Wenn Fritzi Haberlandt sich als Anna Karenina in ihrer schnoddrigen Vorstadt-Eleganz kichernd und glucksend an dem verschwitzten, abgestaubten Rittmeister Wronski reibt, rückt das großartige Ballpanorama der Moskauer Belle Epoque in unerreichbare Ferne. Keine klirrenden Hufe auf verschneiten Straßen, keine unstattgemäßen Walzerklänge im Lichte von goldenen Kerzenleuchtern, nur das aufgeregte Spiel zweier selbstverliebter Gesellschaftsmenschen, die nicht wissen, worauf sie sich einlassen und kein Interesse daran haben, dies zu hinterfragen. Enttäuscht sucht man nach der tiefsinnigen Anna Karenina, unnahbar in ihrer edlen Anmut, enttäuscht wartet man auf den heldenhaften Grafen Wronski, dessen wagemutiges Herz sich erst beim Anblick einer einzigen Frau öffnet. Raum für eine neue Anna KareninaWas man sieht, ist das recht kindische Gebaren einer unterkühlten Straßenschönheit, die auf einen rastlosen Beau trifft. Die romantische Erwartungshaltung, in wenigen Augenblicken eingeeist, macht Raum frei für eine neue Auseinandersetzung mit den haltlosen Untiefen der Seele, Raum für eine neue Anna Karenina.Der Dramaturg Armin Petras hat Tolstois großartiges Gesellschaftsportrait bis aufs Skelett zersetzt. Übrig bleibt das beängstigende Gefühl emotionaler Unzulänglichkeit und zwischenmenschlicher Sprachlosigkeit. Kurze, pointierte Dialoge bleiben an der Oberfläche und haben keinen Zugang mehr zum Selbst und schon gar nicht zum Gegenüber. Jeder bleibt ganz in sich selbst verstrickt und nimmt das Außen nur als Projektionsfläche seiner selbst wahr.Im überdimensionalen Setzkasten des Bühnenbildners Stèphane Laimè suchen die Figuren nach einem geeigneten Lebensraum, suchen sich irgendwie in ihr Leben einzurichten - wunderbar die Umzugskartons verschiebende Dascha - doch der Raum ist beengt, eine lebenswerte Dimension ist nicht möglich. Metaphorisch zerstückelt dieses Puppenhaus das großartige Gesellschaftsportrait Tolstois in die unverbindbaren Zellen der heutigen Individualgesellschaft. Kahl und beengt erscheinen die Figuren in den verwinkelten Räumen des dreistöckigen Baukastens. Nicht mehr das Korsett der gesellschaftlichen Rolle drückt, sondern ... Hingeworfenen Puppen gleich mühen sie sich durch die engen Öffnungen, kauern sich in die Ecken, durchschlagen die Gipswände oder verbarrikadieren sich in winzige Schlupflöcher. Eingeschnürt nicht mehr in das Korsett ihrer gesellschaftlichen Rolle, sondern in die nicht minder bedrückende Enge der eigenen Gefühlsbeliebigkeit: Narzisstisch und ängstlich, unverbindlich und vorübergehend auch im Moment der größten Intensität. „Jeder sah das Leben, das er führte, als das einzig richtige an und das Leben des Freundes als Scheindasein". Petras sucht nach der Aktualität in Tolstois Roman und reduziert ihn auf einen atemlosen und bodenlosen Gefühlsreigen von 7 Figuren, die nach ihrem Glück suchen. Anna Karenina, verheiratet mit dem geachteten Vernunftmenschen Karenin verliebt sich haltlos in den leidenschaftlichen Grafen Wronski, Stefan, Annas Bruder, ein zügelloser Lebemensch, kämpft um die Liebe seiner betrogenen Ehefrau Dascha und der philosophische Landadelige Lewin hadert mit dem Glauben, der Welt und seiner scheinbar aussichtslosen Liebe zu Daschas Schwester Kitty. Wirkliche Kommunikation zwischen den Figuren scheint nicht mehr möglich und so lässt der Regisseur Jan Bosse seine Schauspieler viel nach vorne monologisieren, viel Handlung berichten. In dem großen Puppenhaus ist man zwar nie allein, doch es spricht sich schlecht um Ecken und durch Zwischenwände. An die Authentizität des Gefühls wagen sich die Figuren nur im monologischen Zitat aus dem Originaltext. Allein Tolstois Text wird zu einer beruhigenden Seelenoase, gibt dem unkontrollierbaren Aufeinander der Emotionsfetzen einen wohltuenden Halt. Die einzige Möglichkeit der Reflexion. Die Dialoge selbst schneiden scharf in ihrer unprätentiösen Oberflächlichkeit, werden zersetzt durch männlich-derben Humor und hysterisch-weibliche Unglaubwürdigkeit. Lewins und Kittys Schlittschuhe kratzen schmerzlich auf dem Eis, geben aber keinem der beiden einen sicheren Halt. Erst mit der Hilfe eines höchst komplexen Code-Systems gelingt die Annäherung, verschlüsselt lässt sich Nähe aushalten. Niemand scheint sich über die alltägliche Liebesunfähigkeit zu wundern, nur in wenigen Augenblicken springt die Aggression über das Ausgeliefertsein im Raum, über das Eingesperrtsein in sich selbst auf das Publikum über. Man möchte den Figuren ihr grelles Lachen und das noch grellere Verzweifeln aus dem Gesicht streichen, man möchte ihnen den Mund und ihre losen Sprüche verbieten und einen Spiegel vorhalten. "Er hatte eine Blume gepflückt, aber in dem Moment als er sie abriss, hatte sie zu welken begonnen" Wirklich existentielles Gefühl blitzt nur dann und wann hinter Wronskis Macho-Gebärden und Karenins Selbstgefälligkeit hervor. Milan Peschel, der auf den ersten Blick eine Antibesetzung für den stattlichen Grafen Wronski scheint, ist der einzige, dem die allgemeine Liebesunfähigkeit ans Mark geht. Er schwitzt, keucht, rennt, schreit und bäumt sich verzweifelt gegen das Ende seiner Liebe zu Anna auf. „Er hatte eine Blume gepflückt, aber in dem Moment, als er sie abriss, hatte sie zu welken begonnen", diagnostiziert er die tragische Unausweichlichkeit seiner Glückssuche.Schal und welk trippeln und keuchen, tanzen und kriechen dann auch die drei Frauenfiguren über die Bühne. Alle drei als billige Versatzstücke eines großen Gefühls, nach dem sie zu streben vorgeben. Warum Armin Petras aus Anna Karenina eine kopflose, girlie-hafte Durchschnittsfrau macht, kühl und grell zugleich, ist aus der Inszenierung nicht zu erschließen. Ganz zum Schluss erst geht Fritzi Haberland volles Risiko ein und öffnet in einem gewaltigen Monolog Einblicke in Annas rasende Verzweiflung.Sehenswert ist Jan Bosses Inszenierung auf jeden Fall. Interessant, mit wie viel Aktion er eigentliche Totenstille füllen kann. Interessant auch, wie Armin Petras die einzelnen Figuren aus dem Roman schält und selbstständig entwickelt. Was herauskommt ist dann allerdings ein düsteres Bild von unmöglicher Nähe, von sprachloser Annäherung.Anna Karenina, nackt und ohne schützenden Pelz, verliert an Einzigartigkeit und Faszination. Sie wird zur Durchschnittsfrau. Ob die Welt heute wohl keine Anna Kareninas mehr trägt?Jutta Telser