Sebastian Marseiler zeichnet für die Textfassung des Buches verantwortlich und veranschaulicht in über 90 Unterkapiteln, aber auch in ansprechenden Schwarz-Weiß- und Farbaufnahmen wie sich der Frontkrieg zwischen den beiden Mächten ereignete. Ein Gespräch...Von Ferruccio Delle Cave<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1110276_image" /></div> <BR /><BR /><BR />Der Autor widmet sich dabei vor allem der menschlichen Seite des Ganzen, weniger der militärischen Glorie, die sich ja in den zahlreichen historischen Darstellungen ganz schnell ausbreitet und den Blick verstellt auf die Menschen, die in eisiger Höhe unter der Königsspitze ihre Körper und ihre Leben buchstäblich in Eis und Schnee vergraben mussten. <BR /><BR /><BR />Das Buch ist gleichzeitig aber auch ein Bericht über die durch den Gletscherschwund frei gelegten archäologischen Funde auf mehr als 3000 Metern Höhe, also Geschütze, Holzplanken und auch menschliche Überreste, die nach dem rasanten Gletscherschwund der letzten Jahre freigelegt worden sind. So wird es im Eingangskapitel „Erstarrte Zeit“ deutlich. Also wendet sich das Buch auch mahnend gegen kommende Klimaveränderungen. <BR /><BR /><BR />Was wäre aber diese Geschichte von Menschen hüben und drüben ohne authentische Zeugnisse, wie eben der Fund des 1916 bis August 1918 niedergeschriebenen Tagebuchs des Josef Bauer aus dem Passeiertal, dessen bildhafte und einfache Sprache ein informatives und ganz persönliches Dokument der Entbehrungen dieses speziellen Krieges am Ortler darstellt. „Zeit im Eis“ gehört zu jenen Büchern, die jedem und jeder, der oder die an unserer Geschichte und deren menschlichen Schicksalen interessiert ist, eine überaus spannende Lektüre verspricht. Wie das Buch zustande kam, erklärt der Autor Sebastian Marseiler im Gespräch.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1110279_image" /></div> <BR /><BR /><b>Wie kam es zur Idee an Ihrem neuen Buch „Zeit aus dem Eis“ und wie lange haben Sie daran gearbeitet?</b><BR />Sebastian Marseiler: Das hat eine lange Vorgeschichte: Ich musste mich an der Uni mit Claudio Magris' Buch „Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur“ beschäftigen. Da eröffnete sich mir ein neuer Kosmos, jener dieses Vielvölkerstaates Österreich. Und so habe ich die Geschichte mit ganz anderen Augen gesehen. Anlässlich der Südtirol-Umrundung 1991 von Reinhold Messner und Hans Kammerlander zeigten sich Männer in und mit Kriegsausrüstung aus dem Ersten Weltkrieg auf dem Stilfser Joch. Man hat sich da dann gefragt, woher kommt das ganze Kriegsmaterial, das nun Schnee und Eis freigibt? Der Fotograf Udo Bernhard trat an mich heran, mit dem Wunsch einer Reportage zu diesen Fundstücken. Zusammen mit den Bergführern stiegen wir zu ehemaligen Baracken auf, die gerade ausaperten. Eine Menge an Material kam da aus dem Eis. Manchmal war es, wie in eine Zeitblase hineinzugehen. Ich habe da gleichzeitig mit meiner Nikon für mich ein Bildtagebuch angelegt. Ich bin sehr froh darüber, weil ich von Funden, die heute unwiederbringlich verschwunden sind, Bilder anfertigen konnte. Ich habe dann den Ethnologen und Dokumentarfilmer Franz Haller und seine Fotosammlung kennen gelernt und wir haben zusammen mit Udo Bernhart beschlossen, aus dem reichen Material ein Buch zu machen. Das war 1996. <BR /><BR /><BR />Vor zwei Jahren beauftragte mich dann die Gemeinde Martell, das sogenannte Badehüttl im damaligen Basislager auf Zufall mit einer Ausstellung zu bespielen. Da gewann ich wieder neue Erkenntnisse. So entstand dann das Buch, das jetzt vorliegt. <BR /><BR /><BR /><b>Das Buch trägt den Untertitel „Gletscher geben Geschichte frei“ und umfasst mehrere Textebenen, zu denen die Erzählung, das Tagebuch des Standschützen Josef Bauer aus dem Passeiertal, dann historische und archäologische Quellentexte und Berichte sowie Reflexionen und Kommentare hinzukommen. Wie haben Sie es geschafft, alle diese Textebenen in einen lesbaren und spannenden Grundtext einzufügen und zu verwandeln?</b><BR />Marseiler: Wie vor ca. 10 Jahren die Baracke aus der Königsspitze herausgekommen ist, wollte ich unbedingt den Fund vor Ort sehen. Ich habe das Amt für Archäologie gebeten, mir den Zugang zu erlauben. Das wurde mir nicht gewährt, letztendlich stellte das Amt den Bergungsbericht zur Verfügung.<BR /><BR /><BR />Das Tagebuch von Josef Bauer war die zweite Ebene: ein einfacher und erstaunlich eindringlicher Text. Über den über 80 Jahre alten Sohn von Josef Bauer bin ich zum Tagebuch gekommen. Da habe ich gemerkt, dass sich verschiedene Ebenen ergeben, wie die einzelnen Textteile fließend zu verknüpfen waren. Daraus eine Art Metaebene zu schreiben, das rein Menschliche in den widrigsten Umständen eben. Ich habe ein Tondokument, in dem ein alter Standschütze seinem Sohn vom Gletscheralltag auf der Hohen Schneid erzählt. Das geht unter die Haut. Mir ist dabei ein Bild zu Dantes Inferno eingefallen. Die danteske Hölle verläuft ja wie ein Trichter von oben bis in die Erdmitte, im Ortlergebiet geht die Hölle vom Talgrund pyramidenförmig hinauf bis zur Spitze des höchsten Berges, den Ortler. Ich wollte das rein Menschliche aus der Geschichte herausarbeiten und nicht in einen Heldenton verfallen, wie er uns in den Offizierserinnerungen, teilweise bis zum Überdruss, begegnet. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1110282_image" /></div> <BR /><BR /><b>In „Zeit aus dem Eis“ legen Sie Geschichte frei, eine Geschichte, die im Gegensatz zur Dolomitenfront weniger intensiv bearbeitet worden ist. Wir haben hier auch ein Buch über Gletscherschwund und die rasanten klimatischen Veränderungen, aber auch ein Buch, das über die historische Feindschaft zwischen zwei Nationen das Verbindende nachweist. Sind dies die zwei Kernthemen Ihres Bandes?</b><BR />Marseiler: Ich war vor sechs Jahren selbst noch einmal auf dem Ortler. Ich habe den Gletschereinstieg nicht wiedererkannt, und wenn man heute sieht, wie diese Gletscher so rasant verschwinden, könnte man weinen. Der Gletscher hat ja etwas Mysteriöses, fast Mystisches. Es sind gewaltige Bilder, die zur Seele sprechen. Wenn man sieht, wie das schwindet, tut es weh. Ich habe im Buch zwei Bilder der Königsspitze gegenübergestellt. <BR /><BR /><BR />Dann das Thema Nachbarschaft im Ortlergebiet. Mit den Menschen aus Bormio hatte man in Friedenszeiten im Vinschgau gute Beziehungen, man war auch befreundet. Die Bergführer kannten sich ohnehin. Die Ortlerfront war ja strategisch nicht so wichtig und kriegsentscheidend. Den einfachen Soldaten auf beiden Seiten war es lieber, wenn man sich nicht zu beschießen hatte. Gefährlicher waren da eher die jungen Offiziere auf beiden Seiten, die frisch aus den Kadettenschulen eingerückt waren und gierig waren nach militärischen Erfolgen. Es gab sogar Tauschgeschäfte, hie italienisches Weißbrot und dort Tabak. Ein kleiner Separatfrieden ist überliefert. <BR /><BR /><BR />Der Respekt vor dem Berg durch die Menschen, die im Gebirge gelebt haben, hat zu gegenseitigem Respekt geführt. Natürlich musste geschossen werden, aber es haben weit mehr Menschen durch Naturgewalten das Leben verloren als durch den Feind. <BR /><BR /><BR /><b>Das Buch hat nicht nur Texte, sondern auch Fotografien aus verschiedenen Epochen. Woher stammen die ganzen Fotos aus der Zeit des Ersten Weltkriegs?</b><BR />Marseiler: Die meisten alten Fotos stammen aus dem Haller-Archiv. Es wurde ja durch Offiziere an der Ortlerfront viel fotografiert! Ich selbst habe etliche Fotoquellen in verschiedenen Archiven und Sammlungen aufgespürt. Zuweilen war es dabei schwierig, die Urheberschaft festzustellen und abzusichern. Das Original-Tagebuch von Josef Bauer habe ich textgetreu übernommen. Bis auf wenige Ausnahmen habe ich die neueren Fotos aus den 1990er Jahren selber geknipst und verwertet. Ich habe ja auch für das Bayerische Fernsehen zur Ortlerfront eine Doku gedreht. Ich bin froh, diese Fotos herübergerettet zu haben, weil es diese damaligen Gletscherlandschaften mit den entsprechenden Funden so ja nicht mehr gibt. Der „Ortler-Sammlerverein“ hat mir auch Bilder zur Verfügung gestellt. Es ging mir ja darum, Bilder auszusuchen, die eine große Aussagekraft in sich tragen, die nicht auf Effekt aus sind, sondern für sich sprechen, wie jenes einer Feldmesse oben auf der Königsspitze, mit dem Feldkuraten und seinem Ministrantensoldaten ganz allein in der gewaltigen Gletschereinsamkeit. So ein Bild braucht keine Worte. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1110285_image" /></div> <BR /><BR /><b>Buchtipp:</b> „Zeit aus dem Eis. Gletscher geben Geschichte frei“ von Sebastian Marseiler und Franz Josef Haller, Athesia Tappeiner Verlag, 2024, 176 Seiten