Aus ihrem Lesezimmer wird die Kunsthistorikerin und Journalistin Inna Kuester wöchentlich literarische Köstlichkeiten für jeden, der „wieder“lesen möchte, der immer schon gelesen hat, der nie weiß, was er lesen soll und für all jene, die ohne Bücher nicht sein können, liebevoll zubereiten. Heute erklärt Inna Kuester, warum Charles Dickens der Retter von Weihnachten ist.<BR /><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="596534_image" /></div> <BR /><BR />„Marley was dead: to begin with.“ <BR /><BR />So beginnt die wohl bekannteste, neben der biblischen, Weihnachtsgeschichte der Welt, die viele von uns immer wieder lesen, andere aus ihrer Kindheit kennen, und von der einige bestimmt schon gehört, sie aber noch nie gelesen haben: <b>„A Christmas Carol“</b> von Charles Dickens. <BR /><BR /><BR />Den Gebrauch von diesem Doppelpunkt in der ersten Zeile habe ich immer als speziell empfunden. Auch wenn man keine Ahnung davon hat, was geschehen wird, weiss man gleich: Es soll etwas besonderes, etwas seltsames werden. Ich war überrascht, als ich dieses Jahr eine deutsche Übersetzung aufschlug und ein Komma anstatt des Doppelpunktes sah:<BR />„Marley war tot, damit wollen wir anfangen.“ <BR /><BR /><BR />Ich fühlte mich zuerst meines geliebten Doppelpunktes beraubt. Weiterlesend fand ich aber alles so, wie ich es in Erinnerung hatte, wie „der Mann, der Weihnachten erfand“ es uns schenkte. Denn so wird <b>Charles Dickens</b> manchmal gennant. Es mag nicht ganz richtig sein: Man hat Weihnachten schon im Alten Rom gefeiert, und im Mittelalter. Dann wurde es ruhiger um dieses Fest, und zu Anfang des 19. Jahrhunderts galt Christmas in England als beinahe vergessen. Arme Leute feierten es noch am heimischen Herd, nicht aber die Aristokratie oder die Mittelklasse. Nur Dickens und seine Weihnachtsgeschichten, <b>„A Christmas Carol“</b> allen voran, haben Fröhliches Weihnachten zurückgegeben. Kaum hat jemand die Art und Weise, wie wir es heute noch feiern, so beeinflusst wie Charles Dickens. <BR /><BR /><BR /><b>Es ist Herbst 1843</b><BR /><BR /><BR />Der einunddreissigjährige Dickens, über die Zustände der Arbeiterkinder empört, selbst auf einmal in prekärer Geldlage, und sein fünftes Kind auf dem Weg, wirft sich ins Schreiben der Weihnachtsgeschichte, mit der er mehr bewirken will, als bloß mit einem Pamphlet über die sozialen Missstände, das er zuerst plante. Sechs Wochen Arbeit, „mit Weißglut“, am Schreibtisch laut lachend und weinend – berichten die Zeugen – allnächtlich durch London wandernd, manchmal dreißig Kilometer am Stück, die Strophen im Kopf komponierend, und es ist fertig! <BR /><BR /><BR /><b>Das Werk</b><BR /><BR /><BR />„A Christmas Carol in Prose, Being a Ghost-Story of Christmas“ (Ein Weihnachtslied in Prosa, das eine Geistergeschichte über Weihnachten ist) – so der vollständige Titel – wird am <b>19. Dezember 1843</b> veröffentlicht und sofort eine riesige Sensation. Leser lachten und weinten, änderten ihr Verhalten den Mitmenschen gegenüber, zeigten Mitleid, spendeten für die Armen mit vollen Händen – alles dank dieses Buches. Eine Welle „immenser Gastfreundschaft“ soll, laut <Fett>William Thackeray</Fett>, durch ganz England gefegt sein, und der Konsum von Weihnachtspunsch und Truthahn war in die Höhe geschossen. Der wohltätige, gütige, menschenliebende Geist des Weihnachten wurde wieder geboren. <BR /><BR /><BR /><b>Scrooge und seine Geister</b><BR /><BR /><BR />„O, er war ein wahrer Blutsauger, der Scrooge! ein gieriger, zusammenscharrender, festhaltender, geiziger alter Sünder; hart und scharf wie ein Kiesel, aus dem noch kein Stahl einen warmen Funken geschlagen hat; verschlossen und selbstbegnügt und für sich, wie eine Auster.“<BR /><BR /><BR />So war <b>Ebenezer Scrooge</b>, der berühmteste Geizkragen der Literaturgeschichte, für den Güte, Mitgefühl, Menschenliebe nur „Humbug“ waren, Unsinn. Weihnachten inbegriffen. Seine letzte Chance auf Besserung kommt eines Heiligabends zu ihm in der Gestalt seines Geschäftspartners <b>Jacob Marley</b> – jenes Marleys, der schon in der ersten Zeile des Buches tot war. Marleys Geist warnt Scrooge vor „den Qualen der ewigen Reue“, wenn er sein abscheuliches Benehmen nicht ändert. Die drei weiteren Geister, die zu ihm in der Nacht kommen sollen und denen er folgen muss, seien seine letzte Hoffnung. Drei darauffolgende Kapitel oder Strophen, wie Dickens sie nannte, berichten über nächtliche Geschehnisse, aus denen Scrooge, seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart und seiner Zukunft gestellt, bis ins Mark erschüttert, am Weihnachtsmorgen als ein anderer Mensch herausgeht… <BR /><BR /><BR />Immer wieder wandte sich Dickens dem weihnachtlichen Thema zu, sei es eine Geschichte oder ein Motiv in seinen Romanen. Der Name Charles Dickens wurde so zum Synonym für Weihnachten, und man erzählt von einem kleinen Mädchen, das, als es von Dickens’ Tod hörte, gefragt haben soll: „Mr. Dickens tot? Dann wird der Weihnachtsmann auch sterben?“ <BR /><BR /><BR /><b>Winter von Ali Smith. Eine heutige Weihnachtsgeschichte</b><BR /><BR /><BR />Als ich in den vergangenen Tagen „A Christmas Carol“ wieder einmal las, musste ich an ein anderes Buch denken, an <b>„Winter“</b> der schottischen Gegenwartsautorin <b>Ali Smith.</b> Ich habe es vor drei Jahren gelesen, als es im Original herausgekommen ist. Es ist jetzt passend zur Jahreszeit in deutscher Übersetzung erschienen.<BR /><BR /><BR />„God was dead: to begin with.“<BR />„Gott war tot: das gleich vorweg.“<BR /><BR /><BR />So beginnt Winter. Sogar Dickens’ Doppelpunkt ist da: Und er wird uns auch nicht enttäuschen. Denn dieses Buch ist nicht weniger besonders und seltsam als „Ein Weihnachtslied“ von Dickens.<BR /><BR /><BR />Winter ist das zweite der vier Bücher aus Ali Smiths „Seasonal Quartet“, das sie von 2016 bis 2020 schrieb. Alle vier hochaktuell. Hochpolitisch. Brexit, Trump, Flüchtlingskrise, soziale Ungerechtigkeit. Aber auch Kunst, Literatur und ganz viele Wortspiele, wie immer bei Ali Smith. <BR /><BR /><BR /><b>Was passiert in „Winter“?</b><BR /><BR /><BR />Der Einstieg in „Winter“ ist nicht das einzige Echo der Dickens’ Geschichte. Es ist auch eine Art Geistergeschichte, nur modern. Scrooge ist hier <b>Sophia Cleves</b>, eine ehemalige Geschäftsfrau, die auf ihrem Anwesen in Cornwall lebt. Sie hat immer eher an die Arbeit, als an ihre Familie gedacht. Mit ihrer Schwester <b>Iris</b>, lebenslanger Aktivistin, liegt Sophia seit vielen Jahren im Streit. Sophias Sohn <b>Arthur,</b> Art genannt, sieht sich als Naturschriftsteller. Er schreibt einen Blog, Art in Nature, in dem er falsche Erinnerungen an nie von ihm gemachte Reisen fabriziert. Art will Sophia nicht von seiner Trennung erzählen, und so engagiert er eine zufällige Bekannte, <b>Lux</b>, gegen Bezahlung die Rolle seiner Freundin zu spielen und für Weihnachten mit nach Cornwall zu kommen. Lux, eine Außenstehende, wird in dieser zerrütteten Familie zu einer Art heilender Kraft – drei Geister der Dickens’ Geschichte in einer Person.<BR />Doch hier gibt es noch einen Geist: Sophia sieht einen Kinderkopf, der frei in der Luft schwebt und sie überall begleitet… <BR /><BR /><BR />So nacherzählt, mag es wie eine einfache Geschichte klingen, vom schwebenden Kopf abgesehen. Aber dies ist nur ein kleiner Teil dieses Buches. „Winter“ ist alles andere als simpel. Es ist anregend, und erleuchtend, und manchmal verwirrend, und herzerwärmend, alles auf einmal. <BR /><BR /><BR /><b>Lesen/sehen/hören</b><BR /><BR /><BR /><b>Charles Dickens</b>: Weihnachtslied. Eine Gespenstergeschichte<BR />Deutsch von Richard Zoozmann <BR />Diogenes, Zürich 2001<BR /><BR /><BR /><b>Charles Dickens</b>: Ein Weihnachtslied. In Prosa. <BR />Ausführlich eingeleitet und neu übersetzt von Heiko Postma <BR />Revonnahm, Hannover 2006 <BR /><BR /><BR /><b>Charles Dickens</b>: Weihnachtserzählungen.<BR />Neu übersetzt von Isabelle Fuchs<BR />Anaconda Verlag, Köln 2012<BR /><BR /><BR /><b>Zum Sehen:</b><BR />Das Buch wurde zahlreiche Male verfilmt. Eine Weihnachtsgeschichte (Scrooge) von <b>Brian Desmond Hurst</b>, ein Klassiker in schwarz-weiss mit Alastair Sim aus 1951, wird oft als die beste Verfilmung genannt.<BR />Scrooge, mit <b>Albert Finney</b> als Scrooge aus dem Jahr 1970, ist eine musikalische Interpretation. <BR />Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte (A Christmas Carol) mit <b>George C. Scott</b> als Scrooge aus dem Jahr 1984, bei der Clive Donner (der Cutter der 1951 Version) Regie führte.<BR /> Die Geister, die ich rief ... (Scrooged) ist eine modernisierte Version mit <b>Bill Murray</b> (1988).<BR />Die Muppets Weihnachtsgeschichte (The Muppet Christmas Carol) mit <b>Michael Caine</b> als Scrooge (1992).<BR />Die neueste ist die BBC-Miniserie A Christmas Carol (2019) mit <b>Tom Hardy and Guy Pearce.</b><BR /><BR /><BR /><b>Zum Hören:</b><BR />Ausserdem gibt es mehrere Hörspielfassungen und Hörbücher. Einige davon in der digitalen Bibliothek LibriVox oder auf YouTube zu finden. Ich mochte auf Englisch „A Christmas Carol“ (version 8 dramatic reading) with <b>Elisabeth Klett</b> als Narrator besonders gerne (auf LibriVox verfügbar). Und auf Deutsch „Charles Dickens – A Christmas Carol. Komplettes Hörbuch und Eine Weihnachtsgeschichte – Komplettes Hörspiel, beides auf YouTube. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="596537_image" /></div> <BR /><BR /><b>Ali Smith:</b> Winter<BR />Aus dem Englischen von Silvia Morawetz<BR />Luchterhand Verlag, München 2020, 320 S.<BR /><b><BR /><BR />Wer ist Inna Kuester?</b><BR /><BR /><BR />Inna Kuester ist Kunsthistorikerin (Schwerpunkte Deutscher Expressionismus und Russische Avantgarde) und Journalistin.<BR />Hat seit Mitte der 90er Jahre in einem Kunstmuseum sowie Kunstgalerien quer durch Europa gearbeitet und als Journalistin beim WDR Fernsehen und Radio. Lebenslange Leserin, die sich mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht hat, zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch, und später in drei anderen europäischen Sprachen.<BR /><BR />Studium:<BR />Studium der Kunstgeschichte (und Geschichte) an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und der Medienwissenschaft/-praxis an der Eberhard Karls Universität Tübingen.<BR /><BR />Zuletzt war Inna Kuester als unabhängige art advisor tätitg. Sie lebt heute zwischen Mailand und Meran.<BR /><BR /><BR />