Die Bar gegenüber der Laaser Pfarrkirche ist Bernhard Grassls Stammkneipe. Dort sitzt der 60-Jährige auf der erhöhten Eckbank neben der Theke, trinkt einen Kaffee und blättert in den Tageszeitungen.<BR /><BR /> Ab und zu grüßt Grassl einen Bekannten. „Laas ist ein kleines Dorf, jeder kennt jeden“, brummt der grauhaarige Mann mit den bedächtigen Bewegungen und dem typischen Blinzeln eines Kurzsichtigen, dann wendet er sich wieder seiner Lektüre zu. <BR /><BR />Wo Grassl sitzt, hat man einen guten Überblick. Auch den neuesten Dorftratsch würde man hier bestens mitbekommen. Aber neugierig den Leuten nachschauen und tratschen scheint nicht Grassls Sache zu sein, er ist ein eher schweigsamer Typ. „Ich besuche keine Ausstellungen, Events in der Kunstszene sind mir ein Graus“, sagt der 60Jährige, der selbst ein bekannter Künstler ist. <BR /><BR />An der Wand gegenüber hängt ein Bild von ihm, es besteht aus aneinandergereihten geometrischen Feldern, weiß und rostfarben: Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass es sich um Marmorblöcke handelt. „Im Winter, wenn Raureif die Obstwiesen und Krautäcker ringsum bedeckt, ist es hier wunderschön“, sagt Grassl, die Idee zum Bild sei ihm während eines Spazierganges gekommen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="902684_image" /></div> <BR /><BR />Blickt man von Grassls Stammkneipe nach draußen, plätschert am Dorfplatz ein Marmorbrunnen, die Apsis der Pfarrkirche zieren Marmorreliefs: Wohin man in Laas auch blickt, überall entdeckt man Marmor. Er ist die Geschichte des Dorfes, und zugleich Bernhard Grassls Geschichte. „Ich bin Marmorbildhauer in dritter Generation“, sagt der 60Jährige stolz. <BR /><BR />Sein Atelier befindet sich an luftiger Stelle am Mitterwandlbruch hoch oben im Göflaner Tale. Weil der Bruch auf 2200 Metern liegt, ist er laut Eigenwerbung Europas höchstgelegener Marmorbruch. „Und ich habe das höchste Marmoratelier“, grinst Grassl, der dort allerdings nur in den Sommermonaten arbeitet – im Winter sind Bruch und Zufahrtsstraße wegen Lawinengefahr geschlossen. <BR /><BR />An diesem Tag will Grassl Werkzeug und eine Fuhre Brennholz hinaufbringen, ich fahre mit. Das Material hat Grassl hinten im schlammbespritzten Peugeot verstaut, indem er die Rücksitze hinunter klappte. Bevor es im Zickzack den steilen Nörderberg hinaufgeht, kurven wir durch die verwinkelten Gassen von Laas. Neben dem Bahnhof türmen sich Tausende Marmorblöcke übereinander. Mancher dieser funkelnden Kolosse liege hier schon seit einem halben Jahrhundert, sagt Grassl: „Weil zuerst immer jener Block verwendet wird, wo man den wertvollsten Marmor vermutet.“ Sicher wisse man das erst, nachdem der Rohling auseinandergesägt ist. <h3> Marmor ist weltweit begehrt</h3>Aufgrund eines hohen Anteils an Calciumcarbonat (bis zu 98%) ist Vinschgauer Marmor besonders kostbar. Er ist reiner und deshalb härter, haltbarer als der berühmte Konkurrent aus Carrara. Und teurer. Die Nachfrage ist trotzdem groß: Die U-Bahn-Station des One World Trade Centers in New York wurde mit Vinschgauer Marmor ausgekleidet. „Der Marmor für eine Putin-Villa kommt aus dem Mitterwandlbruch“, sagt Bernhard Grassl, während er seinen Wagen über eine schmale, mit Marmorschotter bedeckte Forststraße den Berg hinauf lenkt.<BR /><BR /> Unterwegs müssen wir einem entgegen kommenden Fiat Panda ausweichen. Der Mann, der im staubigen Blaumann das Fenster herunterlässt, leitet die Arbeiten am Mitterwandlbruch. Unter den Klängen einer Opernarie, die aus dem Panda tönt, wechseln Grassl und der Marmorchef einige Worte. „Wir verstehen uns gut, ich habe ihm neulich die CD geschenkt“, sagt Grassl, auch der Chef im klapprigen Fiat liebe Mozart. <BR /><BR />Den Eingang zum Bruch bilden zwei aufgerissene Riesenmäuler am Fuß einer senkrechten Felswand. Waagrecht geht es in das Berginnere hinein, wo diamantbestückte Sägen, welche zum Kühlen wie Seilbahnen über Rollen laufen, gewaltige Brocken aus dem Gestein schneiden. An den Wänden fließt überall Wasser herab, Scheinwerfer flackern, monströse Bagger rollen in den verzweigten Stollen herum. Die Füße tappen durch Pfützen, es ist laut, zugig und kalt. Am Stolleneingang, wo an diesem Tag Eiszapfen von den Wänden hängen, schreibt ein Arbeiter eine Nummer mit Jahreszahl auf die verladebereiten Blöcke.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="902687_image" /></div> <BR /><BR /> „Das ist mein Rohstofflager“, sagt Grassl und zeigt auf etwas abseits liegende Blöcke mit Rissen und grün oder rötlich schimmernden Linien. Entlang dieser Linien - Grassl nennt sie „Venen“ - würden die Blöcke oft auseinanderbrechen und damit für den Verkauf unbrauchbar werden. „Mich faszinieren aber gerade solche Blöcke“, sagt Grassl. An ihnen zeige sich, welcher Reichtum in der Natur stecke. „Das Perfekte, Makellose interessiert mich nicht.“ <BR /><BR />Die Marmorbrucharbeiter wissen, was Bernhard Grassl gefällt, deshalb reservieren sie für ihn bestimmte Rohlinge. Sein nächstes Projekt, ein 4 Meter langer und etwa einen Meter breiter Block, wartet bereits vor dem Atelier einige hundert Meter unter den Stollen. Dem Laien fällt am Rohling nichts Besonderes auf, in den nächsten Wochen ihm mit Grassl Drucklufthammer und Flex auf den Leib rücken. Was dabei herauskommt, wisse er selbst noch nicht, sagt der Künstler, und streicht mit seiner Hand über den Stein, als könne er das Leben spüren, das unter der Oberfläche pulsiert. <BR /><BR />An markanten Geländepunkten thronen Grassls fertige Werke: an Menhire erinnernde Marmorquadern, Stelen mit schraffierten Flächen oder gewellten Mustern, ähnlich, wie sie der Wind in Sand zeichnet. Er liebe diese karge, schweigsame Gegend, sagt Grassl, „hier gibt es keine Abwechslung.“ Ringsum breitet sich eine hochalpine Almlandschaft aus, bucklige, mit Gesteinstrümmern übersäte Wiesen, die im Süden von hohen Felswänden umrahmt werden. Das die Felswände wie erstarrte Riesenwellen durchziehende Marmorweiß leuchtet in der Sonne, als wäre es Schnee. Mit den herumstehenden archaisch wirkenden Kunstwerken könnte der Platz auch eine prähistorische Kultstätte sein. Einen ähnlichen Eindruck hätten auch seine Kunden, die er manchmal mit heraufnähme, sagt Grassl. „Die meisten verstummen, so weg sind sie vom Zauber dieses Ortes.“ <h3> Weitab von der Zivilisation</h3>Sein Atelier mit der Sommerwohnung befindet sich im ehemaligen Maschinenhaus der Marmorbergwerksarbeiter. Im Untergeschoss, wo es nach Maschinenöl riecht und alte Drahtseilrollen herumliegen, deponiert Grassl das Brennholz und seine Werkzeugkiste. Zur Wohnung im Obergeschoss führt eine mit Marmorplatten bedeckte Treppe, auch die Fensterbänke ziert Marmor. Das kostbare Gestein bildet einen seltsamen Kontrast zum bröckelnden Gebäude und Grassls spartanisch mit Tisch, Schrank und eisernem Küchenherd eingerichteter Wohnung.<BR /><BR /> Vor dem Haus schlängelt sich das grauweiße Schotterband der Zufahrtsstraße talwärts und erinnert an die ferne Zivilisation. Bei Mondschein unternehme er oft nächtliche Spaziergänge, und genieße die melancholische Stimmung, erzählt Grassl. Manchmal zeige ihm die Natur aber auch, wer hier oben das Sagen hat. „Während eines Gewitters in einer Sommernacht im Vorjahr hatte ich richtig Angst, ich glaubte, der Wind würde das Dach davontragen.“ Als Grassl dann am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte, war draußen alles von Hagelkörnern bedeckt.<BR /><BR /> Wer ihm hier in der Einsamkeit Gesellschaft leistet? Niemand, sagt Grassl, außer den Tieren, und so sei es recht. Oft höre er Mäuse im Dachgebälk herum trippeln, und immer wieder könne er Murmeltieren oder Gämsen beim Äsen zuschauen. „Vor einer Woche beobachtete ich, wie ein Adlerpaar eine Gams erbeuten wollte. Aber die Gams war auf der Hut und stellte ihre Hörner auf, sodass die Adler, nachdem sie immer tiefere Kreise gezogen hatten, schließlich aufgaben.“ Das Adlerpaar, erzählt Grassl, hätte voriges Jahr ganz in der Nähe ein Junges aufgezogen. „Zu erleben, wie das Junge fliegen lernte, war wunderschön!“<BR /><BR /> Wo genau sich der Horst befindet, und ob dort auch heuer wieder Nachwuchs zu erwarten ist, will Bernhard Grassl nicht verraten. Er befürchtet, dass sonst zu viele Neugierige heraufkommen. <BR /><BR /><BR /><BR />