<BR />Die Linie auf dem Boden ist keine rote, und sie soll möglichst oft übertreten werden, wenn es nach den Organisatoren der Kulturhauptstadt „GO! 2025“ geht, denn sie soll nicht mehr trennen, sondern zusammenführen: Die Linie markiert am Vorplatz des Bahnhofs Transalpina den Verlauf der Grenze zwischen Nova Gorica (Slowenien) und Gorizia (Italien).<BR /><BR /> Noch unterstreichen die Namen des Platzes aber eher das Trennende: Piazza Transalpina heißt die italienische Seite, Trg Evrope (Europaplatz) die slowenische. <h3> Grenze ist sichtbar aber nicht spürbar</h3>Dass heute die Grenzlinie nur noch sichtbar, aber nicht mehr spürbar ist, darauf wollen die Macher der Kulturhauptstadt aufbauen. „GO! Borderless“ heißt das Motto des <a href="https://www.go2025.eu/it" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">vielfältigen und bunten kulturellen Programms</a>. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1190814_image" /></div> <BR />Seine türkise Farbe ist allgegenwärtig in den beiden Städten: Auf Plakaten am Straßenrand, auf Veranstaltungshinweisen und sogar auf den städtischen Bussen. „GO!“ kann man als englisch für „Los geht„s!“ interpretieren, aber es steht auch für die Anfangsbuchstaben der Zwillingsstädte; beide tragen GO auch auf den Autokennzeichen. <h3> Die Geschichte von Gorizia/Gorica und Nova Gorica</h3>Grenzen-los sollen Gorizia/Gorica und Nova Gorica also verbunden sein, wiewohl sie einiges trennt, nicht nur die Grenze. So kann der italienische Zwilling auf eine über 1000 Jahre währende Geschichte verweisen. Mehrsprachigkeit war lange Zeit Alltag: Italiener, Slowenen, Juden, Friauler und Deutsche lebten in der Stadt, die slowenisch Gorica und deutsch Görz heißt. <BR /><BR />Nova Gorica dagegen entstand erst nach 1947, als die Alliierten mit dem Lineal die neue Grenze zogen, den überwiegenden Teil der Stadt bei Italien ließen, den Bahnhof der Ferrovia Transalpina – der noch unter Österreich gebauten Wocheiner bzw. Karstbahn – aber an Jugoslawien gaben. <BR /><BR />Östlich davon wurde – unter sozialistischen Vorzeichen – das heutige Nova Gorica aus dem Boden gestampft. <BR />Dessen Bewohner – heute sind es rund 13.000 – empfanden 1991 die Unabhängigkeit von Jugoslawien als Befreiung, und sie suchten die Nähe zum Nachbarn Italien. Doch Ewiggestrige gibt es immer, die das Zusammenrücken Europas stören wollen, das zeigt der Berg Sabotin (italienisch Sabotino), der im Norden auf die Doppelstadt herabblickt und über dessen Kamm die Grenze in oftmals absurden Wirrungen mäandert. <BR /><BR />Noch absurder sind die Botschaften, die am Sabotin zu sehen sind und die außer der Grenze für manche auch die sprichwörtliche rote Linie überschreiten: Auf einer Lichtung ist dort auf slowenischer Seite der Schriftzug „Tito“ zu erkennen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1190817_image" /></div> <BR /> Die 25 Meter großen Buchstaben wurden 1978 aus Steinen gebildet und dienten Propagandazwecken. Nach 1992 wurde die Inschrift mehrfach verändert, seit 2014 steht aber wieder „Tito“ am Berg. Sozusagen als Kontrapunkt erstrahlt nachts an einer nur wenige Hundert Meter davon entfernt auf italienischem Gebiet gelegenen Kaserne grün-weiß-rot die Trikolore. <h3> Reaktionen auf den Schriftzug „Tito“</h3>„Tito“ ist nicht zu übersehen, und der Schriftzug ist für viele auf italienischer Seite ein ständiges Ärgernis. Nun wollen die lokalen „Fratelli d’Italia“ von Regierungschefin Meloni neben der Trikolore ebenfalls aus Steinen einen Schriftzug bilden lassen, der die Worte „Viva l’Italia“ zeig. <a href="https://www.telefriuli.it/cronaca/disegno-di-legge-per-la-scritta-w-litalia-sul-sabotino/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Mehr dazu hier</a>. <BR /><BR />„Tito“ provoziert so sehr, dass sich vor Kurzem der renommierte Journalist Gian Antonio Stella im „Corriere della Sera“ mit dem Thema beschäftigte und betonte, dass die Kulturhauptstadt diese Inschrift nicht verdient habe und sie entfernt werden sollte,<BR /><BR />Stella wies aber zugleich darauf hin, dass auch auf italienischer Seite ein historisches Ärgernis getilgt werden müsse, das ebenfalls – nicht nur für die Slowenen – die Überschreitung einer rote Linie darstellt: Seit 100 und einem Jahr ist der „Duce“ Mussolini nun schon Ehrenbürger von Gorizia, und er wird es auch weiterhin bleiben, denn einen Antrag auf Löschung hat der Gemeinderat am 11. November 2024 mit den Stimmen einer Koalition abgelehnt der neben der Forza Italia von Bürgermeister Rodolfo Ziberna auch die „Fratelli d’Italia“ und die Lega des Vize-Regierungschefs Matteo Salvini angehören. <h3> Ziel: Beide Städte zusammenführen</h3>Die Grenze sei heute eine große Chance für die Zusammenarbeit, vor 100 Jahren hätten sich in dem Gebiet noch schreckliche Tragödien abgespielt, sagt Ziberna zum Thema grenzüberschreitende Kulturhauptstadt. Er spricht sich für Mehrsprachigkeit aus: Zumindest passiv sollte jeder die Sprache des anderen beherrschen, gibt Ziberna als Ziel aus. Er selbst spricht ein paar Worte Slowenisch.<BR /><BR />Da ist Samo Turel, der Bürgermeister von Nova Gorica, schon weiter: Wie viele seiner Gemeindebürger spricht er ein fast perfektes Italienisch. Das lernt man in Nova Gorica nicht etwa in der Schule, sondern aus dem Fernsehen des Nachbarn. Turels Ziel ist es, die beiden Städte so weit wie irgend möglich zusammenzuführen. Die Kulturhauptstadt sei erst der Beginn, sagt er; Kultur kenne keine Grenzen und könne dabei helfen, das Zusammenwachsen auch auf wirtschaftliche und soziale Bereiche auszudehnen. <BR /><BR />Bis die passive Sprachkompetenz Wirklichkeit werde, sei noch viel zu tun, sagt Turel. Bisweilen sind die Bürger schon weiter als die Politik: Weil in den Schulen in Nova Gorica eben kein Italienisch gelehrt wird, schicken manche slowenische Familien ihre Kinder über die Grenze in italienische Schulen. Ebenfalls die Mehrsprachigkeit im Sinn haben jene italienischen Familien in Gorizia, die ihre Kinder in eine slowenische Minderheitenschule einschreiben. Das allerdings geht auf Kosten des muttersprachliches Unterricht und bereitet der Minderheit nicht geringe Sorgen. <h3> Tageszeitung „Primorski Dnevnik“</h3>Sie zählt nur 53.000 Angehörige. Wobei: So genau weiß man das nicht. „Zählen lassen will man sich nicht, aus historischen Gründen“, sagt Igor Devetak, der Chefredakteur der in Triest in slowenischer Sprache erscheinenden Tageszeitung „Primorski Dnevnik“<BR /><BR />In Gorizia dürften 15 Prozent der 33.000 Einwohner Slowenen sein, schätzt Devetak. Das fällt allerdings kaum auf. Die Ortstafeln sind einsprachig italienisch. Und während im Zentrum zahlreiche Denkmäler und Büsten in Erinnerung an italienische Soldaten, Kulturschaffende und Politiker vom bis heute andauernden Kampf um die Deutungshoheit künden, muss man Slowenisches mit der Lupe suchen: Nur an Minderheiten-Institutionen gibt es entsprechende Aufschriften.<BR /><BR /> Hinweisschilder an öffentlichen Gebäuden sind einsprachig italienisch, auch am Rathaus, wovon sich die „Fratelli d’Italia“ jederzeit mit einem Blick aus ihrem Hauptquartier versichern können, das nur einen Steinwurf entfernt liegt. <h3> Jugend sieht Grenzen anders</h3>Die Jugend allerdings scheint die Grenze nicht mehr in den Köpfen zu haben: „Wenn meine Tochter über die Grenze geht, nennt sie als Ziel eine Straße oder eine Bar; sie sagt nicht, dass sie nach Slowenien hinübergeht“, sagt Igor Devetak. Und Neda Rusjan Bric unterstreicht, dass vor zehn Jahren noch kein Slowenisch auf den Straßen von Gorizia zu hören gewesen sei. „Heute ist das ganz normal, auch für die Minderheit.“<BR /><BR />Die Grenze, die heute nur noch eine Linie ist, war nie so hermetisch abgeriegelt wie etwa die Berliner Mauer: Sie bestand aus einem niedrigen Mäuerchen mit einem gut einen Meter hohen Zaun darauf. Trotzdem: „Es gab Tote, ja“, sagt die Historikerin Kaja Širok, die ihre Dissertation über das Grenzgebiet geschrieben hat, „aber vor allem war die Trennung der Familien dramatisch.“ Großeltern konnten ihre Enkel nicht mehr sehen, Liebespaare wurden getrennt, Arbeitsplätze gingen verloren. <BR /><BR />Betrachtet man die Entwicklung, die die beiden Städte seither genommen haben, lässt das die Hoffnung wachsen, dass der allerorten wieder zunehmende Nationalismus vielleicht doch kein langfristiger Trend ist, sondern dass in Zukunft zwar rote Linien nicht mehr überschritten werden, dafür aber die Grenz-Linie am Boden vor dem Bahnhof Transalpina möglichst oft. <BR /><BR /><i>Die Europäische Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten- und Regionalsprachen (Midas) wurde 2001 gegründet. 28 Tageszeitungen aus 12 Staaten gehören Midas an. Ziel ist, gemeinsam Strategien zu entwerfen und die Zusammenarbeit beim Austausch von Informationen, bei Druck und Marketing zu fördern. Dieser Artikel stammt von Hatto Schmidt für Midas</i>.