Die Anerkennung aller Sprachkompetenzen im Raum steigert die Motivation sowie das Zugehörigkeitsgefühl und wirkt sich so ganz konkret auf das Lernklima der Klasse aus. Partizipative Formen des Lernens legen Grundsteine eines demokratischen Zusammenlebens – dies gilt für alle Schulen in unserem Land. Zum Internationalen Tag der Leichten Sprache Expertinnen im Gespräch...<b>von Heidi Hintner</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1173405_image" /></div> <BR /><BR />Was es braucht: Bildungsgerechtigkeit, migrationsbedingte Diversitätssensibilität und interkulturelle Öffnung. Der DaZ/DaF-Unterricht (Deutsch als Zweit- und/oder Fremdsprache) muss eine offene Perspektive haben; im Fachdiskurs geht es darum, allen Kindern und Jugendlichen die möglichst gleichen Bildungschancen zu bieten.<BR /><BR /><b>Sabine Giunta</b> hat eine beinahe dreißigjährige Erfahrung im Schulwesen, als Zweitsprachenlehrerin an der deutschsprachigen Schule, als Gewerkschafterin und als Direktorin an einer italienischsprachigen Schule im Herzen von Bozen. Sie kennt das Südtiroler Schulsystem sehr genau, von seinen Schwachstellen bis hin zu den Verbesserungspotentialen. An ihrer Schule gibt es über 30 Nationalitäten; in vielen Klassen lernen Kinder und Jugendliche aus zehn Länder gemeinsam. Verschiedene Sprachen, Kulturen und Lebensentwürfe treffen aufeinander; geflüchtete Kinder mit teilweise dramatischen Erfahrungen bringen neue Facetten von Heterogenität in die Schule. Und alle wachsen gemeinsam als Klasse und lernen miteinander und voneinander; alles andere als ein monolingualer Habitus, sondern ein weites Feld für Einfache und Leichte Sprache.<BR /><BR />Die Direktorin ist Tag für Tag mit der Lösung von Problemen beschäftigt, didaktisch, pädagogisch, organisatorisch, strukturell, digital, personell. Ein besonderes Anliegen ist ihr die Leichte und Einfache Sprache bzw. die Mehrsprachigkeit. Die Vielfalt innerhalb der Lerngruppen bezieht sich nicht nur auf die Sprachen, auch auf unterschiedliche Fähigkeiten, Interessen, Lernstile, auf den kulturellen und sozialen Hintergrund, die Lernmotivation der Kinder und Jugendlichen und vieles mehr.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1173408_image" /></div> <b>Welche Nahtstellen gibt es in Ihrer Sprach- und Berufsbiographie?</b><BR />Sabine Giunta: Mein berufliches Leben ist stark von meiner sprachlichen Biographie geprägt. Ich bin Tochter sizilianischer Gastarbeiter, die nach Deutschland ausgewandert sind. Ich habe von klein an erfahren, was es bedeutet, die Familiensprache Sizilianisch zu Hause zu lernen, die zweite Sprache für die Kommunikation innerhalb der italienischsprachigen Gemeinschaft, die dritte und Fremdsprache Deutsch, die in der Schule und in der „Welt“ verwendet wurde. Und ich habe mich schon als Mädchen mit Stereotypen und Vorurteilen in Bezug auf die unterschiedliche Herkunft auseinandersetzen müssen.<BR /><BR /><BR /><b>Sie haben dann Sprachen studiert?</b><BR />Giunta: Ja, wahrscheinlich habe ich mich deshalb für ein Sprachenstudium in Catania entschieden und bin schließlich als Zweitsprachenlehrerin tätig geworden, bevor ich Direktorin wurde. Ich habe in Südtirol Erfahrungen im ländlichen und im urbanen Bereich gesammelt.<BR /><BR /><BR /><b>Seit elf Jahren sind Sie Direktorin des komplexen Schulsprengels „Bozen Zentrum 1“ (dazu gehören die Grundschulen Dante, Rosmini, Chini, die Mittelschule Ilaria Alpi, die Grundschule Terlan, die Krankenhaus- schule Bozen) und haben der Schule ein klares Profil gegeben.</b><BR />Giunta: Als ich mit der Leitung dieses Schulsprengels betraut wurde, war eines meiner Herzensthemen das Lehren und Lernen von Sprachen.<BR /><BR /><BR /><b>Inwiefern?</b><BR />Giunta: Der Zweitsprachenunterricht in Südtirol bereitet fast allen Familien Sorgen und Ängste. In Vor-Wahlzeiten wird das Thema immer besonders emotional behandelt. So auch diesmal. Die Organisation effektiver und effizienter Lehr- und Lernprozesse scheint in allen Schulen ein heißes Eisen zu sein. Der chronische Mangel an spezialisierten und stabilen Lehrpersonen für die Zweitsprache macht die Sache nicht einfacher. In den letzten elf Jahren in meiner Leitungsfunktion habe ich einen erschreckend häufigen Wechsel an DaZ/DaF-Lehrpersonen erlebt, der die Konsolidierung gemeinsamer Unterrichtspraktiken sehr erschwert hat. Doch ich nehme Herausforderungen immer gerne an und kann sie auch genießen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1173411_image" /></div> <BR /><BR /><b>Heterogenität bietet die Möglichkeit, durch den bewussten Umgang mit Vielfalt einen Beitrag für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für die Festigung von Demokratie und Zivilgesellschaft zu leisten...</b><BR />Giunta: In meinem Konzept des Sprachenlehrens und -lernens ist die Grundlage klar: die Fähigkeit der Lehrperson, auf authentische und demokratische Weise persönliche Beziehungen zu allen Schülerinnen und Schülern aufzubauen. Hinzukommt der unermüdliche und kontinuierliche Einsatz, sprachliche Ziele auf kreative, überraschende und spielerische Weise zu verfolgen. <BR /><BR /><BR /><b>Ein hehres Ziel.</b><BR />Giunta: Es ist wichtig, dass es zwischen der Lehrperson und den Lernenden Akzeptanz und Empathie gibt, insbesondere für jene, die aus verschiedenen Kulturen kommen. Ein Mädchen, das aus seiner heimatlichen Umgebung entwurzelt ist, mit einer feindseligen Haltung konfrontiert wird, die sie nicht fördert und nicht nährt, spricht, liest und schreibt zwangsläufig schlecht. Um es mit Brecht zu umschreiben: Zuerst die Liebe, dann die Grammatik.<BR /><BR /><BR /><b>Gute Bildung für alle Kinder und Jugendlichen also?</b><BR />Giunta: Artikel 3 der Verfassung erkennt die Gleichheit aller „ohne Unterschied der Sprache“ an; alle haben die gleiche gesellschaftliche Würde. Es ist Aufgabe der Republik – und somit auch der Schulen – alle Hindernisse zu beseitigen, die der vollen Persönlichkeitsentfaltung im Wege stehen. Dieser Grundsatz ist mir sehr wichtig. Sicherlich kann und sollte man die Aufgabe der demokratischen Spracherziehung nicht allein den Schulen überlassen oder anvertrauen: Dies ist eine Aufgabe aller Institutionen und aller Orte, an denen Kultur produziert wird.<BR /><BR /><BR /><b>Wie gelingt diese Aufgabe in komplexen Zeiten?</b><BR />Giunta: Seien wir ehrlich: Die traditionelle Pädagogik war trotz aller Bemühungen und Fehlerbesessenheit nicht in der Lage, die Rechtschreibung gut zu lehren. Sie war auch nicht imstande, die Textproduktion angemessen zu lehren; die rezeptiven Sprachkenntnisse wurden unglaublich vernachlässigt. Die Tatsache, dass ein enger Zusammenhang zwischen sprachlichen Fähigkeiten und anderen symbolischen und expressiven Fähigkeiten wie Tanzen, Zeichnen, Rhythmik, Koordinationsfähigkeit und Mathematik besteht, wird von der traditionellen Sprachpädagogik ignoriert. Viele Lese- und Rechtschreibfehler hängen mit schlecht entwickelten räumlichen Koordinationsfähigkeiten zusammen und müssen behoben werden. Wie? Die Schule kann vieles machen: tanzen, singen, musizieren, Schnürsenkel binden. Der altmodische Sprachunterricht ist unwirksam: Er zielt in Wirklichkeit nur darauf ab, den Sprachbildungsprozess von Kindern aus den gebildeteren und wohlhabenderen Schichten zu ergänzen, die außerhalb der Schule das erhalten, was sie zur Entwicklung ihrer Sprachkenntnisse benötigen.<BR /><BR /><BR /><b>Sie setzen auf die mündliche Sprache?</b><BR />Giunta: Mündlichkeit ist von grundlegender Bedeutung für das gesellschaftliche und individuelle Leben und stellt daher ein wichtiges Ziel im Unterricht an meiner Schule dar. Dabei geht es nicht in erster Linie um die Verwendung einer grammatikalisch korrekten Sprache, sondern um eine Sprache, die, auch wenn sie in Bezug auf Syntax oder Wortschatz holprig ist, dennoch eine zweckmäßige und funktionale Kommunikation ermöglicht. Die Entwicklung der sprachlichen Fähigkeiten soll zusammen mit der Sozialisierung, der psychomotorischen Entwicklung und anderen expressiven und symbolischen Fähigkeiten entwickelt und gefördert werden.<BR /><BR /><BR /><b>Ihre Schule hat ein klares Profil...</b><BR />Giunta: Ich habe das Profil meiner Schule kurz skizziert: Eine Schule, in der du lernst zuzuhören und zu sprechen, bevor du schreibst. Eine Schule, in der du dich frei bewegst, tanzen und singen kannst, ein Instrument spielst, Gegenstände und Kunstobjekte entwirfst, geometrische Körper baust und Bozner Luft in einem Glas sammelst. Eine Schule, in der das Wohlbefinden an erster Stelle steht. Denn wenn du dich nicht wohl fühlst, kannst du auch nichts lernen. <BR /><BR /><BR />Vier Fragen an Marion Gamper und Sigrid Klotz<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1173414_image" /></div> <b>Das Thema Leichte Sprache ist Ihnen wichtig und ein großes Anliegen. Warum?</b><BR />Marion Gamper und Sigrid Klotz: Bibliotheken sind öffentliche Orte, an denen alle willkommen sind, unabhängig von sprachlichen Fähigkeiten, kulturellen Hintergründen oder persönlichen Umständen. Sie spielen eine zentrale Rolle in der Gemeinschaft, indem sie Zugang zu Wissen, Bildung und kulturellen Ressourcen bieten. Leichte Sprache ist besonders wichtig für die Inklusion, da sie sicherstellt, dass Informationen für alle verständlich sind. Dies umfasst Menschen mit Lernschwierigkeiten, mit geringer Lesekompetenz, Demenz, oder geringen Deutschkenntnissen. Durch die Verwendung von Medien in Leichter Sprache können Bibliotheken Barrieren abbauen und eine inklusive Umgebung schaffen, wo jeder die Möglichkeit hat, sich zu informieren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.<BR /><BR /><BR /><b>Wie würden Sie den Unterschied zwischen Einfacher und Leichter Sprache erklären?</b><BR />Gamper/Klotz: Leichte Sprache und Einfache Sprache sind zwei Konzepte, die darauf abzielen, Texte verständlicher zu machen, aber sie unterscheiden sich in ihrer Zielgruppe und ihren Regeln. Leichte Sprache richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten. Sie folgt strengen Regeln, wie kurzen Sätzen, einfachen Wörtern und dem Verzicht auf Fremdwörter. Die Texte sind stark vereinfacht und enthalten viele Absätze sowie visuelle Hilfen wie Bilder oder Piktogramme. Einfache Sprache richtet sich an Menschen mit Leseschwäche, begrenzten Lese- und Schreibfähigkeiten oder Deutschlernende. Die Regeln sind weniger streng und Texte sind näher an der Alltagssprache, erlauben einfache Nebensätze und verwenden alltagsübliche Wörter.<BR /><BR /><BR /><b>Das Amt für Bibliotheken und Lesen ist Teil der Südtiroler Bibliotheken-Landschaft. Wie sieht es mit dem Bestand von Literatur in Einfacher Sprache für den DaZ-Unterricht an unseren Schulen aus?</b><BR />Gamper/Klotz: Genaue Zahlen liegen uns hier leider nicht vor, aber wir wissen von vielen Schulen, die im Bereich der Sprachförderung, aber auch im Sprachunterricht zur Förderung sprachschwacher Schülerinnen und Schüler verstärkt auf Bücher in Einfacher Sprache zurückgreifen. Immer öfter berichten uns auch Lehrpersonen in unseren Fortbildungsveranstaltungen, dass jetzt auch Klassiker in vereinfachter Sprache angekauft werden, damit alle Kinder und Jugendlichen an der Klassenlektüre teilhaben können. Man- che Verlage haben sich jetzt auf Jugendliteratur in Einfacher Sprache spezialisiert.<BR /><BR /><BR /><b>Wie groß ist der Bestand von Büchern in Leichter Sprache?</b><BR />Gamper/Klotz: Bücher in Leichter Sprache haben vor allem jene Bibliotheken im Bestand, in deren Einzugsgebiet sich eine Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigung befindet. Und natürlich unsere Mittelpunktbibliotheken. Genaue Zahlen liegen uns darüber aber nicht vor. In allen Bibliotheken finden sich im Bereich der Kinder- und Jugend- literatur aber Bücher mit dem Siegel „leicht lesbar“. Außerdem liegen in den Bibliotheken die Publikationen des Übersetzungsbüros Okay der Selbsthilfegruppe für Menschen mit Beeinträchtigung, People First, auf. Diese Broschüren sind vor allem bei den Wahlen sehr gefragt, weil sie in sehr einfacher Form komplexe Zusammenhänge erklären. Im Bereich Leichte Sprache ist People First unser wichtigster Ansprechpartner.