Wenn allgemein die Gleichung Barockmusik = Vivaldi Gültigkeit hat, so scheint diejenige Vivaldi = Vier Jahreszeiten nahezu unschlagbar zu sein. 1983 lagen bereits 117 Schallplatteneinspielungen vor; heute sind es mehr als 200.<BR /><BR /><BR /><b>Die vier Jahreszeiten, aus Il cimento dell’armonia e dell’invenzione, op. 8 Nr. 1-4</b><BR /><BR /><BR />Es mag paradox erscheinen, dass angesichts einer derartig umfassenden Popularität die gesicherten Tatsachen über die Vier Jahreszeiten eher spärlich sind (so kennt man beispielsweise nicht einmal das genaue Datum ihrer Entstehung). Antonio Vivaldi publizierte zu Lebzeiten nur einen geringen Teil seiner enorm umfangreichen Produktion, die hauptsächlich aus Konzerten, Sonaten, Opern und Kirchenmusik besteht. <BR /><BR />Die wenigen Druckausgaben bestanden jeweils aus einem Dutzend (oder einem halben Dutzend) gleichartiger Werke, also etwa aus 6 Konzerten oder 12 Sonaten, die nach barockem Brauch mit blumigen Titeln wie „L’estro armonico“ (op. 3), „La stravaganza“ (op. 4) oder „La cetra“ (op. 9) versehen wurden. Das Opus 8 ist im Erstdruck mit „Il Cimento dell’Armonia e dell’Inventione“ betitelt (was etwa mit „Das Wagnis der Harmonie und der Erfindung“ wiedergegeben werden könnte) und erschien <b>1725</b> in Amsterdam bei <b>Michel-Charles Le Cène.</b><BR /><BR /> Die ersten 4 dieser 12 Violinkonzerte bilden einen „Die vier Jahreszeiten“ überschriebenen Zyklus, dem 4 Sonette eines unbekannten Autors zugeordnet wurden, die verschiedene Aspekte des Verhältnisses des Menschen zur Natur erhellen. Die einzelnen Sätze der 4 Konzerte entsprechen einigen der in den Sonetten beschriebenen Ereignissen bzw. Verhaltensweisen, ohne ihnen allerdings sklavisch zu folgen. Es handelt sich mithin um eine Vorform der Programmmusik, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts – bei <b>Berlioz, Liszt, Richard Strauss</b> – gar zu einer veritablen Alternative zur sogenannten absoluten Musik, der Musik ohne außermusikalischen Inhalt, aufschwingen sollte.<BR /><BR /><BR /><b>Primavera</b><BR /><BR /><BR />Das Allegro des ersten Konzerts, „La Primavera“, in E-Dur, bezieht sich auf die ersten 4 Verse des ersten Sonetts („Der Frühling ist gekommen, in festlicher Freude grüßen ihn die Vögel mit fröhlichem Gesange, und die Quellen fließen in süßem Gemurmel zum Hauche der Zephirwinde“), doch sind die charakteristischeren Momente wohl das Largo e pianissimo sempre („Und dann schläft auf der blumengeschmückten lieblichen Wiese beim zarten Rascheln des Laubes und der Pflanzen der Ziegenhirte mit seinem treuen Hund zur Seite“) und das abschließende Siciliano (Tanz der Nymphen und Schäfer). <BR /><BR /><b>Estate</b><BR /><BR /><BR />L’Estate (g-Moll) wird von einem Allegro non molto eröffnet („In der harten Jahreszeit der sengenden Sonne schmachtet der Mensch, schmachtet die Herde, brennt die Pinie“), dem ein zwischen Ruhe und Aufregung pendelnder Mittelsatz („Den müden Gliedern nimmt all ihre Ruhe die Furcht vor den Blitzen“) und ein im wahrsten Sinne des Wortes fulminantes Finale nachfolgen („Der Himmel donnert und blitzt“) – ein Presto, dessen außermusikalische Inhalte der vivaldischen Vorliebe für schnelle Tonrepetitionen und virtuos gestrichene Skalen vollkommen entsprechen.<BR /><BR /><b>Autunno</b><b>und Inverno</b><BR /><BR /><BR />L’Autunno wird wiederum in hellen Farben gezeichnet (F-Dur: „Die Bauern feiern mit Tänzen und Liedern das Vergnügen der glücklichen Ernte“; schlafende Betrunkene; die Jagd), da die Natur hier wie im Frühling als den Menschen wohlgesonnen angesehen wird, wohingegen im „bösen“ Winter (L’Inverno, f-Moll) das Allegro des ersten Satzes dem „Erstarrten Zittern“, dem „schrecklichen Wind“, dem „Zähneklappern“ entspricht; das kontemplative Largo beschreibt „Ruhige und zufriedene Tage am Kamin“, das abschließende Allegro das „Eislaufen“, „langsam und aufmerksam, aus Angst zu stürzen“, was mit ganz kurzen, gewissermaßen zögerlichen Formeln angedeutet wird, während die „kämpfenden Winde“ das Konzert mit äußerst schnell vorzutragenden absteigenden Skalen beschließen, die dem Komponisten Vivaldi der Virtuose diktiert haben mag, zur Freude des Publikums.<BR /><BR /><BR /><b>Vita</b><BR /><BR /><BR /><b>Marco Mandolini</b>, 1968 in Montréal (Kanada) geboren, studierte am Conservatoire de musique seiner Heimatstadt bei Raymond Dessaints und Johanne Arel, wo er 1990 sein Diplom mit Auszeichnung in den Fächern Violine und Kammermusik erwarb. Er gewann diverse nationale Wettbewerbe und erhielt staatliche Stipendien in Kanada und in den Niederlanden. <BR /><BR />Sein Studium setzte er in Utrecht bei Philippe Hirschhorn, an der Mozart-Akademie in Prag und an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien bei Günter Pichler fort; Meisterkurse besuchte er bei Boris Belkin an der Accademia Chigiana in Siena, bei Viktor Liberman, Gerhard Schulz und dem Alban Berg Quartett. <BR /><BR />Mandolini war Mitglied des European Community Chamber Orchestra und des Wiener Kammerorchesters. Als erster Geiger und Konzertmeister trat er u.a. er mit folgenden Orchestern auf: Orchestra des Teatro alla Scala, Filarmonica della Scala, Festival Orchestra del Maggio Musicale Fiorentino, Orchestra del Teatro di San Carlo di Napoli, Orchestra del Teatro Comunale di Bologna, Orchestra del Teatro La Fenice di Venezia, Orchestra del Teatro Lirico di Cagliari, Tiroler Symphonieorchester Innsbruck, Orquésta Filarmónica de Gran Canaria. <BR /><BR />Er spielte unter Dirigenten wie Riccardo Chailly, Daniele Gatti, Valery Gergiev, Fabio Luisi, Daniel Ohren, Peter Ötvös, Dennis Russell Davies, Maxim Vengerov. Seit 1997 ist er Konzertmeister des Haydn Orchesters, mit dem er zahlreiche Male auch als Solist auftrat.<BR />