Mittwoch, 10. Mai 2023

„I Have to Think About It“: Distanz zwischen Kunst und Leben auflösen

Die Antonio Dalle Nogare Stiftung zeigt bis zum 24. Februar 2024 die Ausstellung „I Have to Think About It“: Es ist dies die erste Retrospektive in einer italienischen Institution des argentinischen Künstlers David Lamelas (Buenos Aires, 1946). Die Eröffnung wurde am vergangenen Samstag gefeiert.

Am vergangenen Samstag wurde die Ausstellung „I Have to Think About It“ in der Antonio Dalle Nogare Stiftung eröffnet. - Foto: © Luca Guadagnini - Lineematiche, Via dei Bottai 8, 39100 Bolzano (Italy) - IG: @luc

Lamelas Werk entstand ab Ende der 19060er Jahre und zählt bis heute zu den faszinierendsten Positionen konzeptueller Kunst. Die Arbeiten umfassen Installationen, Skulpturen, Zeichnungen, Fotografien, Filme, Videos, Töne und Texte und beschäftigen sich mit den Umständen und Bedingungen, welche unsere Wahrnehmung und Erkenntnis bestimmen. Eine Art von Kunst, die oftmals fast aus nichts besteht.

Die Ausstellung kuratiert Andrea Viliani mit Eva Brioschi. Sie erstreckt sich räumlich über alle Etagen der Stiftung und zeitlich über mehrere Monate, in denen sie regelmäßig neue Formen einnehmen wird und somit auch einen Dialog mit ausgewählten Werken der Sammlung ermöglicht. Gezeigt werden einige der wichtigsten historischen Werke des Künstlers zusammen mit neuen Produktionen, begleitet wird die Ausstellung von einem Programm von Live-Events.

„Ich muss darüber nachdenken“

Bereits mit dem bewusst selbstironischen Titel („Ich muss darüber nachdenken“) stellt Lamelas das eigentliche Format der Ausstellung und insbesondere jenes der Retrospektive in Frage. Er schlägt stattdessen eine persönliche Interpretation vor, in der sowohl der Ausstellungskontext, als auch die Institution, die Basis für einen fortlaufenden Diskurs bilden, welcher Vergänglichkeit provozieren und die Möglichkeit diverser Sichtweisen generieren will. Sichtweisen, die im Kontext der Ausstellungserfahrung entstehen, also nicht bloß jene des Künstlers, sondern auch jene der Besucher.

In dieser Neugestaltung und Lockerung des Formats der Retrospektive versteht Lamelas die Ausstellung als eine weitere Erkundung der Konzepte von Raum und Zeit, welche sein gesamtes Schaffen kennzeichnen. Indem er mit einem Aufbau arbeitet, der sich nicht auf einen bestimmten Raum beschränkt und die Dauer der Ausstellung der Zeit von Wahrnehmung und Gedanken anpasst, lädt uns der Künstler dazu ein, die Dimensionen von Raum und Zeit als etwas Interpretierbares und daher Veränderliches zu betrachten.



Für Lamelas sind Raum und Zeit mehr als bloß Konzepte. Sie sind kontextuelle und relative Ereignisse und können daher in vielen Variationen erlebt und erzählt werden. Er arbeitet daher oft auch mit anderen Personen zusammen – angefangen beim Publikum, das oft von anderen Künstlern oder den Teilnehmern seiner Ausstellungen gebildet wird – und nennt diese im Moment der Umsetzung des Werks Co-Autoren.

Werk als Instrument der „Signalisierung“

Als Bildhauer befreit Lamelas das Werk von seiner gegenständlichen und stofflichen Konsistenz, indem er seine Installationen an den architektonischen oder urbanen Raum anlehnt, den diese mit ihm und den Betrachtenden teilen, oder, indem er zeitbezogene Praktiken wie Video/Film oder Performance bevorzugt. Zeit wird konkret darstellbar als „Situation“ (ein Begriff, der zum ersten Mal im Titel eines Werkes von 1967 auftaucht) und „Aktivität“ (die Serie Time as Activity begann 1969), ebenso wie das Werk zu einem Instrument der „Signalisierung“ (das erste Auftauchen des Begriffs geht auf den Titel eines Werks von 1968 zurück) eines Raumes und dessen, worauf sich das Werk in eben diesem Raum bezieht, wird.

All dies zu einer Zeit – zwischen den Sechzigern und Siebzigern – in welcher Künstler beginnen den institutionellen Kontext zu hinterfragen (die sogenannte institutional critique) und Ideologien anzuprangern, welche die Erfahrung und Erzählung eines Werkes durch das oder gegenüber dem Publikum vorgeben und konditionieren. Lamelas erkannte gerade im Ausstellungsraum und der Ausstellungsdauer die Möglichkeit, sich nicht bloß auf das Zeigen von Werken zu beschränken, sondern durch sie die Wahrnehmungsfähigkeit und das Bewusstsein all jener zu fördern, die sie betrachten oder ihnen zuhören. Er nahm damit sogenannte relationale Ästhetiken, welche mit Beginn der Neunziger aufkamen, um Jahrzehnte vorweg.

Distanz zwischen Kunst und Leben löst sich auf

Die Haltung des Künstlers, Gewohnheiten und Erwartungen des gesamten Kunstsystems zu dekonstruieren, nimmt die Gestalt eines radikalen Experiments an, in dem sich die Distanz zwischen Kunst und Leben auflöst, und zu einer unmittelbaren Erfahrung und historisch-kritischen Erzählung der ästhetischen, zeitlichen und geografischen Koordinaten wird, in denen sich der Künstler jeweils bewegt.

Raum und Zeit, Reales und Mentales, Figuration und Abstraktion, Biografie und Geschichte, Künstler und Publikum, Kunst und Leben sind nicht länger getrennte Kategorien, sondern werden zu einer erfahrungsmäßigen und narrativen Synthese – ständig variabel, da immer offen für Interpretationen –, in der alle Werke von Lamelas bestehen und koexistieren.

Was, wenn auch wir versuchten, Raum und Zeit und unsere Rolle darin nicht als selbstverständlich anzusehen? Was, wenn wir versuchten, all das Gesehene und Gehörte um uns herum noch einmal zu betrachten und zu hören, und anfingen, darüber nachzudenken? Schließlich lässt sich, so wie bei Lamelas, auch mit fast nichts Kunst machen und darüber nachdenken.

stol

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