Wann ist es eine gute Zeit, um ein bestimmtes Buch zu lesen? Warum lesen wir manchmal glühende Kritiken und entscheiden uns trotzdem gegen jenes hoch gelobte und scheinbar wichtige Buch? <BR /><BR /><BR /><i>Von Inna Kuester</i><BR /><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="615953_image" /></div> <BR />Mir passiert das immer wieder, und manchmal kann ich kaum erklären warum. Wenn eine weitere Neuerscheinung als ein „Jahrhundertroman“ gepriesen wird, ist meine erste unwillkürliche Reaktion abzuwarten, etwas Zeit verstreichen zu lassen, bis es um das Buch ruhiger geworden ist. Erst dann es eventuell zu lesen. Denn was sind zehn oder zwölf Jahre für einen Jahrhundertroman? <BR />Manchmal wird er aber schon nach ein, zwei Jahren völlig vergessen, und ein anderer wird als solcher gefeiert, bis dann der nächste Anwärter auf den großen Namen kommt.<BR /><BR /><BR /><b>Gegenwärtige Familiensagas</b><BR /><BR /><BR />Mit den gegenwärtigen Familiensagas ist es so, dass sie mir oft zu episch angelegt vorkommen. Wenn die Familiengeschichte des jeweiligen Autors da zugrunde liegt, dann scheint sie zwangsläufig zum Zentrum der Weltgeschichte aufzusteigen, sie verändernd oder zumindest stark beeinflussend. Nach ein paar solcher sich immer über mehrere Hunderte von Seiten erstreckenden und möglichst schmerzhaft (genannt „authentisch“) verlaufenden Narrationen gewinnt man die Einsicht, dass sie doch keine wirkliche Einsicht gewähren. <BR /><BR /><BR />Dies alles gesagt, wie groß ist die Befriedigung, wenn sich herausstellt, dass das Lob zurecht gewesen ist, und das gepriesene Buch wirklich das Potenzial zu einem „Jahrhundertroman“ hat. Eben das ist mir neulich passiert. Die Autorin dieses Romans ist <b>Jenny Erpenbeck</b>, eine 1967 in Ostberlin geborene und dort lebende deutsche Autorin. Und der Roman ist das 2008 erschienene Werk „<b>Heimsuchung“.</b> Seinerzeit hochgepriesen und gefeiert, ist der Band wirklich eine Art Spurensuche in den „Ruinen deutscher Geschichte“ des gesamten 20. Jahrhunderts. Die Hauptfigur ist ein Haus. Es wurde in den 30er Jahren von einem Berliner Architekten als das Sommerhaus für sich und seine Frau gebaut. Wir erfahren zuerst nicht nur die Vorgeschichte des Grundstücks an einem märkischen See, wo es später stehen wird, sondern auch die Urgeschichte des Sees selbst: <i>„Bis zum Felsmassiv, das inzwischen nur noch als sanfter Hügel oberhalb des Hauses zu sehen ist, schob sie vor ungefähr vierundzwanzigtausend Jahren das Eis vor.“</i><BR /><BR /><BR />Doch wider Erwarten wird daraus keine epische Familiensaga, wenn es auch die Familiengeschichte der Autorin ist. Das lässt sie sich nicht einmal anmerken, stets distanziert und diskret bleibend, hat sie das Buch auf nur 190 Seiten streng durchkomponiert. Geschichte nach Geschichte schichtet sie virtuos zu einem poetisch verdichteten Gefüge. Die Narration ist knapp und präzise. Zwölf nicht nummerierte Kapitel, zwölf meist unbenannte Menschen aus drei Familien und fünf Generationen, die das Haus samt Nebengebäuden im Laufe der Zeit bewohnen: von der Weimarer Republik, über die NS-Zeit, den 2. Weltkrieg, die DDR, die Wende bis in die Nachwendezeit. Ihre Geschichten, episodisch, aber doch miteinander verwebt, handeln von Krieg, Flucht, Vertreibung, von der Suche nach Heimat – und ihrem Verlust, von Schuld und Sühne…<BR />Der Architekt flieht in den Westen, die neuen Bewohner sind ein aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrtes Schriftstellerehepaar – Großeltern der Autorin. Sie werden nicht mehr heimisch in der Heimat.<BR /><BR /><BR /><i>„Jene aber, die vor ihrer eigenen Verwandlung ins Ungeheuere aus der Heimat geflohen waren, wurden durch das, was sie von zu Hause erfuhren, nicht nur für die Jahre der Emigration, sondern, wie es ihr inzwischen scheint, auf immer ins Unbehauste gestoßen, unabhängig davon, ob sie zurückkehrten oder nicht.“</i><BR /><BR /><BR />Die Autorin selbst erscheint als die Enkelin der Zurückgekehrten, die all die Sommer ihrer Kindheit im Haus am See verbringt. Doch wenn man das nicht weiß, spürt man es fast nicht. Das Buch ist gründlich recherchiert, aber es ist kein persönlicher Groll da. Nach der Wende wurde das Haus an die Erben der ursprünglichen Besitzer zurückgegeben. Die Enkelin und ihre Familie verloren es.<BR /><BR /><BR /><i>„Sie hat ihrem Mann nicht erklären können, dass von dem Moment an, als sich abzeichnete, dass sie in diesem Haus nicht alt werden würde, die vergangene Zeit in ihrem Rücken zu wuchern begann, dass da ihre sehr schöne Kindheit ihr, die längst erwachsen war, mit so großer Verspätung noch über den Kopf wuchs und sich als sehr schönes Gefängnis erwies, das sie für immer einschließen würde.“</i><BR /><BR /><BR />Am Ende kehrt die erwachsene Enkelin noch einmal zu den Scherben ihres Kindheitsparadieses zurück, um davon Abschied zu nehmen. Die neuen Besitzer haben sich für den Abriss entschieden, bald wird von dem Haus nichts mehr übrig sein, als ein paar Kubikmeter Schutt. <i>„Bevor auf demselben Platz ein anderes Haus gebaut werden wird, gleicht die Landschaft für einen kurzen Moment wieder sich selbst.“</i><BR /><BR /><BR /><b>Lesen</b><BR /><BR /><BR /><BR /><b>Jenny Erpenbeck:</b> Heimsuchung <BR />Penguin Verlag 2018<BR /><BR /><BR /><b>Jenny Erpenbeck:</b> Heimsuchung <BR />Eichborn, Frankfurt am Main 2008 <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="615956_image" /></div> <BR /><b>Wer ist Inna Kuester?</b><BR /><BR /><BR />Inna Kuester ist Kunsthistorikerin (Schwerpunkte Deutscher Expressionismus und Russische Avantgarde) und Journalistin.<BR />Hat seit Mitte der 90er Jahre in einem Kunstmuseum sowie Kunstgalerien quer durch Europa gearbeitet und als Journalistin beim WDR Fernsehen und Radio. Lebenslange Leserin, die sich mit vier Jahren das Lesen selbst beigebracht hat, zuerst auf Russisch, dann auf Deutsch, und später in drei anderen europäischen Sprachen.<BR /><BR />Studium:<BR />Studium der Kunstgeschichte (und Geschichte) an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg und der Medienwissenschaft/-praxis an der Eberhard Karls Universität Tübingen.<BR /><BR />Zuletzt war Inna Kuester als unabhängige art advisor tätitg. Sie lebt heute zwischen Mailand und Meran.<BR />