Denn anders als bei seinem vierfach Oscar-gekrönten Mafiathriller „Departed“ (2006) stößt Scorsese mit seinem jüngsten Werk auf ein geteiltes Echo. Bei der Weltpremiere auf der Berlinale reagierte das Publikum mit eher verhaltenem Applaus.Dabei ist der Film eine hochspannende, packende Geschichte, auch wenn die reichlich blutgetränkten Horrorbilder vielleicht wirklich allzu stilisiert wirken. Nach dem Bestseller von Dennis Lehane wird die Geschichte des US-Marshalls Teddy Daniels (DiCaprio) erzählt, den es 1954 zur Hoch- Zeit des Kalten Krieges auf eine finstere Gefängnisinsel für psychisch kranke Schwerverbrecher verschlägt. Gemeinsam mit seinem Partner Chuck Aule (Mark Ruffalo) soll er das mysteriöse Verschwinden einer Frau aufklären, die ihre drei Kinder ertränkt hat.Teddy stößt bei seinen Ermittlungen auf ein Gespinst sinistrer Machenschaften. Der leitende Anstaltsarzt Dr. John Cawley (wunderbar undurchsichtig: Ben Kingsley) und sein Kollege (Max von Sydow) nähren immer mehr den Verdacht, in unheilvolle psychiatrische Experimente nach NS-Vorbild verstrickt zu sein. Gleichzeitig wird der Marshall zunehmend von den Schreckensbildern seiner eigenen Vergangenheit eingeholt: Er war bei der Befreiung des KZ Dachau dabei, kürzlich ist seine Frau bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen.„Scorsese ist ein Meister darin, dass er eine emotionale Geschichte erzählt und gleichzeitig bestimmte Elemente sehr doppeldeutig macht“, sagte DiCaprio. „Er zeigt nie Schwarz oder Weiß, sondern behandelt die Grauzonen.“Die Grauzone - das ist in diesem Film das geniale Wechselspiel zwischen Sein und Schein, gesund und krank, normal und anormal. Scorsese schiebt die Ebenen so geschickt ineinander, dass der Zuschauer bis zur überraschenden Wende am Schluss fast selbst den Boden unter den Füßen verliert. Was ist Realität, was Einbildung, was Wahn? Alle Bilder scheinen zu trügen.DiCaprio spielt die Rolle des um sein inneres Gleichgewicht kämpfenden Marshalls mit einer fast selbstzerstörerischen Intensität. Der pausbäckige Charme des einstigen „Titanic“-Helden ist längst einer unglaublichen emotionalen Bandbreite gewichen. „Shutter Island“ ist nach „Gangs of New York“, „The Aviator“ und „The Departed“ der vierte Film, den der Hollywoodschwarm mit dem Altmeister der Paranoia dreht. „Obwohl wir unterschiedlichen Generationen entstammen, bringen wir uns gegenseitig vorwärts, wir haben ein Vertrauensverhältnis“ sagt Scorsese.Optisch und akustisch zieht der Filmemacher alle Register, die das Genre des Horrorfilms bereit hält - und mutet so dem Zuschauer einiges zu. Allerdings sind die immer wiederkehrenden Bilder von den Leichenbergen in Dachau, dem aufquellenden Fleisch des erschossenen Nazi-Schergen oder den drei ertränkten Kindern so „kunstvoll“ inszeniert, dass sie das Gefühl kaum erreichen.Deshalb wohl scheiden sich an dem Film die Geister. „Als habe sich der Weiße Hai an Speed-Junkies überfressen: Im Schizophrenie-Thriller „Shutter Island“ wirkt alles drei Nummern zu groß“, urteilte etwa der Kritiker der „Süddeutschen Zeitung“. Sein Kollege von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ schrieb dagegen: „Großartiges Kino in jeder Hinsicht, gesättigt mit Filmgeschichte.“dpa