grenzen eines Staates sowie vor der Schürung von Nationalismen außerhalb von Staatsgrenzen, um letztere auszudehnen. Der Begriff des Irredentismus stammt nicht zufällig vom italienischen Wort „irredenta“ und bezieht sich auf den Anspruch der Heimholung „unerlöster Gebiete“ in ein neues Italien. Vor allem deshalb trat das Land 1915 in den Weltkrieg ein und das Ergebnis waren die in Rusinows Buch dargestellten Vorgänge zwischen 1919 und 1946.Irredentismus und seine zersetzenden Folgen nach innen und außen erlebten wir in jüngerer Zeit im zerfallenden Jugoslawien nach 1991 oder in russischen Aktionen auf der Krim und in der Ost-Ukraine. Innerhalb der EU betreibt Ungarn derzeit eine nicht-militärische Variante gegenüber seinen Nachbarn. Wir wissen oft gar nicht genug zu schätzen, welches Geschenk für Europa die Existenz der EU an sich und ihre multilateralen Mechanismen der Konfliktbewältigung bedeuten. Alle europäischen Staaten müssen gemeinsam verhindern, dass die gegenwärtige Flüchtlings- und Einwanderungskrise mehrheits- fähige Nationalismen erzeugt, die am Ende auch ethnische Minderheiten innerhalb der EU-Staaten bedrängt und zu nationalen Spielbällen macht.„D“: Rusinows englischsprachige Dissertation wird 1969 publiziert. 41 Jahre später folgt die italienische Übersetzung des Werkes, 2016 die deutschsprachige - warum (erst) jetzt? Schäfer: Nach dem Erscheinen von „Italy’s Austrian Heritage“ widmete sich Rusinow fast ausschließlich der jüngeren Geschichte Jugoslawiens und lebte längere Zeit in Belgrad. Er verfasste ein weiteres grundlegendes Werk „The Yugoslav Experiment“ und war intensiv mit den dortigen dramatischen Entwicklungen seit Ende der 1980er Jahre befasst. Obwohl er gerne eine Übersetzung des ersten Buches gesehen hätte, fehlten ihm doch inzwischen die Kontakte. Erst als seine Witwe später von einem italienischen Verleger angesprochen wurde und einer Übersetzung ins Italienische zustimmte, begann sie, auch das lange gehegte Projekt einer deutschen Version voranzutreiben. Eine Begegnung mit Chefredakteur Toni Ebner erwies sich als entscheidender Anstoß, um die deutsche Ausgabe im Verlag Athesia auf den Weg zu bringen.„D“: Der Anspruch des Autors an seine Arbeit war die Betrachtung Trentino-Südtirols und Julisch Venetiens „als Ganzes“, wird er diesem gerecht? Schäfer: Das Buch wird diesem Anspruch in höchstem Maße gerecht: Es ist die bisher einzige Veröffentlichung, die diese eindeutigen Zusammenhänge in der italienischen Geschichte zwischen 1919 und 1946 überzeugend dargestellt hat. Die Konfliktgeschichte Europas bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist ein solches Desaster, das man sich Bücher wie Dennis Rusinows „Italiens österreichisches Erbe“ nicht eindringlich genug vor Augen führen kann.Interview: Andrej Werth