„Wie unheimlich kann uns die Heimat werden? Welche Mechanismen begünstigen die Radikalisierung eines Menschen? Und wie viel Feind sind wir uns selbst?“ Es sind beißende Fragen, die der Librettist Martin Plattner und die Südtiroler Komponistin Manuela Kerer in der Oper „Toteis“ dem Publikum entgegenhalten.<BR /><b><BR /><BR /><BR />Am 13. März 2020 hätte die Oper „Toteis“ uraufgeführt werden sollen. Dann kam Corona. Jetzt endlich ist es soweit, am Mittwoch, 16. März, feiert sie Premiere in Bozen. Wie fühlen Sie sich nach dieser langen Zeit des Wartens?</b><BR />Manuela Kerer: Ich bin wahnsinnig froh, dass wir „Toteis“ endlich in Bozen spielen können. „Zu Hause“ mit einem so großen Projekt aufgeführt zu werden ist ein unglaubliches Gefühl. Außerdem werden wir in der großen Fassung auftreten, also mit großem Symphonieorchester, was aufgrund der Hygiene- und Abstandsbestimmungen nicht selbstverständlich ist. Alle Musiker und Musikerinnen sind hoch motiviert, auch wenn wir immer wieder von tagespolitischen Ereignissen geschockt sind und ständig über die Aktualität der Oper reden, die mich natürlich traurig macht.<BR /><BR /><BR /><b>Zwischen einem Lockdown und dem nächsten wurde ihr Uraufführungsprojekt schon Mitte September 2020 in der Neuen Oper Wien mit großem Erfolg gezeigt. Haben Sie nun nach 2 Jahren an Ihrem Werk bzw. an der Aufführung für Bozen etwas abgeändert?</b><BR />Kerer: Die Aufführungen in Wien hatten eine unglaublich gute Resonanz. Ich hatte im Verlauf der Proben zu diesen Aufführungen ein paar kleinere Änderungen eingebaut, beispielsweise zur Unterstützung der Sänger und Sängerinnen. Danach habe ich aber nichts mehr geändert. In Wien haben wir in reduzierter Fassung gespielt, in Bozen wird zum ersten Mal weltweit die volle Orchesterfassung der Oper zu hören sein.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="747068_image" /></div> <BR /><BR /><b>„Wie soll ich Ruhe finden im Lebenslärm der Zeit?“ Anmutende, textliche Klangfarben schwingen zwischen den Zeilen im Libretto vom Tiroler Autor und Gewinner der Bozner Autorentage 2015, Martin Plattner, und erhalten angesichts der derzeitigen Weltlage eine neue Bedeutung…</b><BR />Kerer: Martin Plattner hat mit diesem Libretto eine so starke Arbeit geliefert, dass ich nach wie vor Gänsehaut bekomme, wenn ich seine Worte lese. Tatsächlich ist der Text hochaktuell, wir erleben derzeit einen Krieg, den ich nicht für möglich gehalten hätte. Es ist eine Tragödie, die leider zeigt, wie zeitlos „Toteis“ ist.<BR /><BR /><BR /><b>Die Oper, eine Auftragsarbeit der Stiftung Haydn von Bozen und Trient mit der Neuen Oper Wien und den Vereinigten Bühnen Bozen, arbeitet sich an der Geschichte von Viktoria Savs ab. Geboren 1899 in Meran wächst Viktoria bei ihrem Vater auf und dient, der Legende nach als Viktor getarnt an der Dolomitenfront, bis sie im Kampf ein Bein verliert und ihr Schwindel auffliegt. Das wirkt heute auf einmal gar nicht mehr so absurd, denn im Ukraine Krieg sind Frauen als Freiwillige ebenfalls verwickelt. Was treibt Ihre Figur an, im Kampf mitzumachen?</b><BR />Kerer: Viktoria Savs trifft zu Beginn der Oper bei einem Veteranentreffen ein, wo sie als Heldin gefeiert werden soll. Im Verlauf dessen erlebt sie eine Art „Flashback“ und findet sich auf dem Schlachtfeld wieder, wo sie auf ihr jüngeres Ich trifft. Viktoria ist extrem von ihren Überzeugungen getrieben. Man spürt, dass sie ultranationalistisches und patriotisches Gedankengut verinnerlicht und danach gelebt hat, sie wollte Teil einer Männerwelt sein und war wie besessen von Männerbünden. Besonders schlimm finde ich, dass sie sich bis zu ihrem Lebensende nicht geläutert oder irgendwie Zweifel an ihren Gesinnungen aufkommen hat lassen. Im Gegenteil: Sie trat auch nach den Weltkriegen mit all ihren Orden auf. Das ist schwer zu verdauen.<BR /><BR /><BR /><b>Später weiß auch die NS-Propaganda die Geschichte von Viktoria Savs erfolgreich zu instrumentalisieren. Wie war Ihre künstlerische Herangehensweise an diesen sensiblen Stoff?</b><BR />Kerer: Es war unglaublich schwer für mich, eine Oper über eine Figur zu schreiben, die mir unsympathisch ist und in die ich mich nicht versetzen kann. Die zu einer NS-Propaganda-Ikone wurde und sich nicht nur nicht gewehrt, sondern in diesem Bild gesuhlt hat. Ich habe das so gelöst, dass ich mich an anderen Figuren wie die Kellnerin Karola gehalten habe, die Empathie zeigt und mir Hoffnung gibt. <BR />Denn in meiner Musik siegt eindeutig der Optimismus. Deshalb habe ich für mich wunderschöne Klänge eingebaut: Luftgeräusche der Bläser, Kratzgeräusche der Streicher und es erklingt eine E-Zither. Außerdem zieht subtil und wie ein Schatten ein langsamer Jodler meines Urgroßvaters Jepele Frontull durch die Partitur, sowie das Kinderlied „Maikäfer flieg“. Wir kennen es als „Schlaf Kindlein schlaf“ und es ist ein sehr altes Lied, das aber besonders im ersten Weltkrieg gesungen wurde. Insgesamt muss ich aber sagen, dass mich einige Stellen wirklich sehr viel an Energie gekostet haben, es war eine schwere Auseinandersetzung. In dieser Schwere steckt aber auch etwas Befreiendes, wenn man reflektiert.<BR /><BR /><BR /><b>„Toteis erzählt nicht nur von einer biografischen Überhöhung Viktoria Savs', sondern von Mitläufertum und passiver Mitschuld an der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts,“ sagt Matthias Lošek, Künstlerischer Leiter des Opernfestivals der Stiftung Haydn, zu Ihrer Oper. Ein brandaktuelles Thema also, das nun im richtigeren Zeitpunkt aufgeführt wird, wie es scheint…</b><BR />Kerer: Tatsächlich sind wir leider so aktuell, wie wir es nie gewollt hätten. Andererseits haben sich gewisse Entwicklungen seit Jahren abgezeichnet: Populismus, Nationalismus, Egoismus und viele tot geglaubten Ideologien wurden plötzlich wieder salonfähig. Natürlich hätte sich 2015, als wir mit der Konzeption von „Toteis“ begonnen haben, niemand (alb)träumen lassen, dass wir nun einen Krieg vor unserer Haustür haben, dass die Gefahr eines Krieges bei uns überhaupt real und greifbar ist. Andererseits zeigt dies für mich, was Kunst und Kultur können und sollen: Ein Spiegel der Gesellschaft sein.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="747071_image" /></div> <BR /><BR /><b>Die Abgründe eines „Ichs“ – Toteis, ein bitterböses „Heldenmärchen“</b><BR /><BR /><BR />„Wie unheimlich kann uns die Heimat werden? Welche Mechanismen begünstigen die Radikalisierung eines Menschen? Und wie viel Feind sind wir uns selbst?“ Es sind beißende Fragen, die der Librettist Martin Plattner und die Südtiroler Komponistin Manuela Kerer in der Oper Toteis dem Publikum entgegenhalten. Das Opernfestival 2022 „Larger Than Life“ der Stiftung Haydn bringt mit dem Auftragswerk ein bitterböses Heldenmärchen auf die Bühne. Nach der Erstaufführung in Wien in einer reduzierten Version ist die Oper am <b>Mittwoch, 16. und Donnerstag, 17. März im Stadttheater Bozen (20 Uhr)</b> erstmals in ihrer Originalfassung zu sehen. Ausgehend von der historischen Figur Viktoria Savs zeigt Toteis, wie sich selbstbetrügerischer Nationalismus und Hass im 20. Jahrhundert breit machen konnten und schlägt immer wieder beklemmende Brücken in die Gegenwart. <BR /><BR /><BR /><b>Eine Koproduktion</b><BR /><BR /><BR />Vor den 2 Aufführungen findet im Foyer des Stadttheaters um <b>19 Uhr</b> eine Werkeinführung statt, bei der Manuela Kerer, Mirella Weingarten und Walter Kobéra über die künstlerische Herangehensweise an den sensiblen Stoff sprechen.<BR /><BR /><BR />Viktoria Savs, geboren 1899 wuchs in Meran bei ihrem Vater auf. Im 1. Weltkrieg kämpfte sie in Männerkleidung an der Seite der Österreicher an der Dolomitenfront. 1917 verlor sie aus heute unbekannten Gründen ein Bein. Daraufhin wurde sie als „Heldenmädchen von den drei Zinnen“ gefeiert. Im Nationalsozialismus rühmte man ihren Einsatz für das Vaterland und verlieh ihr die Kriegsverdienstmedaille und die Tapferkeitsmedaille. Sie trat der NSDAP bei und wurde für die Nazi-Propaganda instrumentalisiert. Bis zu ihrem Tod hielt sie am Mythos der tapferen Soldatin fest und besuchte Veteranentreffen. Der Operntitel Toteis bezeichnet jenes Gletschereis, das sich vom aktiven Gletscher losgelöst hat. Eine Anspielung an Viktoria Savs abgetrenntes Bein aber auch an ihre tot geglaubte Gesinnung.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="747074_image" /></div> <BR /><BR />In <b>Martin Plattners</b> und <b>Manuela Kerers</b> Interpretation wird Savs Lebensgeschichte zum Prototyp für das „Gespenstische“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das auf perfide Weise wiederkehrt. „Im Libretto versuche ich, Fragen aufzuwerfen, Bruchlinien aufzuzeigen und das größte Gespenst von allen – die Abgründe eines Ichs – auszuloten“, erklärt Martin Plattner. „Damals wie heute laufen Menschen Gefahr, sich in abscheulichen Ideen zu verlieren und nicht mehr aus diesen herauszufinden.“ Die vielen Gesichter, das Unfassbare dieser Figur und die Farben ihres Charakters inspirierten Manuela Kerer zu Klangfarben, die – wie Viktoria selbst – oft zwischen den Zeilen schwingen. „Mit Blick auf Viktoria will ich auch das Heute hinterfragen, herausarbeiten, was auf den ersten Blick vielleicht nicht verurteilenswert erscheint, aber fatale Entwicklungen mit sich zieht. Denn wie viel ist gerade jetzt politisch wieder möglich, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre“, sagt die Komponistin.<BR /><BR /><BR />Ursprünglich für März 2020 geplant und im September 2020 in einer reduzierten Instrumentalfassung in Wien aufgeführt, wird „Toteis“ in Bozen erstmals in seiner originalen Version zu sehen sein. <BR /><BR /><BR /><b>Darsteller</b><BR /><BR />Isabel Seebacher (Viktoria), Verena Gunz (Karola, Vikerl), Alexander Kaimbacher (Luis, Peter), Bernhard Landauer (Hansl, Charlotte), Klemens Sander (Eugen), Christian Balzamà, Martina Lazzari, Sarah Merler, Matteo Sala (Kameraden)<BR /><BR />Haydn Orchester von Bozen und Trient unter der Leitung von Walter Kobéra.<BR /><BR />Regie und Bühnenbild Mirella Weingarten – Kostüme Julia Müer<BR />Lichtdesign Norbert Chmel – Klangregie Christina Bauer – Choreografie Christian Balzamà – Chor Wiener Kammerchor – Chorleitung Bernhard Jaretz – Koproduktion Fondazione Haydn Stiftung, Neue Oper Wien, Vereinigte Bühnen Bozen.<BR /><BR /><BR /><b>Vita</b><b>e</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="747077_image" /></div> <BR /><BR /><b>Manuela Kerer</b>, in Brixen geboren, studierte Komposition in Innsbruck und bei Alessandro Solbiati in Mailand. Sie hat bereits für das Solistenensemble Kaleidoskop in Berlin, das Klangforum Wien, „die reihe“, die Bayerische Kammerphilharmonie, die Münchener Biennale und Wien Modern sowie für Musiker wie Julius Berger und Sarah Maria Sun komponiert. Ihre Werke wurden im Konzerthaus in Berlin und Wien, auf dem Kampnagel in Hamburg, der Accademia Filarmonica Romana und der ACF in New York aufgeführt. <BR /><BR />Kerer erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Walther-von-der-Vogelweide Preis (2009), den SKE-Publikumspreis (2011) und das Österreichische Kompositionsstipendium (2008, 2011, 2016). Im Jahr 2009 wurde sie vom Ausschuss der Europaregionen zu einem von europaweit 100 young creative talents gewählt. 2012/2013 wurde Kerer vom österreichischen Außenministerium für das Programm „New Austrian Sound of Music“ ausgewählt. 2015 erhielt sie das internationale Stipendium „Composer in Residence – Komponistinnen in Frankfurt“. 2016 war sie Composer in Residence bei den Festspielen St. Gallen / Steiermark, 2019 bei der Schlossmediale Werdenberg und beim Festival „Leicht über Linz“. Manuela Kerer promovierte auch in den Fächern Jura und Psychologie.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="747080_image" /></div> <BR /><BR /><b>Martin Plattner,</b> geboren 1975 in Zams, aufgewachsen in Wenns im Pitztal, lebt als freier Schriftsteller in Wien und Innsbruck. Studium der Komparatistik an der Universität Innsbruck. Zwischen 2002 und 2010 Hospitanzen, Regie- sowie Kostümassistenzen und Tätigkeit als Dramaturg in der freien Szene (Wien, Niederösterreich, Schweiz). Seit 2003 schreibt er Theatertexte, die u.a. am Landestheater Linz, am Landestheater Innsbruck, an den Vereinigten Bühnen Bozen, am brut im Künstlerhaus in Wien und im Laboratorio Arte Alameda in Mexiko-Stadt gezeigt wurden. Für seine Arbeit wurde Plattner mehrfach ausgezeichnet.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="747083_image" /></div> <BR /><BR /><b>Walter Kobéra</b> ist seit 1991 musikalischer Leiter der Neuen Oper Wien und seit 2003 auch deren Intendant. Von 1978 bis 2002 war er Mitglied des Tonkünstler-Orchesters, 1986 gründete Kobéra das Amdeus Ensemble-Wien, das sich in den letzten Jahren besonders auf das zeitgenössische Musiktheater spezialisiert hat. 2006 fand mit der Uraufführung von Radek von Richard Dünser die erste Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen statt, weitere folgten. Unter Kobéras Leitung spielten bereits zahlreiche Orchester, darunter das Bruckner Orchester Linz, das slowakische Rundfunkorchester Bratislava und das Baltic Philarmonic. <BR /><BR />Von Presse und Publikum umjubelt waren seine Interpretationen u. a. von Alban Bergs Lulu, Brittens Billy Budd, Lachenmanns Das Mädchen mit den Schwefelhölzern und die ihm gewidmete Oper PARADISE RELOADED (Lilith) von Peter Eötvös. 2013 feierte er sein Debüt an der Kölner Oper, 2016 am Teatro Cólon in Buenos Aires und am Teatro dell’Opera in Rom. 2017 dirigierte er erstmals in Madrid. 2014 wurde unter Kobéras musikalischer Leitung die Oper Biedermann und die Brandstifter von Šimon Voseek in Bozen aufgeführt. Im Rahmen der Opernsaison der Stiftung Haydn dirigierte er 2016 in Trient die Oper Die Nase von Dmitrij Šostakovic.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="747086_image" /></div> <BR /><BR /><b>Mirella Weingarten</b> studierte Bildhauerei, Schauspiel und Bühnenbild in Edinburgh, London und Hamburg. Sie arbeitete sieben Jahre bei der zeitgenössischen Oper Berlin als Bühnenbildnerin und parallel als Regisseurin und Choreographin im Bereich Tanztheater und Musiktheater. Seit 1999 ist sie selbständig als Regisseurin und Bühnenbildnerin tätig und ist seit 2011 Künstlerische Leiterin der Schlossmediale Werdenberg, dem Festival für alte Musik, neue Musik und audiovisuelle Kunst in der Schweiz. Ihre Tätigkeiten als Regisseurin und Bühnenbildnerin führten sie u.a. an das Haus der Berliner Festspiele, die Komische Oper, das Konzerthaus Berlin, das Radialsystem, die Bregenzer und Salzburger Festspiele, die Biennale Venedig, zur Expo Zaragoza, nach Weimar, Leipzig, Hamburg, Innsbruck, Rom, St. Gallen, Basel, Bern, Luzern, Schwetzingen, Amsterdam, Athen, London, Adelaide u.v.a.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />