<b>Von Maria Cristina De Paoli</b><BR /><BR />Im einzigen Interview, das sie in ihrem Leben gegeben hat, sprach Valeria Valentin von 600 Menschen. Die italienische Botschaft in Santiago de Chile hat diese Zahl revidiert. Demnach soll die Gadertalerin in den ersten Jahren der Militärdiktatur sogar 800 Regimegegnern zur Flucht verholfen haben. <BR /><BR />Unmittelbar nach dem Putsch organisierte und koordinierte Valeria, die seit 1969 als Missionarin in den Slums der chilenischen Hauptstadt lebte, ein geheimes Netzwerk. Die Kerngruppe um Bischof Fernando Ariztià bestand aus 10 Personen. <BR /><BR />Die Fluchthelfer versteckten politisch Verfolgte in Privathäusern, in den Armenvierteln, in Krankenhäusern oder Klöstern, um sie dann zu den Botschaften oder zur Nuntiatur zu begleiten. Von dort konnten die Flüchtlinge aus dem Land geschleust werden. Als die Kontrollen verschärft wurden und die Haupteingänge der Botschaften nicht mehr zugänglich waren, hievte Valeria die Menschen nachts regelrecht über die meist hohen Grenzmauern.<BR /><BR />Von Pinochets Geheimpolizei blieb die Tätigkeit der Missionsschwester nicht unbemerkt. Valeria wurde festgenommen, verhört, doch dann wieder freigelassen. Als Europäerin und als Klosterfrau genoss sie einen gewissen Schutz. Außerdem soll der chilenische Kardinal Raúl Silva Henríquez persönlich bei Pinochet für sie interveniert sein. <BR /><BR /><b>Herkunft auf dem Gadertal</b><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1031424_image" /></div> <BR />Geboren wurde Valeria Valentin 1937 auf dem Weiler von Prasarores am Fuße des Heiligkreuzkofels. Von hier zog die Bauerstochter Mitte der 1950er-Jahre nach Irland, um Philosophie zu studieren, Englisch zu lernen und in die St.-Josefs-Missionsgesellschaft einzutreten. „Amare et servire“ – „Lieben und Dienen“, lautet der Wahlspruch des Ordens. Und das war wohl auch Valerias Lebensmotto. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1031427_image" /></div> <BR />10 Jahre lang führte die Nonne eine Mädchenschule in Kenia, wobei es ihr schwer fiel, die vom Orden gewünschte Distanz zu ihren Schützlingen einzuhalten. Ihr Verständnis von Entwicklungshilfe war ein anderes. Sie lernte Swahili und Luo, die Sprachen der Mädchen, um ihnen und ihren Familien näher zu stehen. <BR /><BR />Zurück aus Afrika und nach einem kurzen Intermezzo in Peru ging Valeria Valentin weiter nach Chile, wo sich ihr Weg mit dem des jungen Priesters und Missionars Karl Pizzinini aus St. Kassian kreuzte (<b>siehe Interview unten</b>). „Schon als Mädchen war meine Mutter sehr aufgeweckt und rebellisch“, erzählt Sohn Daniel Pizzinini. Aber auch als Erwachsene sei es ihr nicht leicht gefallen, sich einzuordnen, zu gehorchen. Und das war wohl auch der Grund dafür, dass Valeria irgendwann aus dem Kloster austrat.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1031430_image" /></div> <BR /> Auch Karl legte sein Amt als Priester nieder, die beiden wurden ein Paar. „Es war eine große Liebe“, sagt der Sohn. Daniel kam 1976 in Argentinien zur Welt, sein Bruder Andrés wurde ein Jahr später in Chile geboren. Doch dann kehrte die Familie definitiv nach Südtirol zurück. <BR /><BR />„Meine Mutter war intelligent und ironisch, tapfer und charismatisch – ein harter Knochen mit vielen Fans“, sagt Daniel Pizzinini, der seinen Humor von der Mama geerbt hat. „Das, was sie in Afrika und vor allem in Chile erlebt hat, hat sie allerdings stark mitgenommen.“ Auch deshalb waren ihre letzten Lebensjahre geprägt von einer besonderen Fragilität. Valeria Valentin Pizzinini ist 2002 in Rodeneck nach schwerer Krankheit gestorben. Sie war 65 Jahre alt.<h3> „Sich wichtig zu machen, war Valeria immer fremd“</h3>Karl Pizzinini ist der Ehemann von Valeria Valentin. Wie Valeria stammt auch er aus dem Gadertal, und wie sie war auch er einst als Missionar nach Chile gegangen. Was sie dort gemeinsam erlebt haben, erzählt der langjährige Religionslehrer und Krankenseelsorger im Interview.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1031433_image" /></div> <BR /><b>Was haben ein Priester und eine Klosterfrau aus dem Gadertal Ende der 1960er-Jahre ausgerechnet in Chile gesucht, was haben sie dort gefunden?</b><BR />Karl Pizzinini: Nach dem Studium sind wir beide in die St.-Josefs-Missionsgesellschaft eingetreten. Unsere Kongregation war damals vor allem in ehemaligen englischen Kolonien präsent. In den 1960er-Jahren begann in Lateinamerika, die sogenannte Theologie der Befreiung eine gewisse Rolle zu spielen. Sie bekannte sich zu einem gelebten Glauben und einer neuen, gerechteren Gesellschaftsordnung. Das war, was ich suchte, und auch das, was Valeria wollte. Als die St.-Josefs-Missionsgesellschaft nach Chile ging, habe ich mich beworben.<BR /><BR /><b>Und Valeria?</b><BR />Pizzinini: Sie war zuerst als Missionarin in Kenia. Später reiste sie mit der Krankenschwester Christine Brugger und der Katechetin Paula Comploj, beide aus Südtirol, nach Peru. Die Arbeit dort hat sie aber nicht überzeugt. Valeria und ich kannten uns seit unserer Studentenzeit – sie war aus Abtei, ich aus St. Kassian. Ich schrieb ihr und erzählte ihr von Chile. Und so kam sie gemeinsam mit Christine und Paula nach Santiago.<BR /><BR /><b>Ihr habt euch beide für ein Leben in den Slums entschieden – als Missionare oder als Helfer?</b><BR />Pizzinini: Fernando Ariztià war damals Bischof von Santiago. Alle nannten ihn den „roten“ Bischof, auch wenn er gar kein Kommunist war. Er wohnte in einer Baracke in einem Armenviertel, und wir sind auch dorthin gezogen. Unser Ziel war es, kleinere Glaubensgemeinschaften aufzubauen, in denen die Bibel gelesen und die Messe gefeiert wurde. Freilich haben wir auch geholfen, wo wir konnten. Vor allem Christine Brugger hat sich als Krankenschwester um jene gekümmert, die sonst keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen gehabt hätten.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-64861468_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Was hat sich nach dem Militärputsch vom 11. September 1973 für euch und für eure Mitstreiter geändert?</b><BR />Pizzinini: Valeria war die Sekretärin von Bischof Fernando Ariztià geworden. Viele, die von Pinochets Geheimpolizei verfolgt wurden, baten gerade ihn um Hilfe. Valeria hatte gute Kontakte zur italienischen Botschaft. Und so hat sie nach und nach ein Netz aufgebaut, um den Regimegegnern zur Flucht zu verhelfen. <BR /><BR /><b>Hat sie nie gezögert?</b><BR />Pizzinini: Valeria war ein sturer Kopf. Wenn sie sich etwas vorgenommen hat, hat sie es auch durchgezogen. Man muss sich vorstellen, dass die italienische Botschaft mitten in der Stadt war und dass das Militär die Straßen ständig patrouillierte. Um jemanden schadlos über die hohe Grenzmauer der Botschaft zu schubsen, wie sie es mit Hunderten von Menschen gemacht hat, musste man extrem vorsichtig sein. Valeria hatte nie Angst – erst recht nicht, wenn es darum ging, jemandem zu helfen.<BR /><BR /><b>Pinochets Militärdiktatur war besonders brutal. Wie dramatisch war die Situation gerade in den Armenvierteln?</b><BR />Pizzinini: Pinochet hatte eine Ausgangssperre verhängt. Ab 19 Uhr durfte niemand mehr auf die Straße. In den Slums, in denen die Menschen auf der Straße lebten, war das nicht umsetzbar. Wer erwischt wurde, wurde oft einfach erschossen – egal ob es Kinder oder alte Menschen waren. <BR /><BR /><b>Wurde auch Valeria verfolgt?</b><BR />Pizzinini: Jemand muss sie verraten haben. Die Soldaten kamen und führten Valeria vors Militärgericht. Sie wurde einen Tag lang verhört und eingeschüchtert, doch am Abend ließ man sie wieder frei. Wir haben die ganze Zeit vor dem Gerichtsgebäude auf sie gewartet. Denn es war bekannt, dass gerade Ausländer nach dem Verhör eine Erklärung unterschreiben mussten, dass sie nicht gefoltert wurden. Darauf konnten sie zwar gehen, wurden aber gleich um die Ecke von der Geheimpolizei wieder festgenommen. <BR /><BR /><b>Auch Sie wurden verhaftet.</b><BR />Pizzinini: Ich war nach 19 Uhr noch unterwegs und wurde erwischt. Die Soldaten haben mir ihr Maschinengewehr in den Bauch gestoßen und mich zum Rio Mapoche geführt. Das ist der Fluss, der durch Santiago fließt. Immer wieder hatten wir Leichen aus dem Rio geholt, um sie zu beerdigen. Ich war mir sicher, dass ich sterben würde. Um vier Uhr morgens haben sie mich dann einfach weggeschickt, und ich habe mir beim Weggehen gedacht: Jetzt schießen sie, jetzt schießen sie.<BR /><BR /><b>Irgendwann wurden Sie und Valeria ein Paar, irgendwann haben Sie Ihr Amt niedergelegt, und Valeria ist aus dem Kloster ausgetreten, irgendwann habt ihr beschlossen, eine Familie zu gründen. Was ist dann geschehen?</b><BR />Pizzinini: Bischof Fernando Ariztià hat uns getraut. Unser erster Sohn ist in Argentinien geboren, weil Chile zu gefährlich war. Doch dann kam es auch in Argentinien zu einem Militärputsch, und wir sind wieder zurück nach Chile – doch nicht nach Santiago, sondern in den Norden in die Atacama-Wüste. Dorthin hatte man auch Bischof Ariztià „verbannt“. Die ständige Präsenz der Geheimpolizei hat die Menschen aber von der Mission ferngehalten. Niemand hat sich mehr getraut, und so machte auch unsere Arbeit keinen Sinn mehr. Wir sind zuerst nach Peru und später wieder zurück nach Südtirol. <BR /><BR /><b>Wie war euer Wiedereinstieg zu Hause?</b><BR /> Pizzinini: Mein Bruder hatte ein Hotel im Gadertal. Er hatte keine Kinder und wollte, dass ich bei ihm mitarbeite. Doch Valeria konnte und wollte sich ein Berufsleben im Tourismus nicht vorstellen. Wir haben die Leitung des damals neu errichteten Blindenzentrums in Bozen übernommen, wir haben beide unterrichtet. Valeria hat für die deutsche Caritas die Anlaufstelle für die Flüchtlinge aus dem Jugoslawienkrieg koordiniert und verschiedene Auslandsprojekte betreut. Dafür waren wir unter anderem im Benin, in Kenia, Äthiopien und Eritrea. Später hat sie die Führungen auf Schloss Rodenegg gemacht, und ich war Krankenseelsorger in Brixen. Ihr letztes großes Projekt war das Haus der Solidarität in Milland. Sie sollte dessen erste Leiterin werden, doch sie erkrankte und starb kurz darauf. Seit der Eröffnung lebe und helfe ich dort mit. <BR /><BR /><b>Warum hat Ihre Frau so wenig über das gesprochen, was sie in Chile geleistet hat?</b><BR />Pizzinini: Sich wichtig zu machen, war Valeria immer fremd. Außerdem hatten wir schon im Chile beschlossen, nicht über unsere Tätigkeit als Fluchthelfer zu sprechen – um die Verfolgten und die Mitstreiter zu schützen. Das war unsere Haltung, das war unser Weg. <BR /><BR /><BR /><b>ZUR PERSON</b><BR /><BR />Karl Pizzinini wurde 1940 in St. Kassian im Gadertal geboren. Nach der Matura hat er in England Theologie studiert, er ist in die St.-Josefs-Missionsgesellschaft eingetreten und hat anschließend sieben Jahre als Missionar in Südamerika gearbeitet. Wieder zurück in Südtirol hat er das Blindenzentrum in Bozen geleitet und Religion unterrichtet. Zuletzt war er 25 Jahre lang in Bozen und Brixen in der Krankenseelsorge tätig. Seit Jahren lebt und wirkt er im Haus der Solidarität in Brixen.<BR /><BR /><BR /><b>Hintergrund: 17 Jahre Diktatur in Chile</b><BR /><BR /><BR />Am 11. September 1973 putschte das chilenische Militär unter Führung von General Augusto José Ramón Pinochet Ugartet gegen die Regierung des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende. Es war der Beginn einer brutalen Militärdiktatur. Tausende Menschen wurden ermordet, Zehntausende gefoltert und in Konzentrationslagern inhaftiert. Knapp eine Viertelmillion Chileninnen und Chilenen mussten ins Ausland fliehen. Die Opfer waren vor allem Mitglieder und Sympathisanten von Linksparteien und Gewerkschaften. Die Militärjunta regierte Chile 17 Jahre lang bis zum 11. März 1990.<BR /><BR />Neue Recherchen haben die Rolle deutscher Nazis beim Putsch gegen Salvador Allende bestätigt. Eine Reihe von Zeugnissen beleuchtet das Wirken des damals als Kriegsverbrecher gesuchten ehemaligen SS-Standartenführers Walter Rauff und der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad. Während der Militärdiktatur diente die Kolonie als Folterstätte.<BR /><BR /><BR /><b>Termin Dokumentarfilm</b><BR /><BR />Im Auftrag der „Fondazione Museo Storico del Trentino“ wurde 2023 ein Dokumentarfilm über das Leben von Valeria Valentin Pizzinini produziert. Auf Initiative des Ladinischen Beirats der Gemeinde Bozen wird der Film am heutigen Mittwoch, 22. Mai, um 18 Uhr im Bozner Filmclub ausgestrahlt. An der anschließenden Diskussionsrunde nehmen der Trentiner Journalist Paolo Tessadri, Valerias Ehemann Karl Pizzinini, der Exilchilene Marco Lobos und Beirats-Präsident Ludwig Castlunger teil.