Die Zentralausstellung, die Ausstellungen in den nationalen Pavillons („Partecipazioni nazionali“), die Nebenausstellungen („Eventi collaterali“) und die inoffiziellen Parallelausstellungen machen zusammen die weltweit größte Anhäufung in Sachen Gegenwartskunst.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770954_image" /></div> <BR /><BR />Zuallererst fällt auf, dass man bei der Akkreditierung gefragt wird, mit welchem Verkehrsmittel man anzureisen gedenke. Die diesjährige Biennale gibt sich klimafreundlich. Der Klimaneutralität wegen werden die Emissionen, die durch die Anfahrten aus aller Welt entstehen, eingerechnet. <BR /><BR />Am Weg vom Bahnhof zum Biennale-Gelände sticht ein blau-gelbes Plakat mit Selenskijs Handschrift und seinem berühmt gewordenen Satz <b>„We are defending your freedom“</b> ins Auge. Es verweist auf ein Kollateralevent in der Scuola Grande della Misericordia in Cannaregio.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770957_image" /></div> <BR /><BR />Damit den Kunstrundgang beginnen? Man nimmt es sich für einen späteren Zeitpunkt vor und versäumt die Eröffnung, zu der sich der ukrainische Präsident per Videobotschaft zugeschaltet hat. <BR />Auf dem Biennale-Gelände überrascht die Partystimmung. Der Kunstzirkus setzt sich nach dreijähriger Pause in Szene, als ob es nie eine Unterbrechung gegeben hätte. Einzig die Jachten der Oligarchen fehlen an der Anlegestelle. Selbst der leere russische Pavillon scheint eine Attraktion. „Belo“ hat jemand mit roter Farbe auf die Fassade des grünen Baus gesprayt, nach einer halben Stunde ist die Schrift weg. Ein demonstrierender ukrainischer Performer wird von der Polizei rasch vertrieben. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770960_image" /></div> <BR /><BR />Die Tage der Preview sind wie immer. Von allem zu viel: zu viel Menschen, zu viel Kunst, zu viel Eindrücke. Mit 213 Künstlerinnen und Künstlern und mehr als 1500 Arbeiten allein in der Hauptausstellung, gibt es so viel Kunst wie noch nie. Dazu kommen 80 Länderpavillons. Viel Zeit nimmt das Schlangestehen in Anspruch. Viel Zeit, das Strohdach zu betrachten, mit dem <b>Simone Leig</b><b>h</b> den US-amerikanischen Pavillon gedeckt hat. Davor stehen ihre überdimensionalen weiblichen Figuren aus Bronze und Keramik, in Schwarz, leuchtendem Blau und glänzendem Gold. Souverän wachen sie über den Trubel auf dem Gelände. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770963_image" /></div> <BR /><b>Cosima von Bonins</b> hybride Fischwesen auf der Fassade des Hauptausstellungsgebäudes halten mit Surfbrett, Elektrogitarre und Strandtuch den Menschen mit viel Freizeit einen ironischen Spiegel vor. Das Warten in der Schlange gibt die Gelegenheit, die angereisten Künstlerinnen und Künstler samt Anhang zu betrachten, die Galeristen, Kuratorinnen, Intendanten. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770966_image" /></div> <BR /><BR />Vor dem nordischen Pavillon stehen Menschen in folkloristischer Tracht. Es sind die Sami-Künstler, denen die skandinavischen Länder in einem Akt der Solidarität ihren Pavillon zur Verfügung gestellt haben. Auf der <b>Piazza Ucraina,</b> die im Zentrum der Giardini in aller Eile errichtet wurde, kleben zwei junge Männer letzte Plakate an die Säulen. In der Mitte des Platzes gemahnt eine weiße Pyramide aus Sandsäcken an den Schutz der ukrainischen Denkmäler vor der Zerstörung. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770969_image" /></div> <BR /><BR />Vor der Pyramide fotografieren Models gegenseitig ihren neuesten Street Style. Es scheint so etwas wie einen Biennale-Look zu geben. Lässig und elegant genug, um zum nächsten Event zu passen, zu denen Galerien in allen Winkeln der Stadt einladen – falls man dazugehört. Falls nicht, hält man sich an den Sekt, den einige Pavillons großzügig zu ihrer Eröffnung spendieren und hört den Wartenden zu, die auf den diesjährigen Goldenen Löwen für den ukrainischen Pavillon mit Pawlo Makows Installation tippen. <BR /><BR /><BR /><b>Goldene Löwen</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770972_image" /></div> <BR /><BR />In der Zwischenzeit sind die Goldenen Löwen vergeben worden. Sie gehen an Amerika und Großbritannien, an <b>Simone Leigh</b> für den hervorragendsten Einzelbeitrag und an <b>Sonia Boyce</b> für den besten Pavillon. An berühmte schwarze Künstlerinnen. Sonja Boyce hat den britischen Pavillon in einen lauten, bunten Schallplattenladen verwandelt mit Gesangsimprovisationen 5 stimmgewaltiger schwarzer Sängerinnen der Pop-Ära. Simone Leigh hat nicht nur den US-Pavillon bespielt, ihre mit dem Goldenen Löwen als bester Beitrag ausgezeichnete, streng stilisierte, monumentale Frauenbüste, halb Mensch, rundes Haus, empfängt die Besucher im Eingang des Arsenale. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770975_image" /></div> <BR /><b>Zentralausstellung Giardini</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770978_image" /></div> <BR /><BR />In der Eingangsrotunde der Giardini thront imposant der Elefant von <b>Katharina Fritsch.</b> Eine klare Setzung: Hier behauptet sich starke Kunst von Frauen. Vom Anblick des hyperrealistischen, irritierenden Elefanten vermag man sich schwer zu lösen. 1997 hatte hier Maurizio Cattelan mit 2000 präparierten Tauben samt aufgemaltem Dreck provoziert. An die Stelle der Provokation tritt bei der diesjährigen Biennale die Introspektion. Dass sich ein Teil der männlichen (Kunst)Welt jedoch durchaus provoziert fühlt, lässt sich an bisher erschienenen Kommentaren ablesen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770981_image" /></div> <BR /><BR /><b>Cecilia Alemani</b> hat sich in ihren 5 „Zeitkapseln“, den sorgfältig in die Ausstellung eingebetteten historischen Kabinetten, nichts Geringeres vorgenommen, als die Kunstgeschichte der Avantgarden umzuschreiben. Das Auffinden bisher unbekannter oder vergessener Künstlerinnen und ihre Aufnahme in die Kunstgeschichte, ist das eigentliche Verdienst der Biennale 2022 und wird in die Geschichte der Großausstellung eingehen. Bekannte Künstlerinnen erhalten in diesem Kontext eine neue Bedeutung. Entkommen hoffentlich dem „Rosa Ghetto“, wie eine an einem Nebenschauplatz der Biennale ausgestellte Werkgruppe, „Materialisation der Sprache“, 1978 von einem Kritiker genannt wurde. <BR /><BR />Einige dieser Werke sind jetzt von der Kuratorin Cecilia Alemani prominent in der Zeitkapsel Corpo orbita platziert. Sie ist der Weiblichkeit in der Schrift gewidmet, der „ecriture feminine“, wie die Literaturtheoretikerin und Schriftstellerin Helene Cixous die Schrift als Schauplatz des Unbewussten, des Phantasmas, genannt hat. Versammelt sind Arbeiten von <b>Dunja Barnes bis Unica Zürn,</b> konkrete und visuelle Poesie von <b>Ilse Garnier und Tomaso Binga, Mary Ellen Solts Herbarien</b> aus Schriftzeichen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770984_image" /></div> <BR /><BR />Das pulsierende Zentrum der gesamten Ausstellung bildet die Zeitkapsel La Culla della Strega. In gedämpftem Licht und auf ockerfarbenen Teppichen lebt der Surrealismus in neuen Zusammenhängen auf. <b>Leonara Carrington,</b> die in einem Kinderbuch die „Milch der Träume“ und damit den diesjährigen Ausstellungstitel erfunden hat, verweist mit dem Bild einer Vogelfrau auf die aufgehobene Teilung zwischen Mensch und Tier.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770987_image" /></div> <BR /><BR /><b>Meret Oppenheims</b> unheimliches behaartes Wesen aus einem Traumbild durchbricht die Sehgewohnheiten genauso wie die Gemälde und Zeichnungen bekannter Surrealistinnen wie <b>Leonir Fini</b> und <b>Dorothea Tanning</b> zwischen bisher unbekannten. Sie geben sich Pseudonyme wie Toyen oder Nadja und sind auffallend häufig als Schriftstellerinnen tätig. Dem Unbewussten und der Imagination auf der Spur, mehr oder weniger obsessiv, mehr oder weniger humorvoll, immer ungeheuer lebendig, spielen sie das ironische Spiel mit Geschlechteridentitäten und suchen nach neuen Ausdrucksformen im Körperlichen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770990_image" /></div> <BR /><BR />Die restaurierten Tanzfilme von <b>Josephine Baker</b> und <b>Mary Wigmann</b> zeigen Frauen, die sich keinen Deut um Konventionen scherten. Es sind die „rebellischen“ Frauen und ihre zukunftsweisende Kunst, die Cecilia Alemani am Herzen liegen. Sie findet sie in ihrer anspruchsvollen, beeindruckenden Schau auch in der Gegenwart in Hülle und Fülle. <BR />Die seelenvollen Augen auf Katalog und Plakaten sind einem Bild der Malerin, Bildhauerin und Dichterin <b>Cecilia Vicuna</b> entnommen. Die in Chile geborene und während der Diktatur emigrierte Künstlerin hat in diesem Jahr gemeinsam mit <b>Katharina Fritsch</b> den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk erhalten. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770993_image" /></div> <BR /><BR />Vicunas ortsspezifische Installation NAUfraga verknüpft wie ein Gedicht kleine Fundstücke aus der Lagune. Algen, Muscheln, Plastikteile stimmen den Abgesang auf eine gefährdete Stadt an und verweisen auf die Zerbrechlichkeit der Zivilisation. Ein leiser Protest, aber nicht zu übersehen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770996_image" /></div> <BR /><BR />Inszenierungen voller dramatischer Wucht hingegen fesseln im Raum, den die 86-jährige Portugiesin <b>Paula Rego</b> bespielt. Endlich erhält sie für ihre kraftvolle, kompromisslose Kunst die verdiente Anerkennung. Mit Kafkas Verwandlung zollt Paula Rego dem großen Überthema Surrealismus Tribut. In düsteren Ölgemälden und dreidimensionalen alptraumhaften Parabeln entfaltet sie die ganze Härte zwischenmenschlicher Beziehungen und die Gewalterfahrungen in der Diktatur. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="770999_image" /></div> <BR /><BR />Die zurzeit sehr gefeierte <b>Miriam Cahn</b> leuchtet mit ihrer radikalen Malerei, ihrem neuen Zyklus von 13 Gemälden, 9 Zeichnungen und Notizheften, mit den von extremen Gefühlen heimgesuchten fragmentierten Körpern und Gesichtern in Ecken, wo die verbale Sprache nicht hinreicht. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771002_image" /></div> <BR /><BR />Neben der existenziellen Wucht zieht Verspieltes und Humorvolles in den Bann. <b>Andra Ursutas</b> grünlich-gelbe, lilafarben schimmernde Aliens in Yoga- und anderen Stellungen, die überaus symbolreichen Farbzeichnungen der Inuk-Künstlerin <b>Shuvinai Ashoona, Jana Eulers</b> 111 winzige und witzige Keramikhaie bilden gemeinsam mit vielen anderen ein Kaleidoskop endlos scheinender surrealistischer Verfremdungen und Verwandlungen. Dankbar nimmt man die wohltuend erdenden Figuren der libanesischen Schriftstellerin und Bildhauerin <b>Simone Fattal</b> im schönen Skulpturengarten von Carlo Scarpa in den Blick. Sie sorgen mit ihrer Standfestigkeit für ein kurzes Durchatmen. <BR /><BR /><BR /><b>Arsenale</b><BR /><BR /><BR />Im zweiten Teil der Hauptausstellung sind die Themen dieselben: Aufhebung der Teilung zwischen Mensch und Natur, Mensch und Technik, handelndem Subjekt und seiner Umwelt, dargestellt an hybriden und in Verwandlung begriffenen Objekten. Was in den Giardini durch Abwechslung zwischen den Räumen mit einzelnen Künstlerinnen und den Kabinetten mit den Zeitkapseln, ein komplexes, mehrperspektivisches, letztlich offenes Gesamtbild ergibt, gerät im Arsenale arg in den Mainstream des gegenwärtigen Kunstbetriebs: Man trifft auf zu viele Werke mit ähnlichen Anliegen. Ohne den Rekurs auf die Philosophinnen Donna Haraway und Rosi Braidotti geht (fast) gar nichts mehr, ohne die Denkfigur des Cyborg, ohne Rekurs auf indigene Kulturen aus aller Welt, in denen Mensch und Natur nicht getrennt waren, ohne posthumanes Denken mit gleichen Rechten für Menschen, Pflanzen, Tiere und Maschinen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771005_image" /></div> <BR /><BR /><BR /> Die Kunstwerke, auch jene der männlichen Künstler, erscheinen so ausgewählt, dass sie in die Denkrichtung der 2 Philosophinnen passen. Die Gefahr der Ideologie liegt nahe. Zum Glück ist die Qualität der meisten Werke so hoch, dass in ihnen genügend rebellische Kraft liegt, Ideologien aufzusprengen und sich nicht auf das Etikett des Ökofeminismus festnageln zu lassen. Traumgestalten aus dem Unbewussten sind nicht „political correct“, Pflanzen wuchern aus Frauenkörpern, ohne sich zurechtstutzen zu lassen, detailreiche kosmologische Erzählungen sparen nicht mit Abgründen. Unmittelbarer und sinnlicher als die philosophische Theorie macht das Earthly Paradise der kolumbianischen Künstlerin <b>Delcy Morelo</b> die Metamorphose sinnlich spürbar. Das Kunstwerk mit der größten Ausdehnung fasziniert mit seinem Geruch nach Erde, Heu, Kakao, Zimt, mit der Feuchtigkeit des Humus. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771008_image" /></div> <BR /><BR />Das älteste Kunstwerk der Ausstellung stammt von <b>Maria Sibylla Merian</b> aus dem Jahr 1702. Das Aquarell zur Metamorphose eines tropischen Schmetterlings hat die Kuratorin in eine Zeitkapsel eingefügt, in der es um Gefäße geht. Diese historische Abteilung fußt auf Theorien der Anthropologin Elizabeth Fisher, nach denen am Ursprung der menschlichen Erfindung nicht Jagdspeere und ähnliche Waffen standen, sondern Gefäße jeglicher Art.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771011_image" /></div> <BR /><BR />La Seduzione del Cyborg nennt Cecilia Alemani die fünfte und letzte Zeitkapsel. Es wird ermüdend. Die Themen wiederholen sich. Die schwellenden zoomorphen und anthropomorphen Formen der Skulpturen von <b>Marguerite Humeau</b> mischen sich mit High Tech. Mit einem Seufzer der Erschöpfung und mehr aus Pflichtgefühl ein kurzer Blick auf <b>Louise Bonnets</b> riesiges Pisser Tryptich, wo aus monströsen Körpern Abfall quillt. Wie Marguerite Humeau wurde Luise Bonnet als eine gefeierte Gegenwartskünstlerin mit Vorschusslorbeeren bedacht, gehört mit <b>Jessie Homer French</b> zu den Künstlerinnen mit Visionen von Transformation und Erneuerung. Aber womöglich auf einem Planeten ohne oder mit künstlichem Menschen. Oder ähnlich jenen in grell neongrünes Licht getauchten, humanoiden Geisterskulpturen von <b>Sandra Mujinga</b> am Ende des Parcours. Oder <b>Giulia Cencis</b> fragmentierten Tier- und Menschenkörpern aus Aluminium, die unter dem Titel dead dance auf dem Weg zum Ausgang bedrohlich über dem Kopf baumeln. <BR /><BR /><BR /><b>Großausstellungen in der Stadt</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771014_image" /></div> <BR /><BR />Draußen der Horizont über der Lagune. Der Blick bleibt auf die Kunst fixiert. Venedig quillt über vor Großausstellungen, deren Besuch auf ein andermal verschoben werden muss. Nur ein kurzer Blick in die abends geöffneten, jüngst sanierten neuen Prokuratien am Markusplatz. <b>Louise Nevelson</b> hat dort einen großen posthumen Auftritt. Obwohl sie 1961 den US-Pavillon auf der Biennale bespielte, galten ihre monumentalen, an Kriegsgeräte mahnenden schwarzen Skulpturen als unweiblich und fanden zu Lebzeiten Nevelsons wenig Anklang. <BR />Gegenüber der Frari-Kirche erstrahlt die prächtige Scuola Grande di San Rocco in festlichem Glanz, umringt von festlich gekleideten Menschen. Die Hoffnung auf ein Konzert zwischen Tintorettos größten Meisterwerken zerschlägt sich. Die Antwort der jungen Dame am Eingang sorgt für einen ernüchterten Blick auf die Obszönitäten des Kunstbetriebs: Mit Tintoretto verziert der saudi-arabische Pavillon sein Eröffnungsbankett. <BR /><BR /><BR /><b>Länderpavillons</b><BR /><BR /><BR />Am nächsten Tag ein neuerlicher Versuch, in die meistbesuchten Länderpavillons hineinzukommen. In diesem Jahr üben Griechenland und Frankreich die größte Anziehung aus. In beiden Pavillons werden Filme gezeigt. Der Hunger nach bewegten Bildern in der heuer mit Videos sehr sparsamen Kunstschau scheint ebenso groß wie die Verlockung, in einem Sessel zu versinken. Die griechische Künstlerin <b>Loukia Alavanou</b> schickt die Besucherin, ausgestattet mit VR-360-Brille zuerst in einen Käfig mit Geiern, dann auf einen Flug hin zu einem Müllplatz in Athen, wo eine Roma Familie das Drama von Ödipus nachspielt. Dafür 2 Stunden Schlangestehen? Nicht unbedingt. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771017_image" /></div> <BR />Im französischen Pavillon hat die Künstlerin mit algerischen Wurzeln, <b>Zineb Sedira,</b> ein Filmset aufgebaut, gleichzeitig gemütliches Bistro mit Tangomusik, tanzenden Schauspielern und Kulisse für den Film, der nebenan gezeigt wird. Dazu Ausschnitte eines verlorengegangenen Dokumentarfilms über die Aufbruchsstimmung im unabhängig gewordenen Algerien der 60er Jahre. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771020_image" /></div> <BR /><BR /><b>Gian Maria Tosatti</b> sorgt im italienischen Pavillon für die wohl beeindruckendste Inszenierung. Die Räume, die in den vergangenen Biennalen mit viel Sammelsurium vollgestopft waren, bestehen diesmal aus einer mehrteiligen, gespenstischen Theaterkulisse: leere Fabrikhallen mit Reminiszenzen an den italienischen industriellen Aufbruch der 60-Jahre und dessen Scheitern, eine Wohnung wie ein Bühnenbild von Anna Viebrock. In der Schwärze des letzten Raumes, einer leeren Schiffswerft, prasseln Kometen herunter, sie spielen auf Pier Paolo Pasolinis Glühwürmchen an, der Dichter hätte ein einziges für den ganzen Montedison-Konzern hergegeben. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771023_image" /></div> <BR /><b>Maria Eichhorns</b> Konzept sah vor, den deutschen Pavillon abzutragen und an einem anderen Ort in den Giardini aufzubauen. Geworden ist es eine gründliche, archäologisch anmutende Freilegung der Spuren des bescheidenen bayrischen Pavillons von 1909, bevor die Nationalsozialisten 1938 den heutigen Koloss aufmauerten. Ein Pflichtbesuch für Interessierte an der Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="771026_image" /></div> <BR /><BR />Am fröhlichsten geht es im österreichischen Pavillon zu. Die Transgender Künstler/innen <b>Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl</b> führen gutgelaunt durch die quietschbunten Räume. Sie sind auf Erfolgskurs. Sie waren auf der documenta 14 präsent, werden demnächst im Palais de Tokyo in Paris ausstellen, erzählen stolz von ihrem Biennale-Auftritt in der New York Times. Ihre jeweiligen Outfits changieren in den Farben und Mustern der 70er Jahre und in Bonbonfarben. Das erfolgreiche Paar in Kunst und Leben trägt Kleidung aus der Kollektion, die für die Biennale entstanden ist. Soft Machine nennen sie ihre Ausstellung, ein „Begehrensraum“ sollte sie sein. Eigentlich bildet sie eine Bühne für ein Selbstporträt. Ashley Hans Scheirl, die/der sich ganz zeitgeistmäßig an Donna Haraway orientiert und eine „verrückte Cyborgwissenschafter/in nennt, porträtiert sich zwischen Pillen, Goldklumpen und Panzerrohren, Jakob Lene Knebl zwischen überdimensionierten, beringten Händen, blankpolierten Hinterteilen und Architekturelementen des Center Pompidou. „Sehr österreichisch“, murmelt ein Kollege von der Presse. Sehr österreichisch in der Tradition des Wiener Aktionismus, mit der kritischen Verbindung von Körperausscheidungen und obszöner Ökonomie, von Politik und Sexualität. <BR /><BR /><BR />Während im viel besuchten dänischen Pavillon ökologische Esoterik wabert, verdient der belgische Pavillon einen ausführlichen Verbleib. <b>Francis Alys</b> zeigt eine fesselnde Dokumentation über Kinderspiele aus aller Welt: Spielarten des Tempelhüpfens, Spiele im Schnee und in der Wüste, zwischen Autos und Ruinen. <BR /><BR /><BR /><b>Am Ende</b><BR /><BR /><BR />Auf dem Weg zurück zum Bahnhof bricht in der Scuola Grande della Misericordia die Realität des Krieges in die traumverlorene Kunstwelt ein: Ölgemälde mit salutierenden ukrainischen Soldaten, Schulbänke mit Ausschnitten aus Kriegstagebüchern, eine Leinwand mit dem lachenden Gesicht des Flüchtlingskinds Valeriia. Der Kunstmäzen und ukrainische Oligarch Viktor Pinchuk und sein Kurator Geldhof haben das Kollateralevent This is Ukraine: Defending Freedom in aller Eile ausgerichtet. Damien Hirst wirbt mit Schmetterlingen über einem Kornfeld in Blau-Gelb für Solidarität mit der Ukraine.<BR /><BR /><BR />Auch interessant: <b>Anish Kapoor</b> in der Galleria dell’Accademia und im Palazzo Manfrin<BR /><BR /><BR />