„Was ist mit mir geschehen“, wundert sich der Handelsreisende und die gleiche Frage könnten sich die Besucher auch in einer Ausstellung von Tatiana Trouvé stellen. Am 23. Mai eröffnete das Museion in Bozen die erste Einzelausstellung dieser Künstlerin in einem italienischen Museum. Tatiana Trouvé (Cosenza, 1968) lebt und arbeitet in Paris und stellte auf den Biennalen in São Paulo (2010) und Venedig (2007) sowie in bedeutenden Kunstinstitutionen wie im Kunsthaus Graz, im Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich oder im Centre Pompidou in Paris aus. Mit ihrer Vorliebe für das Erzählerische, Fantastische, Imaginäre und Unheimliche versetzt Tatiana Trouvé den Besucher in ihren ortsspezifisch entwickelten Ausstellungsparcours gerne in ein rätselhaftes Umfeld, in dem Wirklichkeit, Vorstellungswelt, und Täuschung nahtlos nebeneinander koexistieren.Kurz: Hier ist nichts so, wie es sein sollte. Ganz so wie in den Erzählungen der Griots, die Tatiana Trouvé, die in Dakar (Senegal) aufwuchs, als Kind hörte. Diese afrikanischen Troubadours erzählen von Menschen und Orten und überlieferten in ihren Gesängen eine Vergangenheit, die der Europäerin unbekannt war. „So begann ich mir vorzustellen, dass ich vielleicht ein Geist sei. Für mich und meine Familie erfand ich eine komplett neue Dimension: Wir waren unsichtbar, geisterhaft, und lebten in einer anderen Realität”, erinnert sich die Künstlerin. Die von den Griots ausgebreiteten Parallel-Leben „verdoppelten“ Zeit und Raum, indem sie andere Existenzen denkbar machten. Tatiana Trouvé bemächtigt sich dieser imaginären Doubles und macht daraus Kunst. „Auch in der Ausstellung in Bozen zeigt sich die außergewöhnliche Fähigkeit dieser Künstlerin, den Besucher in ein Universum offener Möglichkeiten zu ziehen: Das ist eine Gelegenheit für das Publikum, aber auch für das Museum, das ja selbst eine wachsende und sich entwickelnde Institution ist“, sagt dazu die Direktorin des Museion, Letizia Ragaglia.Ausstellungsräume werden bei Tatiana Trouvé zu Containern von Erinnerung und einer gedehnten oder sogar statisch fixierten Zeit. Die Installation 350 Points towards Infinity (2009), die im Mittelpunkt der Bozner Ausstellung steht, ist ein gutes Beispiel für das raffinierte Spiel mit dem Überraschenden und (Un)-Möglichen: 350 Pendel hängen hier nicht senkrecht nach unten, sondern folgen unterschiedlichen Schwingungsbahnen und ziehen dabei wie in einem Standbild statische Linien durch den Raum. Der Betrachter wird also mit einem scheinbar von oben herab stürzenden Metallregen konfrontiert und dabei über den Mechanismus, der diese Pendel zueinander zwingt oder voneinander abstößt, ganz bewusst im Unklaren gelassen. Dieser „Pendelregen“ lässt im weitläufigen vierten Stock einen verrückten Magnet-Raum entstehen, in dem unsichtbare Kräfte nach allen Richtungen ziehen – und die Verortung des Besuchers in der Welt damit in Frage stellen.In ihrer für das Museion in Bozen konzipierten Ausstellung zeigt die Künstlerin 12 Arbeiten – darunter ihre Refoldings (2011 – 2014), Abdrücke aus Bronze, Zement und Wachs von Verpackungen, die gewöhnlich beim Transport von Kunst eingesetzt werden. Dieses vergängliche Material wird durch den Prozess der „Fossilisation“ selbst zur Skulptur und erhält damit die „Aura“ des Dauerhaften. Die gewundenen Metallkörper der Skulpturengruppe I tempi doppi (2014) werden von schwarzen und leuchtenden Glühbirnen eingegrenzt und enthalten – ausgelöst durch die An-und Abwesenheit von Licht-Energie – eine subtil angedeutete doppelte Bewegung. Die Installation I cento titoli (2013 ) besteht aus zwei Koffern aus Bronze, an denen 100 Schilder angebracht sind, auf denen anstelle der Heimatadresse des Reisenden 100 Titel stehen. Ausgehend vom Geburtsjahr der Künstlerin (1968) wechselt der Titel dieser Arbeit hundert Jahre lang einmal jährlich. Damit setzt Tatiana Trouvé eine Ausweitung der zeitlichen Dimension und der Wahrnehmung in Gang: Das Werk wird in der Gegenwart betrachtet, wendet sich aber auch an ein Publikum der Zukunft. Die Arbeit From here I disappear (2009) lässt wiederum die Illusion eines kafkaesk-bedrohlichen, perspektivisch sich ins Unendliche ausdehnenden Korridors entstehen.Die Ausstellungen von Tatiana Trouvé sind Unikate – und das gilt natürlich auch für den Standort Bozen. Angesichts der Neigung der Künstlerin zur Auseinandersetzung mit Raumsituationen lässt daher der Aufbau älterer Werke aus öffentlichen und privaten Sammlungen im musealen Kontext immer wieder Neues entstehen.Zu der Ausstellung ist bei der Snoeck Verlagsgesellschaft ein von Stephan Berg, Letizia Ragaglia und Ellen Seifermann herausgegebener Katalog (deutsch/englisch) mit Texten von Stefan Gronert, Barbara Hess, Letizia Ragaglia sowie Interviews mit der Künstlerin von Richard Shusterman, Francesca Pietropaolo, Robert Storr und Stefan Gronert erschienen. Das Museion ergänzt diese Publikation durch ein Zusatzheft in italienischer Sprache.Tatiana Trouvé wurde 1968 in Cosenza geboren und lebt heute in Paris. Sie war mit ihren Arbeiten auf den Biennalen in São Paulo (2010) und Venedig (2007) vertreten. Einzelausstellungen (Auswahl): „Double Bind”, Palais de Tokyo, Paris (2007); „4 between 3 and 2”, Centre Georges Pompidou, Paris (2008); „A stay between enclosure and space”, Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich (2009–10); „Il Grande Ritratto” ,Kunsthaus Graz, (2010).In Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum Bonn (30/01– 04/05/2014) und der Kunsthalle Nürnberg (13/11/2014 –8/02/2015).Tatiana Trouvé, I tempi doppiAusstellungsdauer: 24. Mai bis 7. September Kuratiert von Letizia RagagliaÖffnungszeiten: dienstags bis sonntags 10-18 UhrDonnerstag 10-22 Uhr mit freiem Eintritt ab 18 Uhr und einer Gratisführung um 19 Uhr. Ruhetag Montag