Die Kunsthistorikerin und Journalistin Inna Kuester stellt wöchentlich literarische Köstlichkeiten vor – diesmal erzählt sie von ihrer ersten Begegnung mit dem Werk von Thomas Bernhard, der am 9. Februar 90 Jahre alt geworden wäre. <BR /><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="611660_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>„Alte Meister“ (1985)</b><BR /><BR />Das erste Buch von <b>Thomas Bernhard</b>, das vor einigen Jahren in meine Hände geriet, war sein letztes. Ich sah den Titel <b>„Alte Meister“</b> auf dem Umschlag, las in den ersten Zeilen, dass es im Wiener Kunsthistorischen Museum spielt, und die Kunsthistorikerin in mir konnte nicht anders, als es zu kaufen. <BR /><BR /><BR />Was ich darin vorfand, war ein absatzloser Monolog, der sich ununterbrochen über 310 Seiten ergoss. Ich wusste damals nicht viel über Thomas Bernhard und je weiter ich las, umso neugieriger wurde ich auf den Autor dieses bitter-bösen und zunächst verwirrenden sprachlichen Feuerwerks. <BR /><BR /><BR />Der Ich-Erzähler ist ein Privatgelehrter, der <b>Atzbacher</b> heisst. Er ist mit seinem älteren Freund, dem Musikphilosophen <b>Reger,</b> an einem Samstagmorgen in dem sogenannten Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums verabredet. <BR />Reger ist über 80 und schreibt seit über 30 Jahren Musikkritiken für die britische „Times“. Seit derselben Zeit kommt er jeden zweiten Tag an diesen für ihn besonders wichtigen Ort und nimmt vor <b>Tintorettos</b> Gemälde „Bildnis eines weißbärtigen Mannes“ (um 1570) auf der samtbezogenen Sitzbank seinen Platz. Hier sinniert er darüber, was alles in der Welt, und vor allem in Österreich falsch läuft, hier liest er oder arbeitet an seinen „musikphilosophischen Aufsätzen“. <BR /><BR /><BR />Atzbacher kommt eine Stunde früher zum vereinbarten Treffen, um Reger ungestört von dem Nachbarsaal aus zu beobachten. Auf den ersten 170 Seiten wohnen wir seinem innerem Monolog bei und erfahren von Regers extrem kritischen bis absolut vernichtenden Ansichten auf Kunst, Musik, Wien, Österreich, Schriftsteller (wie Stifter), Philosophen (wie Heidegger), Komponisten (wie Bruckner), den entsetzlichen Zustand der Wiener öffentlichen Toiletten und mancherlei Anderem. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="611663_image" /></div> <BR />In der zweiten Hälfte des Buches haben sich die beiden endlich getroffen, und Atzbacher gibt die Suada wieder, die Reger ihm während des Treffens hält. Immer wieder geht es um den Tod Regers Frau, seine darauffolgenden suizidalen Gedanken, und abermals wettert er gegen alles mögliche, allein Tintorettos „Weißbärtiger Mann“ habe seinem Verstand und seinem Gefühl all die Jahre standgehalten. Und hier dämmert es uns, warum diese Sitzbank Reger so lieb ist. Auf ihr saß er „verzweifelt“, als er seiner Frau zum ersten Mal begegnete, die ihn damals, wie er sagt, „rettete“. Nun ist sie nicht mehr da, und er kommt zur Erkenntnis: „Immer habe ich geglaubt, die Musik ist es, die mir alles bedeutet, manchmal ja auch, die Philosophie ist es, die hohe und die höchste und die allerhöchste Schriftstellerei, wie überhaupt, dass es ganz einfach die Kunst ist, aber alles das, die ganze Kunst, wie auch immer, ist nichts gegen diesen einen einzigen geliebten Menschen.“<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-47755074_quote" /><BR /><BR />Thomas Bernhard schrieb „Alte Meister“, nachdem er seinen „einzigen geliebten Menschen“ verloren hatte, seinen „Lebensmenschen“ – der Begriff, den Bernhard prägte und den er nur für zwei Menschen in seinem ganzen Leben verwendete:<BR /><BR />„ […] ich hatte ja meinen Lebensmenschen, den nach dem Tod meines Großvaters entscheidenden für mich in Wien, meine Lebensfreundin, der ich nicht nur viel, sondern, offen gesagt, seit dem Augenblick, in welchem sie vor über dreißig Jahren an meiner Seite aufgetaucht ist, mehr oder weniger alles verdanke. […] Die Eingeweihten wissen, was alles sich hinter diesem Wort Lebensmensch verbirgt, von und aus welchem ich über dreißig Jahre meine Kraft und immer wieder mein Überleben bezogen habe, aus nichts sonst, das ist die Wahrheit.“ („Wittgenstein Neffe. Eine Freundschaft“) <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="611666_image" /></div> <BR /><b>Lesen / sehen / hören</b><BR /><BR /><BR /><b>Thomas Bernhard</b>: Alte Meister. Komödie <BR />Suhrkamp Verlag 2013<BR /><BR /><b>Thomas Bernhard:</b> Wittgensteins Neffe. Eine Freundschaft<BR />Suhrkamp Verlag 2017<BR /><BR /> <a href="https://www.khm.at/objektdb/detail/1569/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">„Bildnis eines weißbärtigen Mannes“</a> von Tintoretto auf der Website des Kunsthistorischen Museums Wien:<BR /><BR /><BR />Thomas Bernhard: <a href="https://www.youtube.com/watch?v=rcQD4x5um6k" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Drei Tage</a> (Dokumentarfilm, 1970)<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="611669_image" /></div> <BR /><b>Wer ist Inna Kuester?</b><BR /><BR /><BR />Inna Kuester ist Kunsthistorikerin (Schwerpunkte Deutscher Expressionismus und Russische Avantgarde) und Journalistin.<BR />Hat seit Mitte der 90er Jahre in einem Kunstmuseum sowie Kunstgalerien quer durch Europa gearbeitet und als Journalistin beim WDR Fernsehen und Radio. Lebenslange Leserin, die sich mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht hat, zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch, und später in drei anderen europäischen Sprachen.<BR /><BR />Studium:<BR />Studium der Kunstgeschichte (und Geschichte) an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und der Medienwissenschaft/-praxis an der Eberhard Karls Universität Tübingen.<BR /><BR />Zuletzt war Inna Kuester als unabhängige art advisor tätitg. Sie lebt heute zwischen Mailand und Meran.<BR />