Im Interview spricht Markus Hatzer, Verlagsleiter beim Haymon Verlag in Innsbruck, über den Schwerpunkt Literatur aus der Ukraine, der seit 10 Jahren ein wichtiges Standbein des Verlages ist – und stellt die schönsten Bücher aus diesem Land vor. <BR /><BR />In einem von dem Schriftstellerverband PEN International auch auf Ukrainisch und Russisch offenen Brief zeigten sich Autoren „bestürzt über die von den russischen Streitkräften gegen die Ukraine entfesselte Gewalt“ und „rufen dringend zu einem Ende des Blutvergießens auf“. <BR />Zu den Unterzeichnern gehören neben den Literaturnobelpreisträgern Olga Tokarczuk (Polen), Swetlana Alexijewitsch (Belarus) und Orhan Pamuk (Türkei) zahlreiche weitere namhafte Autoren wie Salman Rushdie, Margaret Atwood, Paul Auster, Jonathan Franzen, Can Dündar, Siri Hustvedt, Joyce Carol Oates oder Elif Shafak. Auch die russische Schriftstellerin Ljudmilla Ulitzkaja gehörte zu den Unterzeichnern sowie die philippinische Journalistin Maria Ressa, die im vergangenen Jahr mit ihrem russischen Kollegen Dmitri Muratow den Friedensnobelpreis erhalten hat.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="750569_image" /></div> <BR />Gemeinsam verurteilten die über 1000 Autoren in ihrem Schreiben den von Kreml-Chef Wladimir Putin geführten „sinnlosen Krieg“. Dieser weigere sich, „das Recht des ukrainischen Volkes zu akzeptieren, ohne Moskaus Einmischung über seine künftige Zugehörigkeit und Geschichte zu diskutieren. Wir sind vereint in der Unterstützung von Schriftstellern, Journalisten, Künstlern und allen Menschen in der Ukraine, die ihre dunkelsten Stunden durchleben.“<BR /><BR /><BR /> Aus Österreich haben etwa Josef Haslinger und PEN-Club-Präsident Helmuth A. Niederle den Brief unterschrieben. In einem von der IG Autorinnen Autoren und dem Kunstzentrum „rotor“ initiierten Schreiben richten sich Schriftsteller Doron Rabinovici, die Künstlerin Lisl Ponger oder Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek „zuvorderst an die Verantwortlichen in Russland“ sowie „alle anderen beteiligten Mächte, die Kriegsrhetorik einzustellen“ und „appellieren dringend, von allen weiteren militärischen Aktionen sofort Abstand zu nehmen.“ <BR /><BR /><BR />In Russland selbst steht der Kreml-Kritiker Muratow erneut unter Druck der russischen Behörden, wegen der Berichte über die zivilen Todesopfer in der Ukraine in seiner Zeitung „Nowaja Gaseta“. Er hatte bereits vor Tagen in einer Videobotschaft seine „Scham“ über Putins Einmarsch zum Ausdruck gebracht. <BR /><h3> Literatur ist ein Schlüssel zur Ukraine</h3><BR />Seit nunmehr 10 Jahren publiziert der Innsbrucker Haymon Verlag Romane, Tagebücher und Erzählungen von ukrainischen Autorinnen und Autoren. Ein Gespräch mit dem Verlagsleiter Markus Hatzer (von Helmut Groschup)<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="750572_image" /></div> <BR /><b>Was faszinierte Sie an der ukrainischen Literatur?</b><BR /><BR />Markus Hatzer: Die Ukraine ist ein äußerst interessantes Land und hat eine vielfältige Literaturszene. Für unsere Entscheidung, die Literatur dieses Landes in deutscher Sprache zugänglich zu machen, war u.a. die historische Verbindung zwischen Österreich und der Ukraine ausschlaggebend.<BR /><BR /><BR /><BR /><b>Und durch wen sind Sie auf die ukrainische Literatur geraten?</b><BR /><BR />Hatzer: Ich habe einen der führenden Autoren der Ukraine, Andrej Kurkow, 2010 beim internationalen Literaturfestival in Spitz in Niederösterreich kennengelernt. Ich war anschließend zweimal in Kyiv (Anm. russische Schreibweise: Kiew) und wurde von Kurkow in diese wunderbare Stadt und seine Literatur eingeführt.<BR /><BR /><BR /><b>Sie waren zweimal in Kyiv – einmal vor „Majdan“ im Jahr 2012 und dann nach „Majdan“ 2016. „Majdan“ heißt Platz und steht symbolisch für die Proteste oppositioneller Ukrainerinnen und Ukrainer, 140 junge ukrainische Demonstrantinnen und Demonstranten wurden hinterrücks erschossen...</b><BR /><BR />Hatzer: Ich hatte Kyiv und seine Bevölkerung bei meinem ersten Besuch in einem sehr entspannten und fröhlichen Zustand erlebt. Eine Leichtigkeit schwebte über der Stadt, die am Fluss Dnepr liegt, mit ihrer Architektur, die mich an Rom, Wien und Berlin erinnert. Als ich 4 Jahre später zurückkam, erlebte ich eine Stadt im Belagerungszustand, es war bedrückend. Ich habe beschlossen, die ukrainischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller bei uns bekannter zu machen und das „Ukrainische Literaturfestival Innsbruck“ gegründet. Bisher fand das Festival dreimal statt. Gemeinsam mit Andrej Kurkow habe ich dieses Festival kuratiert. Die vierte Ausgabe planen wir für 2023.<BR /><BR /><BR /><b>Haben Sie derzeit Kontakt mit den Autorinnen und Autoren?</b><BR /><BR />Hatzer: Ja, wir sind mit unseren Autorinnen und Autoren in Kontakt. Andrej hat mittlerweile Kyiv verlassen, wo er nahe dem Majdan gelebt und gearbeitet und sein „Ukrainisches Tagebuch“ geschrieben hat. Auch andere Autorinnen und Autoren haben die Stadt verlassen. Die Situation ist katastrophal. Es handelt sich hier nicht um eine Krise oder einen Konflikt, wie oft gesagt wird – es handelt sich um einen brutalen Überfall, ohne Rücksichtnahme auf die Menschen. Das ist Krieg. Und wir werden die ukrainische Literatur weiterhin pflegen und planen nach 15 Büchern von 8 Autorinnen und Autoren aus diesem großartigem Land weitere Bücher. Es ist wichtig, das Leben und die Geschichte der Menschen in der Ukraine auch bei uns sichtbar zu machen. Die Literatur ist ein Schlüssel dazu.<BR /><BR /><BR /><b>Welches Buch empfehlen Sie im Besonderen?</b><BR /><BR />Hatzer: Andrej Kurkows „Ukrainisches Tagebuch. Aufzeichnungen aus dem Herzen des Protests“ liest sich wie eine Einführung in die Unabhängigkeitsbestrebungen eines Landes, das über 43 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt und über 600 tausend Quadratmeter Fläche hat, das größte Land Europas. Oder das 2021 erschienene Buch „Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“ von Natalka Sniadanko, einer großartigen Autorin: Ein dynamisches Panorama einer Familie, das zeigt, wie sehr die Vergangenheit die Gegenwart prägt. Und das sind nur 2 Bücher von wirklich tollen ukrainischen Autorinnen und Autoren. Es fällt mir sehr schwer, mich an dieser Stelle zu beschränken.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="750575_image" /></div> <BR /><h3> Kommentierte Leseliste</h3><BR />Kateryna Babkina (1985)<BR />„Heute fahre ich nach Morgen“: Protagonistin des Romans ist die ukrainische Künstlerin Sonja, die in prekären Verhältnissen in der Westukraine lebt. <BR /><BR /><BR />Oleksandr Irwanez (1961)<BR />„Pralinen vom roten Stern“: Der Autor sieht prophetisch die Teilung seines Landes voraus.<BR /><BR /><BR />Andrej Kurkow (1961)<BR />„Kartografie der Freiheit“: Die Zeit des Kiewer „Euro-Majdan“ hautnah. <BR />„Ukrainisches Tagebuch“: Erschütternde und erhellende Tagebuchaufzeichnungen von wochenlange Demonstrationen auf dem Kiewer Majdan-Platz, die Eskalation der Gewalt, die Annexion der Krim durch Russland, die drohende Spaltung des Landes.<BR />„Die Welt des Herrn Bickford“: Skurril, skurriler, Sowjetunion: Willkommen in Absurdistan!<BR />„Die Kugel auf dem Weg zum Helden“: Ein Engel und eine Pistolenkugel auf der Suche nach dem Gerechten.<BR />„Der unbeugsame Papagei“: Pawel Dobrynin ist eigentlich ein bescheidener Zeitgenosse – und plötzlich ist er Volkskontrolleur auf Lebenszeit. <BR /><BR /><BR />Maria Matios (1959)<BR />„Mitternachtsblüte“: Die tragischen Geschehnisse in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs, erschütternd und erhellend erzählt von der bekanntesten ukrainischen Schriftstellerin. <BR />„Darina, die Süße“: Ein kleines Dorf im südlichen Grenzland der Ukraine: Dort lebt Darina scheinbar stumm und nicht ganz bei Verstand. Ihre aufrüttelnde Geschichte gewährt vielfältige Einblicke in ein Land, das vor großen Herausforderungen steht. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="750578_image" /></div> <BR /><BR /><BR />Natalka Sniadanko (1973) <BR />„Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde“: Ein totgeglaubter Erzherzog wird zur Schwarzmarktlegende, seine Enkelin steckt mitten in der Lebenskrise – und dich katapultieren wir ins 19. Jahrhundert und wieder zurück.<BR />„Sammlung der Leidenschaften“: Eine höchst amüsante Studie der ukrainischen Gesellschaft unter besonderer Berücksichtigung des männlichen Teils.<BR />„Frau Müller hat nicht die Absicht mehr zu bezahlen“: Die Geschichte zweier Frauen vor den aufregenden Kulissen Lembergs und Berlins.<BR /><BR /><BR />Oleksij Tschupa (1986)<BR />„Märchen aus meinem Luftschutzkeller“: In diesem Haus tanzen alle aus der Reihe – ein brütend heißer Juli im ostukrainischen Makijiwka.<BR /><BR /><BR />Jurij Wynnytschuk (1952)<BR />„Im Schatten der Mohnblume“: Ein Ukrainer, ein Deutscher, ein Pole, ein Jude. Die Heimat der vier jungen Freunde, das multikulturelle Lemberg der 1930er, ist ein bunter Ort voller bezaubernd kurioser Figuren.<BR /><BR /><BR />Serhij Zhadan (1974)<BR />„Laufen ohne anzuhalten“: Ein Ort in der Ostukraine, ein Tag im Leben eines jungen Mannes, eine folgenschwere Entscheidung: Er wird in den Krieg ziehen – doch wie nehmen Familie und Freunde diese Nachricht auf? (gro)<BR /><h3> 2 neue Romane über die Sinnlosigkeit des Krieges</h3><BR /><b>„In den Kriegen“: Innere und äußere Wunden</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="750581_image" /></div> <BR /><BR /><BR /> Als ihr Freund Andrij im Gefecht fällt, haben sie genug. Gemeinsam mit seiner Verlobten, die zur Witwe geworden ist, bevor sie heiraten konnte, brechen Jens, Iwo und Vitalij auf eine „Wallfahrt gegen den Krieg“ auf, ihr Ziel ist eine mythische Halbinsel, die unschwer als die Krim zu erkennen ist. In ihrem neuen Roman „In den Kriegen“ widmet sich Evelyn Schlag dem Ukraine-Konflikt, den sie aus der Innensicht junger Menschen beschreibt, die freiwillig auszogen, um zu kämpfen. Nach ihrem 2016 erschienenen Roman „Yemen Café“ seziert die österreichische Autorin erneut einen Konfliktherd und verknüpft die seltsame Reise der 4 „Wallfahrer“ mit der europäischen Vergangenheit: Jens und Iwo stammen aus Deutschland, von wo aus sie aufgebrochen sind, um an der Seite ukrainischer Nationalisten zu kämpfen. Doch für den Ich-Erzähler Jens ist es weit mehr als eine neue Aufgabe an der Waffe, nachdem er unehrenhaft aus der deutschen Bundeswehr entlassen wurde: Sein Urgroßvater war 1941 am Überfall der Deutschen auf das ukrainische Gebiet beteiligt; die Frage, in welche Verbrechen er involviert war, lässt Jens auf dem langen Fußmarsch durch leer gefegte Landstriche nicht los.<BR /><BR /><BR />Traumatisiert von den Kriegserfahrungen macht sich das zusammengewürfelte Quartett also auf, um andernorts neu anzufangen. Anstrengung und Hunger sowie Wetterextreme in den wechselnden Jahreszeiten lassen die Vier immer wieder in Halluzinationen abgleiten, die Evelyn Schlag mit starken sprachlichen Bildern zum Flirren bringt. Die Landschaft gibt als stummes Mahnmal Zeugnis der Verbrechen.<BR />Immer mehr verschwimmen im Laufe der 240 Seiten Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Vision. Mit „In den Kriegen“ hat Evelyn Schlag einen Roman geschrieben, der nicht zuletzt aufgrund der aktuellen Eskalation erschüttert. Schonungslos bildet sie ab, was der Krieg auch in den Köpfen der Menschen anrichtet, wie sehr die Vergangenheit in die Strukturen der Gegenwart hineinreicht und wie schnell man die Kontrolle über das verliert, was man einst Leben nannte. Am Ende übernimmt die flirrende Halluzination, wo die Vernunft sich keinen Reim mehr machen kann ...<BR /><BR /><BR />Evelyn Schlag: „In den Kriegen“, Hollitzer Verlag, 242 Seiten<BR /><BR /><BR /><BR /><b>„Zebra im Krieg“: Ein zweites Afghanistan</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="750584_image" /></div> <BR /><BR /><BR /> „Aus der Ferne sehen sie harmlos aus: Sterne, die um die Wette laufen, eine rasende Lichterkette, die das Firmament erhellt und die Welt zum Glitzern bringt.“ So beginnt der neue Roman von Vladimir Vertlib. Unweigerlich denkt man dabei an die Menschen in der Ukraine. Das Licht wird nämlich von Lärm begleitet, „ein Knurren und Heulen wie von aufgeschreckten Raubtieren“. So klingt Krieg. „Zebra im Krieg“ heißt das Buch, und nicht nur das Zebra weiß nicht, wie ihm geschieht.<BR />Das Buch spielt in einer namenlosen osteuropäischen Hafenstadt in der ehemaligen sowjetischen Einflusssphäre. „Vor den Kämpfen, bevor die Kontrahenten ihre Transparente, Fahnen und Megafone gegen automatische Waffen und Granatwerfer tauschten, hätte sie eine Perle des Tourismus werden können.“ Doch nun, nach Coronakrise und „erweiterter Polizeiaktion“, die nichts anderes ist als ein Bürgerkrieg zwischen Machthabern und Rebellen, ist die Stadt „verschissen und runtergespült“, wie die Bevölkerung konstatiert. Die Versorgungslage ist kritisch, die militärische Situation unübersichtlich. Nach Zerstörung des Zoos sind die Krokodile los, und das Zebra irrt durch die Straßen. Auch vor streunenden Vierbeinern muss man sich in Acht nehmen. Die Stadt geht ganz buchstäblich vor die Hunde. Wie soll man da mit seiner Familie einen ruhigen Schlaf finden?<BR /><BR /><BR />Paul Sarianidis, aufgrund der schweren Zerstörungen am Flughafen derzeit arbeitsloser Flugzeugingenieur, lebt zusammen mit seiner Mutter, seiner Frau, der im Krankenhaus Dauerschichten schiebenden Ärztin Flora, und der halbwüchsigen Tochter Lena in einer schönen Wohnung. Doch kaum hat die Rebellenarmee diesen Teil der Stadt erobert, läutet es an der Türe. Ein Kommando mehr nach Banditen als nach Soldaten aussehender Schwerbewaffneter holt Paul ab. Ein Albtraum beginnt.... <BR />Der Autor verbindet in seinem Roman 2 Dinge, die nur auf den ersten Blick kaum etwas miteinander zu tun haben: die immer wiederkehrenden Muster eskalierender Auseinandersetzungen, bei denen Gewalt und Hass, Lüge und Korruption ebenso Konstanten bleiben wie das Leid der Zivilbevölkerung, sowie die Sozialen Medien als Ort der Verfolgung und Erniedrigung. Der an sich friedliebende, unpolitische Paul erlebt mit Schrecken, wie es sich anfühlen kann, wenn sich digitale Hassbotschaften analog materialisieren. Und wie übel einem mitgespielt werden kann, wenn man nicht nur für seine Netzaktivitäten zur Verantwortung gezogen, sondern gleich auch zum Objekt digitaler Kriegsführung gemacht wird. Während die Zweit-Existenz des friedlichen Familienvaters als bösartiger Internet-Hassposter nicht ganz glaubwürdig wird, gelingen Vertlib beklemmende, atmosphärische Bilder einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Angst und Leid des Kriegs werden in den unterschiedlichsten Familienkonstellationen Pauls mit seiner Frau, seiner Mutter und seiner Tochter beklemmend und nachvollziehbar dargestellt. Hauptleidtragende sind immer die Zivilsten, denen es bald an allem mangelt: Trinkwasser, Strom, Nahrung, Sicherheit und Selbstwertgefühl. Nur eine Gruppe ahnt, dass es für sie noch schlimmer kommen wird. Die alten jüdischen Nachbarn von Pauls Familie wissen genau, was sie erwartet. Denn das war noch in jedem Krieg so.<BR /><BR /><BR />Vladimir Vertlib: „Zebra im Krieg“, Residenz Verlag, 288 Seiten<BR /><BR /><BR />Bestellen: www.athesiabuch.it<BR /><BR />