In einem Forschungsprojekt hat Jasmine Annette Dorigo das Buch „Deutsche und italienische Sprech- und Sprachübungen nach Dolinars Metodo pratico für die Schulen des ladinischen Sprachgebietes“ (Wien 1906/1907) untersucht und ihre Ergebnisse in der Juni-Ausgabe der Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde, „Der Schlern“ vorgestellt.<BR /><BR /><BR /><b>Bei diesem ladinischen Schulbuch handelt es sich um eine g</b><b>roße Ausnahme. Wie sind Sie zu diesem Schatz gekommen?</b><BR />Jasmine Annette Dorigo: Ich arbeite gerade an einem Forschungsprojekt über mehrsprachige Lehrmittel der ladinischen Schule an der Fakultät für Bildungswissenschaften der Freien Universität Bozen. In diesem Zusammenhang habe ich ein Verzeichnis der Lehrmittel im Sprachbereich erstellt, die sich an den ladinischen Schulen nachweisen lassen. Der Projektverantwortliche Prof. Paul Videsott hat mich auch auf die Existenz des Buches von Detomaso/Antoniolli aufmerksam gemacht. Nur noch wenige Exemplare sind davon im Umlauf. Das Exemplar, das ich analysiert habe, habe ich in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien gefunden. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="652214_image" /></div> <BR /><BR /><b>Was weiß man von den beiden Autoren? </b><BR />Dorigo: Vom Erstautor Peter Detomaso konnten wir eine vollständige Biografie rekonstruieren. Er stammte aus Buchenstein und wurde 1860 in Arabba geboren. Nachdem er in Bozen studiert hatte, trat er 1888 den ersten Auftrag als Lehrer in Campill im Gadertal an. Wie zu jener Zeit üblich, übernahm er auch andere Aufträge und war dort u.a. Gemeindesekretär. Um das Jahr 1907 zog er nach Jaufental bei Sterzing, wo er neben der Lehrtätigkeit auch den Mesnerdienst ausübte. 1925 wurde er vom faschistischen Regime entlassen – ein Schicksal, das viele Lehrpersonen in den 1920er Jahren in Südtirol erleben mussten. Er verstarb 1935 in Gasteig bei Sterzing. Umgekehrt konnten wir über den Mitautor Remigio Antoniolli keine einzige biografische Information ermitteln. Wir vermuten, dass er an einer Schule im Gadertal unterrichtete und Arbeitskollege von Detomaso war. Bei „Antoniolli“ kann es sich aber auch um ein Pseudonym für den Buchensteiner Lehrer Alexius Lezuo handeln, der zumindest in der Frühzeit an der Erstellung dieses Werks beteiligt war. <BR /><BR /><BR /><b>Wie kann man sich die Entstehungsgeschichte dieses Buches vorstellen?</b><BR />Dorigo: Wahrscheinlich begann die Redaktion des Schulbuchs kurz nach 1895, nachdem man im Gadertal endlich einen Kompromiss nach einem jahrelangen Streit („Enneberger Schulstreit“) wegen der Schulsprachen Deutsch und Italienisch erreicht hatte. Ein erster Anlauf scheint im Innsbrucker Landesschulrat versandet zu sein, aber 1906 wurde dann der erste, 1907 der zweite Band effektiv gedruckt und in den Schulen des Gadertals bis zum Ende der Monarchie eingesetzt. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-49392197_quote" /><BR /><BR /><BR /><BR /><b>Die Vorlage des Schulbuchs wurde in Triest verwendet. Sie diente den Schulkindern dort beim Erlernen der deutschen Sprache. Worin liegen die Besonderheiten von Dolinars „Metodo pratico“?</b><BR />Dorigo: Das Modell für das ladinische Schulbuch war Ivan (Giovanni) Dolinars Werk „Metodo pratico per imparare la lingua tedesca“, das in zahlreichen Auflagen zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erschien und in Triest und Umgebung für den Deutschunterricht eingesetzt wurde. Im Buch war Italienisch die Erklärungs- und Vermittlungssprache, Deutsch die zu erlernende Zweit- bzw. Fremdsprache. Dolinar verwendete also die italienische Sprache, um die deutsche Sprache zu lehren. Das 3-bändige Werk umfasst insgesamt ca. 500 Seiten. Im ersten Band werden u.a. die Laute und Buchstaben (mit Hinweisen zur Aussprache in deutscher Sprache) vorgestellt. Es geht weiters um den Wortschatz, die Grammatik und die Lektüre. Im zweiten und dritten Band steht die Grammatik im Mittelpunkt, es kommen aber auch andere Lerninhalte und Themen (z. B. in den Lesetexten, Übungen und Aufgaben) vor. In allen Bänden finden sich zweisprachige Wörterlisten. <BR /><BR /><BR /><BR /><b>Worin bestehen die Änderungen von Peter Detomaso und Remigio Antoniolli?</b><BR />Dorigo: Zwischen dem 3-bändigen Schulbuch von Dolinar und dem 2-bändigen Schulbuch von Detomaso und Antoniolli bestehen sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede. In Bezug zu Aufbau, Struktur und Inhalt folgt das Schulbuch von Detomaso und Antoniolli eindeutig dem Vorbild von Dolinar. Die bedeutendsten Unterschiede sind hingegen in der Herangehensweise an die Sprachen und in den Zielsetzungen erkennbar. Dolinar hatte das „Metodo pratico“ spezifisch für das Erlernen der deutschen Sprache verfasst. Die Autoren Detomaso und Antoniolli hingegen verwendeten die Sprachen Deutsch und Italienisch parallel und berücksichtigten damals schon nicht nur 2, sondern 3 Sprachen – wie auch aus dem Titel des Werkes hervorgeht: Deutsch, Italienisch (Deutsche und italienische Sprech- und Sprachübungen) und indirekt auch Ladinisch (für die Schulen des ladinischen Sprachgebietes). Das Ziel der Autoren war es nämlich, die Sprachkenntnisse der ladinischen Schülerinnen und Schüler im Deutschen und Italienischen – mit Berücksichtigung des ladinischen Umfeldes im Gadertal – gleichwertig auszubauen: ein sehr moderner Gedanke, der nach wie vor nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.<BR /><BR /><BR /><b>Was hat Sie persönlich besonders fasziniert?</b><BR />Dorigo: An diesem Buch haben mich insbesondere die deutsch-italienische/italienisch-deutsche Zweisprachigkeit und der mehrsprachige Ansatz, der in diesem Buch deutlich zum Vorschein kommt, fasziniert. Es war für mich sehr interessant zu sehen, dass bereits vor über 100 Jahren zweisprachige Lehrmittel in den Schulen des Gadertals Einsatz fanden. Detomaso und Antoniolli zeigten in ihrem Lehrwerk das Bewusstsein dafür, dass es für die ladinischen Schülerinnen und Schüler wichtig und notwendig war, die deutsche und die italienische Sprache gleichermaßen zu lernen und arbeiteten deshalb speziell für diese Schulen ein Schulbuch aus. In einem Zeitalter, in dem der Nationalismus die Einsprachigkeit als erstrebenswertes Ziel predigte, ist ein solcher mehrsprachiger Ansatz europaweit eine relativ große Ausnahme. <BR /><BR /><BR /><BR /><b>Was bedeutet diese Entdeckung für die Wissenschaft? Sind noch weitere mehrsprachige Schulbücher bekannt?</b><BR />Dorigo: Man wusste zwar, dass die Schule im Gadertal und in Gröden bereits unter Österreich in einem bestimmten Umfang zwei- bzw. dreisprachig war. Diese Vorgeschichte ermöglichte ja auch in gewisser Weise das paritätische System, das 1948 zum Einsatz kam. <BR />Wie aber der Unterricht in mehreren Sprachen konkret stattfand, darüber wusste man recht wenig, und nun bringt dieses Lehrbuch sehr wichtige Informationen. Weitere mehrsprachige Schulbücher aus Ladinien aus der österreichischen Zeit sind mir derzeit nicht bekannt – aber vielleicht gibt es ja im Zuge dieses Forschungsprojekts noch die eine oder andere weitere Überraschung. <BR /><BR /><BR />