<b>von Pierluca Lanzilotta<BR /><BR />Was verbindet Sie im Besonderen mit dem „Gletscherquartett“, das am Sonntag aufgeführt wurde?</b><BR />Manuela Kerer: Der Auftrag kam vom Brixner Verleger Andreas von Mörl anlässlich von seinem 60. Geburtstag. Dabei hatte ich zuerst an ein Gedicht von Rilke („Der Panther“) gedacht, dann stieß ich auf das Thema Gletscher. Grundsätzlich interessiert mich das Thema Klimawandel: Schon als Kind ließ ich mich gerne von der Sportausübung im Freien begeistern (ich war Eiskunstläuferin und Schifahrerin), deswegen faszinieren mich seit jeher die Geräusche, die auf einem Gletscher zu hören sind. Zur selben Zeit, als ich das „Gletscherquartett“ komponierte, begann auch meine Arbeit an der Oper „Toteis“, die 2020 in Wien uraufgeführt wurde und dann, durch Corona verzögert, ihre italienische Erstaufführung am 16. März 2022 im Bozner Stadttheater erfuhr. Der Begriff „Toteis“ bezeichnet nämlich den abgestorbenen Teil des Gletschers, d. h. das Eis, das sich vom Gletscher gelöst hat.<BR /><BR /><b>Unsere Leserinnen und Leser kennen Sie bereits seit Jahren dank der Kolumne „Kerers Saite“, die Sie 2010-2020 jede Woche für „Dolomiten“ verfasst haben. Eine Auswahl aus Ihren „Dolomiten“-Aufsätzen ist 2021 bei Athesia erschienen. Wie lautet der Titel?</b><BR />Kerer: „Kerers Saiten: Musik und die Welt. Kolumnen einer Komponistin“. Der Band enthält 111 Aufsätze plus 3 „Mails in den Himmel“ an die Musiker Werner Pirchner, Falco und Carl Orff. Auch außermusikalische Themen wie Politik (Trump – schon damals…), Bräuche (Weihnachten), Sprachgewinnung bei Kleinkindern oder musikpsychologische Vertiefungen waren präsent, zum Beispiel, warum Musik uns so berührt wie sonst nichts auf der Welt.<BR /><BR /><b>Können Sie uns erzählen, womit Sie sich zurzeit im pädagogischen und künstlerischen Bereich beschäftigen?</b><BR />Kerer: Seit knapp 2 Jahren unterrichte ich Musikpädagogik am Bozner Konservatorium: Dieser Lehrstuhl enthält nicht nur didaktische Fächer, sondern ebenfalls psychologische und juristische Fächer, was eigentlich perfekt zu meinem Profil passt, weil ich neben einem Violin- und einem Kompositionsdiplom auch in Rechtswissenschaften und Psychologie promoviert bin. Letztes Jahr wurde ich zur Künstlerischen Ko-Leiterin der Münchener Biennale ernannt, des bekannten Festivals für zeitgenössisches Musiktheater, das 1988 von Hans-Werner Henze gegründet wurde, und kuratiere seitdem die Produktionen für meine erste Ausgabe 2026.<BR /><BR /><b>Wie können Sie das alles mit der Familie vereinbaren?</b><BR />Kerer: Das ist schon eine Herausforderung! Tatsächlich muss ich viele Kompositionsaufträge einfach aus Zeitgründen absagen, was ich übrigens nicht unbedingt als einen Nachteil ansehe, weil ich auf diese Weise auf die Aufträge eingehen kann, die mir wirklich wichtig sind. Zum Beispiel arbeite ich gerade an einem Projekt mit der Südtiroler Choreografin Veronika Riz, auf das man gespannt sein darf. Das Wichtigste für mich ist jedenfalls, dass ich alles, was ich mache, wahnsinnig gerne mache.<h3> Zur Aufführung</h3>7 Mitglieder des Nord- und Südtiroler Ensembles Windkraft (Streichquintett plus Klarinette und Bandoneon) musizierten am Sonntag ohne „offiziellen“ Dirigenten (ab und zu schlugen Roberto Gander oder Antonio Aiello, Erste Geige, den Takt) und boten den Zuhörenden im Konservatorium eine bunte Mischung aus E- und U-Musik im Sinne der stilistischen Vielfalt der heutigen Musikszene. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1096638_image" /></div> <BR />Das Ensemble Windkraft, seit Jahren tragende Säule des Festivals für Zeitgenössische Musik, betrat diesmal die Bühne ohne seinen langjährigen Dirigenten Kasper de Roo, der heuer aus gesundheitlichen Gründen verhindert ist (bei der Eröffnungsveranstaltung am 6. Oktober wurde Windkraft von Marco Angius dirigiert). <BR /><BR />Die knappe Hälfte der Ausführenden sind Professoren am hiesigen Konservatorium (Rino Braia, Kontrabass; Luigi Azzolini, Bratsche; Roberto Gander, Klarinette), was man geneigt wäre, als Heimvorteil zu verbuchen. Eigentlich ein zusätzliches Plus an künstlerischer Qualität und Erfahrung.<BR /><BR />Zur Eröffnung erklang ein Arrangement des Festivalleiters Hubert Stuppner fürs Ligeti-Stück „Hungarian Rock“, das die Festivalbesuchenden bereits eine Woche früher in einer weiteren Transkription (für 2 Klaviere) gehört hatten (das Original ist für zweimanualiges Cembalo). Stuppners Arrangement ist für Klarinette und Streicher. <BR /><BR />Darauf folgte ein „Duo for Violin and Cello“ der New Yorkerin Jessie Montgomery, in der zweiten Abendhälfte erklangen dann Luca Sticcottis „Bububu op. 20“, die einzige Uraufführung des Abends, und das Doppelkonzert für Klarinette, Bandoneon (Fabio Furia) und Ensemble des jungen argentinischen Bandoneonisten Juan Pablo J. Romarion.<BR />Die Mitte des Abends bildete das „Gletscherquartett“ der hiesigen Komponistin Manuela Kerer, die seit Jahren (nicht nur) den „Dolomiten“-Leserinnen und Lesern wohlbekannt ist. <BR /><BR />Das 11-minütige Werk aus dem Jahre 2018 bestach durch seine unvergessliche klangliche Qualität, die sämtliche Kompositionen der Brixnerin auszeichnet, und seine Fähigkeit, Naturassoziationen zu wecken – ganz im Sinne der künstlerischen Absicht seiner Autorin. Ein inniger, zugleich heller, immer durchsichtiger Klang durchflutete den Michelangeli-Saal mit einem warmen Licht. Die Klagegeräusche der absterbenden Gletscher wurden immer deutlicher vernommen, bis kurz vor dem Schluss regelrechte Wehklagen der Natur die Zuhörenden trafen wie Stiche ins Herz. Wie lange wird die Erde noch leiden müssen vor lauter Profitgier der Mächtigen?<BR /><BR /> Seit dem Entstehungsjahr dieses eindrücklichen Werkes ist die Zerstörung der Erde nur noch weiter fortgeschritten, und die Stimmen der Menschen guten Willens, die diesen Fluch abzuwenden suchen, werden noch weniger gehört. Der emotionalen Wirkung von Kerers Stück mit seinem wie ein Diamant strahlenden Klang, der nicht von dieser Erde zu sein schien und zugleich allzu menschlich in unseren Herzen widerhallte, konnte man sich definitiv nicht entziehen.<h3> Zur Person</h3>Manuela Kerer studierte Violine und Komposition am Tiroler Landeskonservatorium und erlangte die Promotion in Rechtswissenschaften und Psychologie an der Universität Innsbruck. Zu ihren Werken zählen Kompositionen für Orchester und Chor wie auch musiktheatralische Werke und Opern („Dem Weggehen zugewandt“, 2013; „Whatever works“, 2015; „Plenissimo“, 2015, „Toteis“, 2020).<BR /><BR /> Seit Dezember 2022 lehrt sie als Professorin für Musikpädagogik am Bozner Konservatorium. Im Februar 2023 wurden Manuela Kerer und Katrin Beck zum Leitungsduo der Münchener Biennale ab 2026 ernannt.<BR /><BR /><b>Termin</b><BR />Nächstes Konzert: Sonntag 17.11., 18 0 Uhr, Konservatorium<BR />Ensemble Windkraft, Kasper de Roo (J. Maria Staud, I. Radovanovic, I. Yun, H. Kerschbaumer)