Am Ende der Schlacht um Stalingrad führte der Weg für 107.800 deutsche Offiziere und Soldaten in die sowjetische Kriegsgefangenschaft. Gerade diese Männer fanden sich zum Zeitpunkt ihrer Inhaftierung in einem denkbar schlechten Zustand. Was sie damals erlebt haben, erzählen16 Zeitzeugen im Buch „Südtiroler hinter Stalins Stacheldraht. Kriegsgefangenschaft in Russland 1943-1954“ von Sabine Peer. Hier kommen einige zu Wort. Heute lebt nur mehr einer, er ist 102 Jahre alt.<BR /><BR />Fast alle Kriegsgefangene waren völlig unterernährt, viele hatten Erfrierungen und Verwundungen, und da die deutsche Luftwaffe viele Bahnhöfe im sowjetischen Hinterland zerstört hatte, mussten sie große Strecken zu Fuß zurücklegen. Für viele der ausgemergelten Männer eine Tortur. Schlechte hygienische Zustände führten zu Ungezieferplagen, Krankheiten und Epidemien: Fleckfieber, Ruhr, Typhus, Diphtherie. Die russische Gewahrsamsmacht sah sich dem Massensterben aufgrund der eigenen schlechten Versorgungslage hilflos ausgeliefert.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="859865_image" /></div> <BR /><BR /><i>„Die Überlebenden aus dem Kessel von Stalingrad, die waren in so einer schlechten Verfassung, die haben dem Hunger und den Strapazen der Arbeit einfach nicht mehr standgehalten. Täglich sind zwischen 20 und 30 Gefangene gestorben. Von den anfänglichen 9000 im März 1943 waren wir im Frühjahr 1944 nur mehr 4000.“</i><BR /><b>Johann Brugger</b><BR /><BR /><BR />Der Weg der Gefangenen, die als Soldaten im Zweiten Weltkrieg gegen die Rote Armee gekämpft hatten, führte in ein Land, das wie kein anderes im Krieg von den deutschen Streitkräften zerstört worden war. Man befürchtete das Schlimmste von einer Gefangenschaft in den Lagern der Sowjetunion.<BR /><BR /><BR /><i>„Einfach so erschossen haben die Russen keinen von uns nach der Gefangennahme, und da waren sogar Deutsche, die die Russen darum anflehten, sie zu erschießen, so sehr konnten sie sich nicht damit abfinden, dass sie in russische Gefangenschaft geraten waren.“</i><BR /><b>Johann Brugger</b><BR /><BR /><BR />Mitverantwortlich für die tiefgreifende Furcht der Soldaten vor einer sowjetischen Gefangenschaft war auch die bewusst geschürte Angst des deutschen Propagandaministeriums vor dem sowjetischen Feind. Mit Schreckensbildern der drohenden Vernichtung durch den „jüdischen Bolschewismus“ hielt man die Angst unter den Soldaten aufrecht, um deren Widerstandswillen zu stärken.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="859868_image" /></div> <BR /><BR /><i>„Durch die Propaganda wurden Gräuelmärchen über die Behandlung der deutschen Soldaten bei den Russen verbreitet. So hatten wir natürlich Angst vor einer Gefangennahme. Umbringen sollten wir uns, hieß da ein Befehl, da wir ja Deutsche waren, und als Deutsche konnte man sich nicht den Russen ergeben. Dass ich diesen Befehl nicht befolgt habe, verdanke ich einem Kameraden, der zu mir sagte: 'Wir haben uns das Leben nicht selbst gegeben, und wir werden es uns auch nicht selbst nehmen'“.</i><BR /><b>Alois Obkircher</b><BR /><h3> Südtiroler Wehrpflichtige</h3><BR />Bis Anfang 1943 hatten sich etwa 16.500 Südtiroler freiwillig zur Deutschen Wehrmacht gemeldet, meist in den Jahren 1940/41. Mehr als 13.000 von ihnen waren auch tatsächlich in die Wehrmacht oder Waffen-SS eingerückt. Nach der ersten Begeisterungswelle über die militärischen Erfolge des Dritten Reiches begannen seit 1941 der Kriegsverlauf und die vermehrt eintreffenden Gefallenenmeldungen die Stimmung in Südtirol langsam zu verändern. <BR /><BR /><BR />Seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, am 22. Juni 1941, wurden zudem die Einberufungsbestimmungen immer härter. Im August 1941 erreichte eine deutsche Verhandlungsdelegation in Rom, dass nun ebenso alle noch in Südtirol lebenden wehrdienstpflichtigen Optanten regulär zur Wehrmacht einberufen werden konnten. Für die Einberufung zur Waffen-SS bedurfte es aber nach wie vor der freiwilligen Meldung. <I>„Für eine solche aber</I>“, stellte SS-Gruppenführer <b>Ulrich Greifelt,</b> Himmlers rechte Hand in allen Südtiroler Umsiedlungsfragen, fest, „<i>ist der Tiroler nicht leicht zu gewinnen. Er wartet vielmehr auf den Befehl der Gestellung, auf die Einziehung. Dann ist er ein guter und kämpferischer Soldat.“</i> Im Laufe des Jahres 1942 rückten 3500 Südtiroler Wehrpflichtige ein.<h3> Gefangenschaft in Russland</h3>Die Sowjets hatten die deutschen Gefangengen, die ihnen im Zweiten Weltkrieg in die Hände fielen, auf zirka 4000 Lager in der Sowjetunion verteilt. Dieses Lagersystem wurde durch den Archipel GUPVI (Glavnoe upravlenie po delam voennoplennych i internirovannych = Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten) verwaltet. Die Lagerkette reichte vom Polarkreis bis in den tiefen Süden der Sowjetunion, von der Ukraine bis nach Sibirien.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="859871_image" /></div> <BR /><BR /><i>„Als unsere Division am 11. Dezember 1943 im Mittelabschnitt von den Russen eingekesselt wurde, da hat man zu uns gesagt: 'Vse kaputt, vse kaputt', also, wir werden alle erschossen, und da kam so ein junger Dolmetscher in Offiziersuniform daher, der hat gesagt: 'Nix kaputt, nach Moskau, dort arbeiten, wenn Krieg fertig, dann nach Hause'“.</i><BR /><b>Anton Planötscher</b><BR /><BR /><BR />Dass die Kriegsgefangenen ihr Arbeitspotential der Sowjetunion zur Verfügung stellen sollten, wurde bereits 8 Tage nach Beginn des „Großen Vaterländischen Krieges“, am 1. Juli 1941, durch den Rat der Volkskommissare mit dem Erlass über Kriegsgefangene, der „Verordnung Nr. 1798-800s“ gesetzlich festgelegt.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="859874_image" /></div> <BR /><i>„Bei der Gefangennahme im August 1944 waren wir etwa 14 Mann, darunter 3 Südtiroler in einem Stall drinnen. Eine Granate schlug ein. Da hörten wir schon die Russen im oberen Stock, wir bekamen natürlich Angst. Die Russen holten uns heraus und ließen uns aufstellen. Wir sagten ständig: 'Nicht schießen, nicht schießen!' Da kam einer gelaufen, der hat gesagt: 'Ne nado, die sollen nach Russland reingehen und das wieder aufbauen, was sie kaputt gemacht haben.“</i><BR /><b>Peter Rabensteiner</b><BR /><BR /><BR />Die gefangenen Soldaten standen alle vor der gleichen Aufgabe: zu überleben in den Lagern des Archipel GUPVI. Jeder dritte deutsche Gefangene in Russland starb an den Folgen der Gefangenschaft. Von lebensentscheidender Bedeutung war die Zeit, zu der man in Gefangenschaft geraten war. Aufgrund der äußeren Bedingungen unterteilt man die Zeit der russischen Kriegsgefangenschaft in 3 Perioden.<h3> Erste Periode: 1941 bis 1945/46</h3>Diese erste Phase war die schwerste und entbehrungsreichste Zeit der sowjetischen Kriegsgefangenschaft. Geprägt durch den noch tobenden Krieg war die Behandlung der Kriegsgefangenen bis zum 9. Mai 1945 viel roher und brutaler.<h3> Zweite Periode: 1946/47 bis 1949</h3>Diese Phase kennzeichnen Spitzeldienst und Verhöre. Dicht an dicht waren die Lager und Baracken mit Spionen aus den eigenen Reihen durchsetzt. Im Zuge der Entnazifizierung, die nach 1945 in den Lagern einsetzte, bereitete die Gewahrsamsmacht die Kriegsverbrecherprozesse vor. Die Bespitzelung stellte laut Wissenschaftlicher Kommission der Deutschen Bundesregierung neben Hunger und schwerer Arbeit die stärkste seelische Belastung für die Gefangenen dar.<h3> Dritte Periode: 1950 bis 1956</h3>Nach 1950 befanden sich in den sowjetischen Lagern nur noch jene Gefangenen, denen man den Status des Kriegsgefangenen entzogen hatte. In Fünf-Minuten-Prozessen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, galten sie als „kriegsgefangene Kriegsverbrecher“. Die äußeren Lebensbedingungen in den Lagern hatten sich zunehmend normalisiert. Massensterben, Bespitzelung und Hunger waren kein Thema mehr. Heimweh und das Bewusstsein der eigenen ausweglosen Situation nahmen überhand.<h3> Berge von Leichen in der ersten Periode</h3>Begleitet vom permanenten Hunger, gab es in der ersten Periode noch nicht einmal die geringsten Voraussetzungen für einen halbwegs normalen Alltag in den Lagern. Baracken mussten errichtet werden, die hygienischen Einrichtungen waren katastrophal, Bekleidung und Schuhwerk der Gefangenen vollkommen unzulänglich und die medizinische Versorgung wurde in keinster Weise den Anforderungen gerecht. <BR /><BR /><i>„1943, da haben die Russen ein paar von uns, die noch halbwegs in der Verfassung waren, in den Wald hinausgejagt, dort wurde alles eingezäunt, und wir mussten Erdbunker für je zehn Mann ausheben. Den ersten Winter verbrachten wir dort. Geschlafen haben wir auf dem blanken Boden, nur unseren Wehrmachtsmantel hatten wir, um uns zu wärmen. Diese katastrophalen Bedingungen waren natürlich auch ausschlaggebend dafür, dass so viele gerade in dieser ersten Zeit zugrunde gingen.“</i><BR /><b>Johann Brugger</b><BR /><BR /><BR />Berge von Leichen gab es fast ausschließlich in dieser ersten Phase der Gefangenschaft. Leute verstarben an Hunger, an Erschöpfung, an Kälte, an Krankheit. Die russische Lagerverwaltung stand dem Massensterben aus Mangel an Medikamenten hilflos gegenüber.<BR /><BR /><i>„Im Winter 1943 nach der Gefangennahme gab es die ersten sechs Tage überhaupt keine Verpflegung. Gegen den Durst haben wir Schnee gegessen. Fast alle sind wir an Ruhr erkrankt. Die, die am schlimmsten dran waren, wurden in ein Lazarett gebracht, das hat man uns zumindest gesagt. Ein paar Tage später hat der Posten ein paar von uns genommen und wir sind ein Stück aus dem Lager hinausmarschiert, bis der Posten vor einem Erdbunker haltmachte, uns deutete, wir sollten in den Bunker gehen, und sagte: 'Kamerad kaputt, raus! Kamerad noch leben, drin lassen!' Jetzt sind wir hinein, einer konnte noch sprechen: 'Kamerad, Wasser! Bitte, Wasser!', wir hatten ja kein Wasser. 'Bitte, dann wenigstens Schnee.' Das waren jene Ruhrkranken, die man für den Transport ins Lazarett zusammengestellt hatte.“</i><BR /><b>Anton Planötscher</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="859877_image" /></div> <BR /><BR /><i>„Von 1943 bis 1948 war ich in einem Lager im Ural untergebracht. Das Lager selbst fasste an die tausend Gefangene. Zudem gehörten noch elf Waldlager für jeweils hundert Gefangene zu diesem Hauptlager. Ich bin schließlich auf ein Gewicht von 56 Kilogramm gekommen, bei einer Körpergröße von 1,94 Meter. Ohne Fettgewebe und Muskeln waren die Knochen nur mehr von der Haut überzogen. Die Reibung der Knochen auf den Holzblöcken war sehr schmerzhaft. Die Narben auf meinem Körper sind mir von der Gefangenschaft geblieben.“</i><BR /><b>Robert Bauhofer</b><BR /><h3> Zur Autorin</h3><BR /><div class="img-embed"><embed id="859880_image" /></div> <BR /><b>Sabine Peer</b>, Dr.in phil., die Autorin des Buches „Südtiroler hinter Stalins Stacheldraht. Kriegsgefangenschaft in Russland 1943-1954“, absolvierte ihr Studium der Slawistik/ Russisch an der Universität Wien. Idee und Drehbuch zum Film „Man hat es überlebt“, Südtiroler Kriegsgefangenschaft in Russland während und nach dem Zweiten Weltkrieg (produziert von Telefilm im Auftrag der RAI Südtirol) ging der Buchveröffentlichung voraus. 2022 ist ihr Buch „Dienstmädel in Bella Italia. Südtirolerinnen erzählen“ im Athesia-Verlag erschienen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="859883_image" /></div> <BR /><BR /><Fett>Buchtipp:</Fett><BR />Sabine Peer, „Südtiroler hinter Stalins Stacheldraht. Kriegsgefangenschaft in Russland 1943-1954“, Athesia Verlag 2018, 3. Auflage, 204 Seiten.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />