In den vergangenen Tagen hat Sir John Eliot Gardiner mit den internationalen Nachwuchstalenten und den Tutorinnen und Tutoren des Mahler Academy Orchestra Gustav Mahlers Rückert-Lieder und Jean Sibelius' Sinfonie Nr. 2 op. 43 hier in Südtirol einstudiert. Die Werke werden nun in Toblach und Bozen aufgeführt. Vorab haben wir mit einer der herausragendsten Dirigentenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts ein Gespräch geführt. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1197561_image" /></div> <BR /><BR /><b>Was bedeutet für Sie die Zusammenarbeit mit dem Mahler Academy Orchestra, das ja ganz besonders durch das Zusammenwirken von sehr jungen und bereits etablierten, bekannten Musikern gekennzeichnet ist?</b><BR />Sir John Eliot Gardiner: Es ist eine fantastische Gelegenheit für junge Musikerinnen und Musiker, die an der Schwelle zum Berufsleben stehen, bevor sie ganz in diesen Beruf eintauchen. Dieser Moment stellt eine große Herausforderung dar – gerade in unserer Zeit. Sie können hier das Musizieren auf höchstem Niveau erleben, zusammen mit herausragenden Stimmführern und erfahrenen Profis, die das Musikleben in- und auswendig kennen. Und dabei lernen sie voneinander – das ist essenziell. Ich glaube, es hat noch nie eine dringlichere Zeit gegeben, um sich mit ganzer Kraft dem Musikberuf zu widmen. Gerade in einer so zerrissenen Welt können sie ihre Stimme hörbar machen – und auf die Sehnsucht reagieren, die im Publikum spürbar ist. Seit der Covid-Pandemie hat dieses Bedürfnis, ich will nicht sagen eine verzweifelte, aber doch eine neue Dringlichkeit angenommen: die Notwendigkeit, die Seelen der Menschen zu heben – und Hoffnung zu geben. Es ist sehr leicht, die Hoffnung zu verlieren. Aber Musik kann sie zurückbringen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1197564_image" /></div> <BR /><BR /><b>Für Ihre Arbeit ist das Bemühen um originalgetreue Aufführungspraxis zentral. Was sind für Sie wesentliche Erfahrungen in diesem lebenslangen Bemühen, Musikgeschichte live werden zu lassen?</b><BR />Gardiner: Nun ja – man kann darin auch leicht einem Fetisch verfallen, und das bringt niemandem etwas. Wenn es aber ein Weg ist, sich dem innersten Kern eines Komponisten zu nähern, dann ist es wunderbar. Und man kann unglaublich viel dabei lernen. Es ist so einfach, eine Musik mit dem Stil nachfolgender Zeiten zu überlagern. Wenn man aber zurückgeht, bekommt man – oder hofft zumindest – einen Klang zu hören, der dem ähnelt, was der Komponist selbst im Ohr hatte. Und das ist spannend, wirklich ungeheuer spannend. Denn natürlich können wir nie so hören, wie er – oder sie – seine Musik selbst hörte, und wir wissen auch nicht genau, wie es beim damaligen Publikum ankam. Aber wir können große Freude daran haben, uns diesem ursprünglichen Klang zu nähern.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1197567_image" /></div> <BR /><BR />Ich habe das alles in meiner eigenen Lebenszeit miterlebt: Als ich in den Sechzigern anfing, war es gängige Praxis, alles im selben Stil zu spielen – alles! Vor allem bei großen Sinfonieorchestern und virtuosen Kammerensembles. Und dann kamen die Pionier-Ensembles, die unsere Herangehensweise völlig verändert haben. Anfangs war das technisch oft noch unbeholfen und manieriert, aber durch die Möglichkeiten der Schallplattenindustrie entwickelte es sich rasch weiter. Und das hat alles verändert. Heute ist es so, dass gute, renommierte Sinfonieorchester – nicht alle, aber die besten – bereits eine Vorstellung von jenem Klangbild haben, von dem man kommt.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="1197570_image" /></div> <BR /><BR /><b>„Historische Aufführungspraxis“ ist seit Jahrzehnten beim Publikum sehr gefragt. Wie erklären Sie sich dieses Interesse?</b><BR />Gardiner: Ich glaube, das liegt an der Überzeugungskraft der Musikerinnen und Musiker. Es hat gar nicht so viel mit „Authentizität“ zu tun, sondern mit innerer Überzeugung und leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit Stil und dem Herzen der Musik.<BR /><h3> Zur Person Sir John Eliot Gardiner</h3><BR />Der Gründer und Leiter des renommierten Monteverdi Choir and Orchestra sowie der English Baroque Soloists und des Orchestre Revolutionaire et Romantique wurde am 20.4. 1943 in Dorset (England) geboren. Er stammt aus einem musikalischen Elternhaus, spielte in der Kindheit Violine und widmete sich auch dem Gesang. Bereits im Alter von 15 Jahren sammelte er erste Erfahrungen am Dirigentenpult. Er absolvierte zunächst ein Studium der Geschichte an der Cambridge University mit dem Abschluss Master of Arts im Jahr 1965. <BR /><BR />Sir Gardiner ist einer der berühmtesten Dirigenten unserer Zeit, der sich vor allem um die Wiederentdeckung der Alten Musik und Fragen zu ihrer historischen Aufführung verdient gemacht hat. Einst engagierter Streiter für die damals neue historisch informierte Aufführungspraxis, ist er heute zwar immer noch ein hoch geachteter Spezialist für Alte Musik – insbesondere für das Werk Bachs – hat aber in den letzten Jahrzehnten Werke aus allen Epochen erfolgreich aufgeführt. <BR /><BR />Neben zahlreichen Auftritten mit seinen Ensembles ist er gern gesehener Gastdirigent in großen Orchestern in den USA und Europa sowie bei namhaften Festivals. Viele seiner Einspielungen wurden mit Preisen ausgezeichnet. Er war von 1983-1988 Musikdirektor der Opéra de Lyon, von 1981-1990 Künstlerischer Leiter der Göttinger Händel-Festspiele und von 1991-1993 Chefdirigent des NDR Sinfonieorchesters Hamburg. Sein Schaffen ist in zahlreichen Einspielungen dokumentiert.