<b>STOL: Der Cäciliensonntag ist ein Anlass zu feiern, aber auch Bilanz zu ziehen: Wie geht es den Südtiroler Kirchenchören?</b><BR />Heinrich Walder: Durch die Pandemie haben die Chöre sehr gelitten. Das Singen ist plötzlich in den Verdacht geraten, die gefährlichste Sache der Welt zu sein: Immerhin werden dabei besonders viele Aerosole ausgeatmet, die das Virus übertragen können. Es gab Covid-Fälle in den Chören. Das hat viele Leute abgeschreckt. Aus Angst und Vorsicht sind Mitglieder nicht mehr zum Singen gekommen.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="832700_image" /></div> <BR /><BR /><b>STOL: Die Angst vor Corona ist abgeebbt, sagen Umfragen. Füllen sich nun auch wieder die Probelokale?</b><BR />Walder: Die Chöre haben wieder Lust, aufzutreten, zu singen und zu proben. Mitglieder sind nach ihrer Coronapause wieder zurückgekommen. Andere sind aber freilich ausgeschieden. Die Vorsichtsmaßnahmen des Landes – lange Zeit war ja nur eine bestimmte Zahl von Sängern bei Proben und Aufführungen erlaubt – haben aber auch sonst einiges in Bewegung gebracht: Zum Beispiel war es teilweise nicht erlaubt, mit mehr als 5 Sängern die Messe zu gestalten. In so dezimierten Gruppen zu singen: Da ist jeder Einzelne mehr gefordert. Man hat gesehen, dass es auf jeden Einzelnen mehr ankommt. Das hat sich in manchen Chören als nachhaltig erwiesen. Wenn jeder mehr gefordert ist, muss sich schließlich auch jeder mehr zusammenreißen, einbringen und sich vorbereiten. In Kleingruppen zu musizieren, hat sicher auch stimmbildnerisch eine positive Wirkung. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="832703_image" /></div> <BR /><BR /><b>STOL: Viele Chöre melden, es gebe einen Männermangel in ihren Reihen. Haben Sie eine Erklärung dafür?</b><BR />Walder: Schon vor der Pandemie waren die Frauen in den Chören in der Überzahl. Ob Corona diesen Trend verstärkt hat, kann ich nicht genau sagen. Wohl sehen wir eine Krise der Regelmäßigkeit: Viele Menschen lassen sich nicht mehr so gern zu etwas verpflichten. Natürlich spielt auch eine Rolle, dass es viele andere Freizeitverlockungen gibt. Trotzdem stellen wir fest, dass die Musikkapellen keinen Männermangel haben, der mit jenem der Chöre vergleichbar wäre. <BR /><BR /><b>STOL: Das klingt danach, als würden die Familien Prioritäten setzen: Die Frau geht donnerstags zur Chorprobe, der Mann freitags zur Probe der Musikkapelle?</b><BR />Walder: Das glaube ich nicht. Die Musikkapellen haben mittlerweile auch viele weibliche Mitglieder. Singen an sich wird derzeit mehr als eine Sache der Frauen empfunden, glaube ich. Zumindest spricht es Frauen wohl mehr an.<BR /><BR /><embed id="dtext86-56974047_quote" /><BR /><BR /><b>STOL: Aber es gibt doch auch einige reine Männerchöre im Land.</b><BR />Walder: Das stimmt – allerdings sind das weltliche Chöre, meist mit Projektcharakter. Für diese ist der Sonntag – im Unterschied zum Kirchenchor – frei. Das ist der ausschlaggebende Punkt. Vielleicht ist der Männermangel in unseren Reihen also auch auf eine Art Kirchenkrise zurückzuführen. Es gibt einige Chöre, die nur mehr 3-stimmig singen: Sopran, Alt und Männer. Sogar die Musikverlage stellen sich darauf ein und bringen entsprechende Publikationen auf den Markt. Manche Kirchenchöre bestehen nur mehr aus Frauenstimmen. <BR /><BR /><b>STOL: Gibt es Initiativen des Verbandes, hier gegenzusteuern?</b><BR />Walder: Wir hatten erst kürzlich eine Veranstaltung zum Thema Nachwuchs: Dabei haben wir neue Statistiken vorgestellt und unseren Mitgliedsvereinen Empfehlungen mitgegeben. Trotz allem muss man sagen: Ein Geheimrezept gibt es nicht. Aber man kann einiges tun. Vieles hängt von den einzelnen Chören ab. Sie können Sänger ansprechen und motivieren. Ich bin selbst 31 Jahre lang Domkapellmeister in Brixen gewesen. In dieser Zeit kamen die meisten Nachwuchssänger aus den Familien, in denen bereits Eltern und Großeltern gesungen haben.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="832706_image" /></div> <BR /><BR /><b>STOL: Eine Einladung an die Familien, das Singen zu pflegen?</b><BR />Walder: Es gibt Chöre in Südtirol, in denen 3 Generationen derselben Familie mitsingen. Bei den Kindern muss man beginnen: Kinder- und Knabenchöre sind ein Repertoire, aus dem Chöre ihre Leute rekrutieren können. Allerdings zeigt es sich schon bei den Buben in der Schule, dass gewisse Hemmungen bestehen, zu singen. Dabei geht das Singen tief ins Herz. Ein gesungenes Wort bewegt den Menschen mehr als ein gesprochenes. Wenn man nach Italien schaut: Die Leute singen die Schlager im Fernsehen alle mit. Sie singen und singen und singen. Das hilft über manches hinweg. Die Seele schwingt mit.<BR /><BR /><b>STOL: Der heutige Cäciliensonntag ist ein Anlass, sich dies bewusst zu machen und auch zu feiern.</b><BR />Walder: Die Feiern sind Rückblick und Ausblick für Geleistetes und Geplantes, sie sind auch wichtig für die Chorgemeinschaft. Vereine bieten Heimat und Zuflucht. Den sozialen Aspekt darf man nicht außer Acht lassen. Die Vereine – Chöre, Kapellen, Musikvereine – leisten einen wichtigen Beitrag zum kulturellen Leben des Landes. Ohne sie wäre das Leben in den Dörfern und Städten sicher um einiges ärmer.