Im Mittelpunkt einer solchen Geschichte sollte etwas Schockierendes stehen, wie Ehebruch, Diebstahl, Bigamie, Fälschung, Verführung oder sogar Mord. Thomas Hardy entpuppt sich als Meister dieses Genres und wird zu einem gefeierten Autor. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="609449_image" /></div> <BR /><b>Thomas Hardy, sensation novels und lesen für den Komfort</b><BR /><BR />Ob es, unter Umständen, eine gute Idee war, zwei aufreibende Psychothriller von Patricia Highsmith letzte Woche in nur 2 Tagen zu lesen, sei mal dahingestellt. Meine Highsmith Überdosis war eine Art Hommage an den 100. Geburtstag der „Dichterin dunkler Vorahnung“. Nach all der psychologischen Gewalt – in jenen Romanen und somit in meinem für gewöhnlich mehr ausgewogenen Leseleben – sehnte es mich nach etwas „für die Seele“ zum Ausgleich. <BR /><BR /><BR />Ich habe schon einmal früher davon erzählt, wie ich meine Playlisten zusammenstelle: für verschiedene Stimmungen, Stresslevels, Tages- und Jahreszeiten. Mit Büchern anstatt Musikstücke. Ich nenne sie meine Biblio-Diät und achte darauf, dass sie reich an Abwechslung und auch an den mir wichtigen Nährstoffen ist. <BR />Ein Klassiker gehört beinah immer dazu, sei es nur eine Kurzgeschichte, ein selten erwähnter oder weniger gelungener Roman. Denn innerhalb des Werkes auch eines „großen“ Autors finden sich „kleinere“ Stücke, die oft, wenn weniger bekannt, nicht minder lesenswert und anregend sind. Und allgemein bin ich immer froh, eine literarische Kuriosität für mich zu entdecken. <BR /><BR /><BR />Diese Woche war es ein früher und eher selten gelesener Roman von <Fett>Thomas Hardy</Fett>, den ich mir seit längerer Zeit für eine passende Stimmung aufsparte. Ja, so etwas tue ich auch. Hardy schrieb ihn, als er noch als Architekt arbeitete und von literarischer Karriere nur träumte. Er verfasste Gedichte – ohne Erfolg, sein allererster Romanversuch fand keinen Verleger. Man riet ihm, sich an dem damals beliebten Genre der sensation novel zu versuchen.<BR /><BR /><BR />Seit „<b>The Woman in White“ (</b>„Die Frau im Weiß“) 1859/60 in dem von Dickens herausgegebenen Literaturmagazin erschien und <b>Wilkie Collins</b> zum literarischen Popstar machte, waren die Viktorianer verrückt nach dem Genre. „Romane mit Geheimnissen“, so die Definition der sensation novel, brachen alle Verkaufsrekorde. Literaturkritiker verdammten sie, das Publikum liebte sie. Im Mittelpunkt einer solchen Geschichte sollte etwas Schockierendes stehen, wie Ehebruch, Diebstahl, Bigamie, Fälschung, Verführung oder sogar Mord. Und das alles – zum Unterschied von der davor so beliebten Gothic novel – im Rahmen des alltäglichen, vertrauten oder sogar häuslichen Lebens. Romantik und Realismus wurden nun im Sensationsroman vereint. <BR /><BR /><BR />Thomas Hardy, dreißigjährig und frisch in seine künftige Frau verliebt, entscheidet sich eine solche Geschichte zu schreiben. Natürlich könnte er Architekt bleiben, aber er meint, er sei ein „geborener Bücherwurm“ und will lieber als Schriftsteller sein Geld verdienen. <BR /><b>„Desperate Remedies“</b>, Hardys erster, anonym veröffentlichter Roman, erscheint 1871 und wird zu einem bescheidenen Erfolg. Zwei weitere Bücher, die bald folgen, werden ihn zu einem gefeierten Autor machen. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="609452_image" /></div> <BR /><b>„Desperate Remedies“</b><BR /><BR /><BR />Ich könnte nicht sagen, welche Zutaten einer sensation novel hier fehlen. Denn wir haben etwas von allem: dunkle Familiengeheimnisse, illegitime Kinder, Bigamie, Erpressung, Verführungen, gelungene und versuchte, und sogar mehr. <BR /><BR /><BR />Im Mittelpunkt steht die 18-jährige Cytherea Graye. Ihr Vater stirbt am Anfang des Buches und lässt sie und ihren Bruder mittellos zurück. Die erste „verzweifelte Abhilfe“ in der prekären Lage ist eine Stelle zu finden. Cytherea wird erst Zofe und dann Begleiterin einer exzentrischen Dame, die auch ihren seltenen Vornamen trägt, und sich dann als die verlorene erste Liebe ihres toten Vaters herausstellt. <BR /><BR /><BR />Auffällig ist, dass jede mehr oder weniger zentrale männliche Figur im Roman ein Architekt ist, wie der Autor selbst. Cythereas Vater und Bruder, der junge Mann, in den sie sich verliebt, und sogar der hochattraktive und charismatische Bösewicht der Geschichte, der Cytherea um jeden Preis für sich gewinnen will. Unvergesslich ist die Szene seines Verführungsversuches durch ein passioniertes Orgelsolo, mit Donner und Blitzen untermalt.<BR /><BR /><BR />Die Geschichte ist voll unmöglicher Ereignisse und Zufälle, ganz im Stil der sensation novel. Doch schon in diesem frühen Stück sind die Merkmale erkennbar, die reifere Werke Hardys unterscheiden. Die Stimmung der Figuren spiegelnde Naturbeschreibungen, kleine Details, die das Unglaubhafte uns glaubhaft machen. Es ist faszinierend zu beobachten, wie Hardy die Themen andeutet, die er später in seinen reiferen Werken entwickeln wird. Für jeden Hardy-Fan ist es eine Pflichtlektüre, davon bin ich überzeugt.<BR /><BR /><BR />Deswegen war ich richtig verblüfft, als ich nach dem Titel der deutschen Übersetzung suchte, um sie diesem Text hinzuzufügen. Es stellte sich heraus, Deutsch ist die einzige der mir bekannten europäischen Sprachen, in die dieses Buch nicht übersetzt wurde. Und nicht nur dieses, sondern anscheinend auch vier weitere der insgesamt 14 Romane dieses ultimativen Klassikers der Weltliteratur. <BR /><BR /><BR />Zum Glück sind einige superbe Alternativen des Genres ins Deutsche übersetzt, die ich nur empfehlen kann. „Die Frau im Weiß“, „Armadale“ und „Ohne Name“ (auch „Die Namenlosen“) von Wilkie Collins, „Lady Audleys Geheimnis“ und „Aurora Floyd“ von Mary Elizabeth Braddon, oder auch „Große Erwartungen“ von Charles Dickens.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="609455_image" /></div> <BR /><b>Lesen / sehen / hören</b><BR /><BR /><BR /><b>Thomas Hardy</b>, Desperate Remedies<BR />Penguin books 1998<BR /><BR /><BR /><b>Thomas Hardy,</b> Estremi rimedi <BR />Fazi editore 2019 <BR /><BR /><BR /><BR />Als Hörbuch auf LibriVox verfügbar (Englisch) <BR /><BR /><BR /><BR /><b>Wilkie Collins</b>: Die Frau im Weiß<BR />Dtv 2010<BR /><BR /><BR /><BR /><b>Mary Elizabeth Braddon</b>: Lady Audleys Geheimnis<BR />Dtv 1998<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="609458_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Wer ist Inna Kuester?</b><BR /><BR /><BR />Inna Kuester ist Kunsthistorikerin (Schwerpunkte Deutscher Expressionismus und Russische Avantgarde) und Journalistin.<BR />Hat seit Mitte der 90er Jahre in einem Kunstmuseum sowie Kunstgalerien quer durch Europa gearbeitet und als Journalistin beim WDR Fernsehen und Radio. Lebenslange Leserin, die sich mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht hat, zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch, und später in drei anderen europäischen Sprachen.<BR /><BR />Studium:<BR />Studium der Kunstgeschichte (und Geschichte) an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und der Medienwissenschaft/-praxis an der Eberhard Karls Universität Tübingen.<BR /><BR />Zuletzt war Inna Kuester als unabhängige art advisor tätitg. Sie lebt heute zwischen Mailand und Meran.<BR /><BR /><BR /><BR />