Jeder trägt in sich einen Dualismus, die Fähigkeit zum Guten und zum Bösen, davon war die Krimiautorin Patricia Highsmith zutiefst überzeugt. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="607223_image" /></div> <BR /><b>„Gut und Böse existieren nicht…“</b><BR /><BR /><BR />Die allererste Bekanntschaft mit <b>Patricia Highsmith</b> habe ich, wie wahrscheinlich viele meiner Generation, der Hollywood-Verfilmung ihres Buches <b>„Der talentierte Mr. Ripley“</b> zu verdanken. Bekannt geworden ist Highsmith auch dank einer Verfilmung – ihres ersten Romanes durch niemand geringeren als den Master of Suspense <b>Alfred Hitchcock</b> selbst. Nur Monate nach der Veröffentlichung 1950 von <b>„Strangers on a Train“</b> (deutscher Titel: <b>„Zwei Fremde im Zug“</b>) erwarb der Regisseur die Filmrechte, gab dem gefeierten Autor von hardboiled novels <b>Raimond Chandler</b> das Drehbuch in Auftrag und drehte noch im selben Jahr den gleichnamigen Thriller. Aus dem bescheidenen Erfolg der literarischen Debütantin wurde ein Welterfolg, quasi über Nacht. <BR /><BR /><BR />Patricia Highsmith wurde am 19. Jänner 1921 in Forth Worth, Texas geboren. Ihre Eltern ließen sich nur wenige Tage vor ihrer Geburt scheiden. Mit 6 Jahren zog sie mit der erneut verheirateten Mutter und dem Stiefvater, dessen Nachnamen sie annahm, nach New York. Nach dem College Abschluss1942 schrieb sie für Comics Verlage und begann ihre Kurzgeschichten zu veröffentlichen. 1948 verbrachte die junge Autorin 3 Monate in der berühmten Künstlerkolonie Yaddo, die für sie ihr Leben lang wichtig bleiben wird. Dort entwarf sie ihren Debütroman, der sie dann mit neunundzwanzig zum Weltstar machte.<BR /><BR /><BR />Die Idee, dass absolut jeder – ein unauffälliger Nachbar, eine zufällige Bekannte, ein Passant auf der Straße – ein dunkles Geheimes verbergen, eine perfide Neigung hegen könnte, faszinierte Highsmith, seit sie mit 8 Jahren ein Buch des Psychiaters <b>Karl A. Menninger</b> „The Human Mind“ auf dem heimischen Bücherregal entdeckte. „Es waren Fallgeschichten – Kleptomanen, Pyromanen, Serienmörder – praktisch alles, was mental falsch laufen konnte. Die Tatsache, dass es sich um reale Fälle handelte, machte es so interessant und viel wichtiger als Märchen. Ich merkte, dass diese Leute äußerlich völlig normal aussahen, und erkannte, dass ich von solchen Menschen umgeben sein könnte.“ So beschrieb die Autorin den Einfluss jener Lektüre auf ihr ganzes literarisches Schaffen. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="607226_image" /></div> <BR /><b>„Zwei Fremde im Zug“ (1950)</b><BR /><BR /><BR />Schon in „Zwei Fremde im Zug“ erforscht Highsmith, wie dünn die Membran zwischen der Normalität und der darunter lauernden Dunkelheit ist. Zwei junge Männer treffen sich zufällig im Zug. Einer, <b>Guy Haines,</b> ist ein aufsteigender Architekt und unterwegs aus New York zu seiner Heimatstadt in Texas, in der Hoffnung seine dort lebende untreue und mittlerweile von einem Anderen schwangere Ehefrau zur Scheidung zu überzeugen. Dann könnte er seine jetzige Freundin heiraten. Der zweite Fremde, <b>Charles Anthony Bruno</b>, ist ein exzentrischer Sohn reicher Eltern, seinen Vater hassendes Muttersöhnchen. Highsmith erzählte später in einem Interview, ihre eigene zufällige Begegnung mit einem ähnlich verwöhnten Jüngling habe diese Figur inspiriert. Die beiden Männer könnten nicht unterschiedlicher sein. Guy ist gütig und gewissenhaft, Bruno sein Gegenteil. Er will sich der Kontrolle seines herrischen Vaters entledigen. Um jeden Preis. Man könnte einander den Gefallen tun, schlägt Bruno nach etlichen Gläsern Whisky vor, und füreinander einen „perfekten Mord“ begehen. Niemand weiß, sie seien je einander begegnet. Einer tötet für den anderen, ohne ersichtliches Motiv, die Aufklärung wäre unmöglich. Guy ist entsetzt und lehnt ab. Trotzdem spürt der Andere Guys Frau auf und tötet sie.<BR /><BR /><BR />Eine psychologische Folter beginnt für Guy, denn Bruno will, dass er nun „seinen Teil des Pakts“ erledigt und dessen Vater ermordet. Um Guy dazu zu zwingen, sind dem Psychopathen alle Mittel recht. Er wird omnipresent in Guys Leben, manipuliert und erpresst ihn. Wir erleben mit, wie Guys Persönlichkeit sich im Laufe des Buches verändert. Von Schuldgefühlen und Angst völlig verstört, mutiert er zu jemandem, den er selbst kaum wieder erkennt, über den er in dritter Person spricht. Mit immer weiter steigernder Spannung, wächst Guys Überzeugung, dass er nicht einen, sondern zwei Menschen in sich hat: „einer kann … sich im Einklang mit Gott fühlen… und der andere ist zum Mord fähig.“ Diesen anderen in sich sieht er als seinen „geheimen Bruder“. Guy will ihn los werden, ihn erdrücken, doch nach und nach kommt zur Einsicht, dass dieser andere, „fremde“ Teil von ihm schon immer da, in seinem Inneren, war, wie „der Wurm im Holz“. <BR /><BR /><BR />Und das ist die Idee, die Highsmith ihr Leben lang vertrat und von der sie von Anfang an so fasziniert war: Jeder trägt in sich diesen Dualismus, diese Fähigkeit zum Guten und zum Bösen. In ihrem Tagebuch merkte sie an: „Jeder kann zwei Menschen lieben, in uns allen sind beide Geschlechter vertreten, und sich widersprechende Emotionen existieren nebeneinander.“ <BR /><BR /><b>Patricia Highsmiths Bücher sind das Gegenteil des klassischen Kriminalromans</b><BR /><BR /><BR />Bei ihr geht es nicht um „wer hat es getan“ (klassisches „whodunit“), wo der Leser dem Aufdecken des Verbrechens mitfiebert und rätselt, wer der Mörder ist. Highsmith interessiert es nicht, wer (das wissen wir gleich), sondern warum, wie es im Inneren der Verbrecher oder ihrer Opfer aussieht, was da passiert… <BR /><BR /><BR />„Ich habe weder das Gespür für Gut und Böse noch das Wissen darum, und nicht nur habe ich das Gefühl für Gut und Böse verloren, sondern Gut und Böse existieren nicht… und sind lediglich ein Vorurteil…“, schrieb die Autorin in ihrem Tagebuch. Und es scheint, sie möchte, es ginge auch ihren Lesern so ähnlich. Sie schafft solch psychologisch glaubhafte wenn monströse Charaktere, dass es ihr gelingt, uns dazu zu bringen, sie irgendwie zu akzeptieren, ihre Gefühle und Beweggründe zu nachvollziehen. <BR /><BR /><BR /><BR />Patricia Highsmiths Leben war nicht glücklich. Sie litt an Depressionen, Anorexie, Alkoholismus, war misanthropisch und hatte nie eine langfristige Beziehung. Ihre 2015 erschienene Biografie beginnt mit den Worten: „Sie war nicht nett.“ <BR /><BR />Erst 1990, wenige Jahre vor ihrem Tod, anerkannte sie die Autorschaft ihres Buches <b>„Carol“</b> (zuerst 1952 als <b>„The Price of Salt“</b> under einem Pseudonym veröffentlicht). Die Geschichte der zwei Frauen, die sich ineinander verliebten, hatte autobiografische Züge. Das Ende ausgenommen, denn „Carol“ war ihr einziger Roman mit einer Art happy ending.<BR /><BR /><BR />Die letzen zehn Jahre ihres Lebens verbrachte Highsmith von ihren Katzen umgeben in ihrem Haus in Tessin. Sie starb 1995 mit 74 Jahren an Lungenkrebs. Ihr Vermögen hat sie der Künstlerkolonie Yaddo vermacht.<BR /><div class="img-embed"><embed id="607229_image" /></div> <BR /><b>Lesen / sehen / hören</b><BR /><BR /><BR /><b>Patricia Highsmith</b>, Strangers on a Train <BR />Virago Press, London 2016<BR /><BR /><BR /><b>Patricia Highsmith</b>: Zwei Fremde im Zug<BR />Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay<BR />Diogenes, Zürich 2002<BR /><BR /><BR /><b>Patricia Highsmith</b>, Carol<BR />Aus dem Amerikanischen von Melanie Walz. Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta<BR />Diogenes, Zürich 2015<BR />In 2020 als „Salz und sein Preis“ neu aufgelegt<BR /><BR /><BR /><b>Patricia Highsmith</b>, A Suspension of Mercy <BR />WW Norton & Co 2001<BR /><BR /><BR /><b>Patricia Highsmith</b>: Der Geschichtenerzähler<BR />Aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis. Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay<BR />Diogenes, Zürich 2020<BR /><BR /><BR /><b>Martha Hailey Dubose</b>, Women of Mystery – The Lives and Works of Notable Women Crime Novelists<BR />Thomas Dunne Books, New York 2011<BR /><BR /><BR /><b>Joan Shenkar</b>, The Talented Miss Highsmith: The Secret Life and Serious Art of Patricia Highsmith. St. Martin's Press, New York 2009<BR /><BR /><BR /><b>Joan Shenkar</b>: Die talentierte Miss Highsmith<BR />Aus dem Amerikanischen von Renate Orth-Guttmann, Katrin Betz und Anna-Nina Kroll Diogenes, Zürich 2015<BR /><BR /><BR /><b>Patricia Highsmith</b>: Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt<BR />Diogenes, Zürich 1985 <BR /><BR /><BR /><b>Die bekanntesten Verfilmungen der Highsmith Romane</b><BR /><BR /><BR /><b>Der Fremde im Zug</b> (Originaltitel: Strangers on a Train) Regie: Alfred Hitchcock, 1951 <BR /><BR /><b>Der Schrei der Eule</b> (Originaltitel: Le cri du hibou) Regie: Claude Chabrol, 1987 <BR /><BR /><b>Der talentierte Mr. Ripley</b> (Originaltitel: The Talented Mr. Ripley) Regie: Anthony Minghella, 1999 <BR /><BR /><b>Die zwei Gesichter des Januars</b> (Originaltitel: The Two Faces of January) Regie: Hossein Amini, 2014<BR />Carol, Regie: Todd Haynes, 2015<BR /><BR />Hörspiel<BR /><BR /><BR /><b>Patricia Highsmith</b>: <a href="https://www.ardaudiothek.de/hoerspiel/der-talentierte-mr-ripley-teil-1-krimiklassiker-zum-100-geburtstag-von-patricia-highsmith/85458166" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Der talentierte Mr. Ripley</a> - in ARD-Audiothek<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="607232_image" /></div> <BR /><b>Wer ist Inna Kuester?</b><BR /><BR /><BR />Inna Kuester ist Kunsthistorikerin (Schwerpunkte Deutscher Expressionismus und Russische Avantgarde) und Journalistin.<BR />Hat seit Mitte der 90er Jahre in einem Kunstmuseum sowie Kunstgalerien quer durch Europa gearbeitet und als Journalistin beim WDR Fernsehen und Radio. Lebenslange Leserin, die sich mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht hat, zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch, und später in drei anderen europäischen Sprachen.<BR /><BR />Studium:<BR />Studium der Kunstgeschichte (und Geschichte) an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und der Medienwissenschaft/-praxis an der Eberhard Karls Universität Tübingen.<BR /><BR />Zuletzt war Inna Kuester als unabhängige art advisor tätitg. Sie lebt heute zwischen Mailand und Meran.<BR /><BR /><BR /><BR />