Die Kunsthistorikerin und Journalistin Inna Kuester stellt hier literarische Köstlichkeiten vor – diesmal erzählt sie von ihrer letzten intensiven Begegnung mit dem Werk „Emma“ von Jane Austen. <BR /><BR /><BR /><b>„Emma“ von Jane Austen</b><BR /><BR />Wenn ich danach gefragt werde – und unter uns, den Liebhabern der Englischen Literatur, passiert es oft – welchen der <b>Jane Austen</b> Romane ich am liebsten mag, tendiere ich, den letzten zu nennen, den ich wieder einmal gelesen habe. Da spricht wirklich Einiges für diese Autorin des frühen 19. Jahrhunderts. Bis zum letzten Sommer war <b>„Emma“</b> nicht gerade mein „favorite Austen“. Die Autorin selbst soll während ihrer Arbeit am Roman gesagt haben: „Ich werde eine Heldin schaffen, die keiner außer mir besonders mögen wird.“ Doch dann las ich das Buch nach vielen Jahren wieder, diesmal natürlich auf Englisch, und es hat gefunkt. <BR /><BR />Als ich in den letzten Wochen abermals Lust auf Austen hatte, entschied ich mich erneut für „Emma“, diesmal als Hörbuch, von einer meiner Lieblingssprecherinnen, <b>Elizabeth Klett</b>, vorgelesen. Denn „Emma“ ist ein Roman, der wider Erwarten der oberflächlichen, der ein- oder erstmaligen Leser, so komplex und bedeutungsreich ist, das nicht einmal zwei- oder dreifaches Lesen ausreicht, um ihn in seiner Ganzheit zu erfassen. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="647054_image" /></div> <BR />Schon seit der Erstveröffentlichung Ende 1815 wurde „Emma“ für den Mangel an Aktion kritisiert, sowie für die genaue und detailreiche Darstellung des Alltagslebens hoch gepriesen. Einer der ersten Rezensenten war niemand geringerer als <b>Sir Walter Scott</b>, der die außerordentlichen Menschenkenntnisse der Autorin und das besondere Feingefühl lobte, mit dem sie ihre „wunderbar naturgetreuen“ Figuren den Lesern präsentierte. Er meinte, sie erinnere ihn an die Meister der Malerei der Flämischen Schule. Allerdings sei es „ein Verdienst, der sich anhand von Auszügen sehr schwer illustrieren lässt, denn er durchdringt das ganze Werk und kann nicht aus einer einzelnen Textstelle begriffen werden“.<BR /><BR />Und Walter Scott hatte vollkommen recht. Es ist wirklich sehr schwierig, genau zu begreifen und zu erklären, wo die Größe und die Innovation von Austen liegen. <b>Vladimir Nabokov</b>, vor ihm aber auch schon <b>Charlotte Bronte und D.H. Lawrence</b>, übersahen diese komplett. Nabokov meinte: „Ich mag Jane nicht… Ich konnte nie etwas in 'Stolz und Vorurteil' sehen.“ Dafür schreibt <b>Virginia Woolf</b>, wahrscheinlich die größte Literaturpionierin und die harscheste (mit Ausnahme von Nabokov) Kritikerin von ihnen allen, in ihrem epochalen Essay „A Room of One's Own“ (1929): „Anyone who has the temerity to write about Jane Austen is aware ... that of all great writers she is the most difficult to catch in the act of greatness“. („Jeder, der Kühnheit hat, über Jane Austen zu schreiben, ist sich bewusst… dass sie, von allen großen Schriftstellern, in ihrer Größe am schwierigsten zu erfassen ist.“) <BR /><BR /><b>Innovation von „Emma“</b><BR /><BR />Austen schrieb „Emma“ auf dem Höhepunkt ihrer, leider zu kurzen, schriftstellerischen Karriere. Der Roman erzählt die Geschichte von Emma Woodhouse, einer reichen sowie intelligenten, wobei selbstgetäuschten jungen Frau, die sich im Laufe des Buches ins (Liebes-)Leben ihrer Freunde und Nachbarn einmischt und dabei eine Menge Fehler macht, aus denen sie allerdings schließlich lernt. In dem Thema selbst gibt es nichts besonders Neues, geschweige denn Revolutionäres. Einmal wieder wendet Austen ihre berühmte Formel an, die wir aus ihren Briefen kennen: Man nehme „drei oder vier auf dem Lande lebende Familien…“ <BR /><BR /><BR />Revolutionär dagegen ist „Emmas“ Form und Technik. Austen erzählt in dritter Person, doch sie benutzt Denk- und Redeweisen der Figur, über die sie schreibt, ihre Stimme, und wir scheinen, die Selbsttäuschungen der Protagonistin zu teilen. Wir sehen die Welt wie Emma sie sieht, durch ihre Augen. Der erstmalige Leser wird genauso wie Emma selbst überrascht sein, wenn die Heimlichkeiten der Anderen zuletzt ans Licht kommen. <BR /><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="647057_image" /></div> <BR /><BR />Schon 1815 benutzt Austen diese Technik, die bis ins 20. Jahrhundert gar nicht beschrieben wird. Sie hat sie eigenhändig erfunden, behauptet Austen-Experte Prof. <b>John Mullan.</b> Jetzt wenden die Romanautoren diese Methode an, die den Namen „style indirect libre“ bekam, ohne viel nachzudenken. Aber genau das tat Jane Austen zweihundert Jahre früher in „Emma“, und deswegen scherzte sie auch, dass niemand ihre Titelheldin mögen wird, außer der Autorin selbst. Meisterhaft lässt sie ihre Figuren sich selbst offenbaren, ohne direkt zu beschreiben, was sie denken oder fühlen. Beim ersten Lesen ist es leicht, ihre Tricks zu übersehen. So sorgsam sind sie versteckt. Erst erneutes (und wieder erneutes) Lesen belohnt die aufmerksamen und cleveren Leser. <BR /><BR /><BR />Warum sind der Besuch beim Friseur während ein Klavier geliefert wird, oder die gemächliche Reparatur einer Brille, bei der Enthüllung einer geheimen Verlobung so wichtig? Beim einmaligen Lesen können all diese amüsanten Details verlorengehen. So wie zahlreiche Wortspiele, Scharaden und Rätsel, die in „Emma“ großzügig verstreut sind und die eine ganze Anhängerschaft von Lesern gewonnen haben, die sie zu entziffern versucht. Einige sehen sogar den ganzen Text als ein kunstvolles Rätsel, das es zu lösen gilt. Das Letzte ist sicherlich übertrieben, doch es ist wahr, als Leser fühlt man sich andauernd angeregt, herauszufinden, was da wirklich vor sich geht. Wie die Hauptfiguren sich gegenseitig beobachten und versuchen zu verstehen, was die Anderen fühlen und wollen, und daran scheitern und sich immer wieder irren, so macht der Leser es ihnen nach.<BR /><BR /><BR />Der Schriftstellerin, die so lange nur als „vornehm“ oder „elegant“ galt, gelang es mit „Emma“, ein Buch zu schaffen, das so viele Facetten hat und so viele Interpretationen erlaubt, dass sein Ende wirklich eine Einladung zum erneuten Lesen zu sein scheint. Und jedes Mal bleibt es eine große Freude zu lesen. <BR /><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="647060_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Lesen / hören / sehen</b><BR /><BR /><BR />Jane Austen, Emma <BR />Penguin Classics, 2009 <BR /><BR /><BR /><b>Deutsche Übersetzungen:</b><BR />Emma. Aus dem Engl. von Charlotte von Klinckowstroem Erstausgabe 1939), Insel-Verlag, Frankfurt 1979<BR />Emma. Neu übersetzt von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié <BR />S. Fischer, Frankfurt am Main 2019<BR /><BR /><BR /><b>Als Hörbuch</b><BR />Auf <a href="https://librivox.org/emma-version-3-by-jane-austen/" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">Englisch</a><BR /><BR /><BR /><b>Auf Deutsch:</b><BR />„Emma“: Audio-CD, Audiobook. Gelesen von Marie Bäumer<BR /><BR /><BR /><b>Podcast über „Emma“ (auf Englisch):</b><BR />In Our Time Culture (BBC): <a href="https://www.bbc.co.uk/programmes/b06pd3b9" target="_blank" class="external-link-new-window" title="">„Emma“</a><BR /><BR /><BR />Verfilmungen:<BR /><BR /><BR />„Emma“ 1996 Kinofilm mit Gwyneth Paltrow<BR />„Emma“ 1996 TV-Film mit Kate Beckinsale <BR />„Emma“ 2009 vierteilige BBC-Miniserie mit Romola Garai<BR />„Emma“ 2020 Filmkomödie mit Anya Taylor-Joy <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="647063_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Wer ist Inna Kuester?<BR /></b><BR /><BR />Inna Kuester ist Kunsthistorikerin (Schwerpunkte Deutscher Expressionismus und Russische Avantgarde) und Journalistin.<BR />Hat seit Mitte der 90er Jahre in einem Kunstmuseum sowie Kunstgalerien quer durch Europa gearbeitet und als Journalistin beim WDR Fernsehen und Radio. Lebenslange Leserin, die sich mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht hat, zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch, und später in drei anderen europäischen Sprachen.<BR /><BR />Studium:<BR />Studium der Kunstgeschichte (und Geschichte) an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und der Medienwissenschaft/-praxis an der Eberhard Karls Universität Tübingen.<BR /><BR />Zuletzt war Inna Kuester als unabhängige art advisor tätitg. Sie lebt heute zwischen Mailand und Meran.