ANTHROPOS, TYRANN (ÖDIPUS) soll aktuelle Fragen wie den Klimawandel thematisieren und die Wissenschaft miteinbeziehen: Ein Gespräch mit VBB-Intendantin Irene Girkinger und Roland Psenner, Präsident der eurac. <BR /><BR /><BR /><b>Zwei Tage vor der Uraufführung von ANTHROPOS, TYRANN (ÖDIPUS) gibt es einen Proagon an der eurac – eine Art „Gelenk“ zwischen Kunst und Gesellschaft, wo das gesamte Ensemble der Produktion und Wissenschaftler der eurac, so wie im alten Griechenland, über das Gespräch die Verbindung zu den Besuchern herstellen. Ist das Sujet sonst nicht vermittelbar?</b><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="750410_image" /></div> <BR /><BR />Irene Girkinger: Es geht um eine Tradition aus der Entstehungszeit des Theaters vor 2500 Jahren: 2 Tage vor den antiken Dionysien, die jedes Jahr stattfanden, 8 Tage lang dauerten und zu Ehren des Gottes Dionysos abgehalten wurden, präsentierten die Dramatiker wie auch Sophokles die Handlung und Themen ihrer im Wettstreit befindlichen Werke. Chor und Schauspieler traten ohne Maske und Kostüm auf, sie waren für die Besucher der Festspiele unmittelbar präsent. An diese antike Tradition möchten wir 2 Tage vor der Premiere erstmals anknüpfen: Die Schauspielerinnen und Wissenschaftler erzählen wie damals aus dem Entstehungsprozess der Theaterarbeit, weiters über die wertvolle Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Kunst und warum es so wichtig ist, dass wir uns angesichts der Klimakrise neu und anders mit der Natur, den Tieren, Dingen und anderen Menschen in Beziehung setzen müssen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="750413_image" /></div> <BR /><BR />Roland Psenner: Aus meiner Sicht „vermittelt“ Theater NICHT wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern schafft einen neuen Zugang zur Welt, in diesem Fall durch Rückgriff auf antike (ewig gültige, unlösbare?) Widersprüche und Konflikte. Ob die aktuelle Konfrontation von Energiehunger versus Klimaerwärmung auf eine Lösung, auf einen Kompromiss oder auf eine Katastrophe zusteuert, ist noch unentschieden, wobei für Sophokles auch die Katastrophe als Lösung gelten kann.<BR /><BR /><BR /><BR /><b>Das Stück soll 3 antike Ödipus-Dramen von Sophokles mit der großen Tragödie unserer Zeit, nämlich der drohenden Klimakatastrophe verschneiden, Kunst mit Wissenschaft vernetzen, Grenzen drastisch aufzeigen und neue Räume öffnen. Inwiefern kann das Theater?</b><BR /><BR />Psenner: Das Theater kann – wie ich schon andeute – vernetzen und Verbindungen aufzeigen, die uns bisher verborgen geblieben sind. Es geht weniger um das „Vermitteln“ von Erkenntnissen aus der Wissenschaft (oder der Politik etc.), sondern darum, andere Bereiche menschlichen Wissens, Fühlens, Vermutens, Begreifens… anzusprechen. <BR /><BR /><BR /><BR /><b>Am Beginn des theater-wissenschaftlichen Abends steht der Ruf „wir müssen zu trauern wagen… Wir haben keine zweite Spur mehr“; davon ist die Regisseurin Carina Riedl überzeugt. Wie setzt sie dieses Handeln um?</b><BR /><BR />Girkinger: Ich möchte dazu unsere Regisseurin Carina Riedl zitieren: „Wir leben gerade an einem Zeitpunkt von Geschichte, wo vollkommen klar ist: Die Dinge sind zerstört, die Dinge sind schon angerichtet, wir haben ganz viele Eingriffe schon gemacht. Wir müssen damit leben. Der erste Schritt, dies zu verändern ist, die Situation anzuerkennen und zu sagen: Wir trauern darüber. Und in dem Trauervorgang erkennen wir an, dass wir Verantwortung übernehmen müssen für ein Handeln, das längst stattgefunden hat. Nur wenn wir diese Tatsache anerkennen, kommen wir in mögliche Zukünfte.“ Mit diesem Gedanken sind wir bei Ödipus' Tochter Antigone. Sie trauert um ihren ermordeten Bruder, besteht darauf, ihn trotz des Verbots von Kreon zu bestatten. Antigone folgt ihrem inneren Gesetz, sie vollzieht die Bestattung trotzdem, lehnt sich auf gegen das Recht des Staates und das Recht des Herrschers. Diese Haltung interessiert uns sehr, darum erzählen wir das Stück mit 5 Frauen, also aus der Perspektive der Antigone.<BR /><BR /><BR /><b>„Wir befinden uns in einer irreversiblen Situation, die in der Geschichte so noch nie da gewesen ist; jetzt bleibt nur noch die fundamentale Veränderung, das radikale Umdenken“, meint die Regisseurin bezüglich Klimawandel. Ist es wirklich schon 5 vor 12?</b><BR /><BR />Psenner: Es ist nicht 5 vor 12, wir befinden uns seit 40 Jahren im beschleunigten Klimawandel, dessen Auswirkungen einer der 3 Nobelpreisträger für Physik des Jahres 2021, Syukuro Wanabe, in den 1970er Jahren beschrieben hat; er ließ allerdings offen, ob das Klima bei einer Verdopplung der Treibhausgaskonzentrationen (wir sind heute 80 Prozent über den vorindustriellen Werten) „stabil“ oder chaotisch wird. Ich neige zur Ansicht von Sophokles: Es wird zumindest dramatisch!<BR /><BR /><BR /><BR /><b>ANTHROPOS, TYRANN (ÖDIPUS) gestaltet sich in jeder Vorstellung neu. eurac research und die Vereinigten Bühnen Bozen verweben den antiken Mythos und die wissenschaftliche Forschung miteinander. Darstellerinnen finden sich gemeinsam mit Wissenschaftlern auf der Bühne. Wie kann man sich das vorstellen?</b><BR /><BR />Girkinger: Der Abend ist zweigeteilt: Zu Beginn steht die antike Tragödie mit dem Text von Sophokles, der von 5 Performerinnen dargestellt wird. Der zweite Teil des Abends umfasst dann die Mitwirkung einzelner Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, welche in Analogie zu Tiresias, dem antiken blinden Propheten, darüber sprechen, was die Zukunft unter dem Aspekt des Klimawandels bringen wird, kann und können sollte. So ergibt sich eine spannende und im Sinne des Themas wichtige Mischung aus großer antiker Tragödienliteratur und zeitgenössischem dokumentarischen Theater. Die VBB versuchen immer, klassische Theatertexte nach ihrer Relevanz fürs Heute abzuklopfen und mit der Gegenwart in Verbindung zu bringen. Der Mythos von Ödipus als sehender nicht-sehender Mensch erzählt eigentlich ganz von selbst die Geschichte des modernen Menschen im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Wir wissen seit über 40 Jahren, was auf uns zukommen wird, haben aber immer die Augen davor verschlossen. Nun geht das nicht mehr. <BR />Psenner: Das interessiert mich brennend, da Sophokles eine Situation beschreibt, die auch auf den Klimawandel zutrifft, eine Bedrohung, die sich seit 40 Jahren zusammenbraut. So betrachtet stehen wir mitten in einer griechischen Tragödie: Die Verbrechen der Vergangenheit ereilen uns! <BR /><BR /><BR /><b>„Wir haben die Erde nie wirklich gesehen, sie war uns immer nur ein Acker. Ein Feld. Nutzfläche. Seine Konzepte liegen in Trümmern, eine Krise folgt der anderen“, so klagt Antigone über den Menschen. Ein düsterer Theaterabend scheint den Besucher zu erwarten, oder gibt es auch Ausblicke?</b><BR /><BR />Girkinger: Theater ist immer auch dafür da, das Undenkbare denkbar zu machen, das Unmögliche möglich zu machen, indem es anregt, die eigenen Denk- und Handlungsmuster zu hinterfragen. Theater ist eine Form des Erlebens in und von Gemeinschaft und berührt Herz, Sinne und Hirn. Wir möchten dazu anregen, ins Handeln zu kommen, unsere eigenen Lebensweisen zu überdenken und endlich zu erkennen, dass wir Menschen nicht die Herrscher über die Natur sind, sie nicht zerstören und ausbeuten dürfen sondern mit ihr in Einklang leben müssen. Diese Botschaft werden auch die Wissenschaftler vermitteln, dass wir es noch schaffen können, wenn wir wirklich wollen. <BR /><BR />Psenner: Muss ich Novalis zitieren oder Gramsci, das nahe Rettende oder das embryonisch Vorhandene? Oder ist uns Sophokles näher? Wenn wir an das Prinzip „weiter so“ glauben, wird der Dichter recht behalten: Da uns bereits ein Treibstoffpreis von 2 Euro pro Liter oder eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 Stundenkilometer an den Rand des Aufstands bringen, bin ich nicht sehr optimistisch, was unsere Lehren aus der Krise betreffen. Was brauchen wir, um zu verstehen und zu handeln? Jahrzehnte der wissenschaftlichen Vermittlung haben wenig bewirkt, setzen wir unsere Hoffnung in die Tragödie!<BR /><BR /><BR /><BR /><b>Als dritten Teil dieses Theaterprojektes gibt es eine begleitende Ausstellung im Kapuzinerpark mit Fotokunstwerken von Barbara Dombrowski…</b><BR /><BR />Girkinger: Seit 10 Jahren arbeitet Barbara Dombrowski an ihrem ambitionierten, weltweiten Foto-Kunstprojekt, das den Klimawandel thematisiert. Auf allen 5 Kontinenten besucht sie klimarelevante Orte, porträtiert ausgewählte indigene Völker und die sie umgebenden Landschaften stellvertretend für ihre Kontinente und Klimazonen. Im Kapuzinerpark werden Fotos aus diesem Projekt ausgestellt. Sie wählt für ihre Installationen bewusst ein Material aus leichtem Textil aus, das den klimatischen Bedingungen in der Natur ausgesetzt wird. Wind und Regen hinterlassen ihre Spuren auf den Werken. Der Aspekt, der sich langsam durch den Einfluss der Natur zerstörenden Bilder symbolisiert unsere Verletzlichkeit als Teil allen Lebens.<BR /><BR /><BR /><BR /><b>Und schlussendlich sollen im April, Mai und Juni Zukunftsgespräche in Zusammenarbeit mit eurac research und der Freien Universität Bozen, Fachrichtung Eco-Social Design stattfinden. Insgesamt ein immenses Projekt also fast am Ende ihrer Intendanz bei den VBB. Wie kam es zustande?</b><BR /><BR />Girkinger: Wir alle wünschen uns, dass diese Arbeit nicht an der Theatertür endet, dass die Fragen, die da gestellt werden, nicht aufhören, wenn man die Theaterschwelle wieder übertritt, sondern dass sie wirklich die Eröffnung sind für eine neue Etappe, in die wir alle gehen werden müssen. Mit der Reihe „Zukunftsgespräche I-III“ möchten wir also den Dialog mit dem Publikum außerhalb des Theaters fortsetzen, Bürger der Stadt Bozen in ein offenes Gespräch miteinander bringen und dazu einladen, sich zu vernetzen, Projekte und Wissenschaftlerinnen aus unterschiedlichen Richtungen kennenzulernen, Ideen, Impulse und bereits vorhandene Umsetzungen auszutauschen und zu diskutieren. Die beiden Studentinnen Svea Möbs und Erika Braccini des Lehrgangs Eco-Social Design der Universität Bozen werden die Talks zusammen mit den VBB und Fridays For Future South Tyrol konzipieren. Das erste Gespräch findet am 8. April statt. Ideen dafür geben auch die Zuschauer von „Anthropos“, sie werfen sie am Ende der Vorstellung in die sogenannte Future-Box.<BR /><BR /><BR /><BR /><b>Wie ist eine sozial-ökologische Transformation mit mehr Partizipation zu erreichen? Ist eine Frage, die in den Zukunftsgesprächen erörtert werden soll zwischen Wissenschaftlern und den Anwesenden. Eine Utopie oder eine reelle Möglichkeit? Was denken Sie als Wissenschaftler?</b><BR /><BR />Psenner: Nachdem ich mich mit Gewässereutrophierung, Saurem Regen, Ozonzerstörung, PCBs (polychlorierte Biphenyle, die in die Umwelt gelangen und in den Hormonhaushalt eingreifen) beschäftigt habe, sehe ich, dass diese Probleme zwar nicht gelöst, aber zumindest wissenschaftlich verstanden und auf dem Weg der Sanierung sind. Als Wissenschaftler könnte ich also optimistisch sein: aus Krisen lernen – das scheint doch zu funktionieren. Heute jedoch stecken wir im globalen Dilemma: Es geht nicht um ein Element, einen chemischen Prozess, eine Stoffgruppe, sondern um buchstäblich alles… was nichts anderes heißt, als dass wir alles und uns alle ändern müssen. Dazu brauchen wir persönliche Einsicht, begleitet von gesellschaftlichen Angeboten und politischem Druck – mit Regeln, Gesetzen und Sanktionen. Es gibt tausende reelle, praktischen Vorschläge und Millionen von Möglichkeiten, aber wir müssen sie ergreifen. Ist das utopisch? <BR /><BR /><BR />TERMINE: <BR /><BR />Proagon: 24. März, 20 Uhr, eurac research Auditorium<BR />ANTHROPOS, TYRANN (ÖDIPUS)<BR />Premiere: 26. März, Weitere Vorstellungen: 31. März (19.15 Uhr, Stückeinführung) und 1., 2., 7., 8. April, 20 Uhr – 27. März und 3. April, 18 Uhr, Studio Stadttheater Bozen <BR />Ausstellung: Tropic Ice_Dialog between Places Affected by Climate Change von Barbara Dombrowski , 24. März bis 8. April, Kapuzinerpark<BR />ZUKUNFTSGESPRÄCHE I-III<BR />8. April, 17 Uhr – 4. Mai, 17 Uhr<BR />8. Juni, 17 Uhr, Kapuzinerpark Bozen <BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />