<b>von Margit Oberhammer</b><BR /><BR />Dort hinsehen, wo es weh tut. Mit diesen Worten beschreibt Gisèle Vienne ihr Anliegen anlässlich der Vorstellung ihres Künstlerbuchs vor ein paar Tagen. „This Causes Consciousness to Fracture“, so der Titel des Bandes, klingt wie eine Warnung: Kunst kann das Alltagsbewusstsein sprengen. Die Bruchstellen beziehen sich zugleich auf individuelle Biografien, auf Erfahrungen von Gewalt zum Beispiel. <i>„Dort sieht die Gesellschaft nicht hin, vor allem nicht bei Jugendlichen“, </i>sagt die Choreografin. <BR /><BR />In „Crowd“ sieht sie sehr genau hin. Wie eine Forscherin legt sie eine Rave-Party unter das Vergrößerungsglas. Zerlegt die Bewegungen in Zeitlupe, friert sie kurz ein, fragt sich und das Publikum, welche Erfahrungen von Verletzungen, welche Gefühle von Wut, Angst, Sehnsucht nach Liebe und Gemeinschaft, sich hinter der Körpersprache verbergen mögen. Die extrem langsame Sprache ist in ihrer Perfektion und Präzision nicht zu überbieten. <BR /><BR />Kurz blitzt die Überlegung auf: Wie machen die 15 Tänzerinnen und Tänzer das bloß? Wie können sie sich all die Mikrobewegungen in dieser schwierigen Choreografie merken? Wahrscheinlich, weil sie die Geschichte, den Text ihrer jeweiligen Protagonisten im Unterschied zum Publikum genau kennen. Für diesen Text hat Gisèle Vienne mit <b>Dennis Cooper</b> zusammengearbeitet, dem berühmt-berüchtigten Verfasser einer Literatur, die in die dunkelsten Ecken blickt. Außerdem nennt sie die Choreografin <b>Pina Bausch</b>, die Filmemacherin <b>Chantal Akerman</b> und die Schriftstellerin <b>Nathalie Sarraute</b> als inspirierende Vorbilder. Allen ist gemeinsam, dass sie radikal und psychologisch vertieft das hinter alltäglichen Routinen Verborgene analysieren. <BR /><BR />Was aber verbirgt sich in „Crowd“ hinter dem Zusammentreffen der Jugendlichen auf der Techno-Party? Es lässt sich nur erahnen. Die Kapuzengestalt scheint etwas im Schilde zu führen. Jemand anders scheint es ebenfalls auf Provokation abgesehen zu haben. Oder wirkt er nur so, weil er am Rande steht und nicht in die Gemeinschaft hineinfindet? Warum gibt sich die junge Frau so cool? Bricht eine andere in unmotiviertes Gelächter aus? Warum liegt einer plötzlich am Boden und die anderen weichen erschrocken zurück? Andere finden mit zärtlichen Bewegungen zueinander, scheinen glücklich. <BR /><BR />Eine ausgefeilte Lichtkunst – Gisèle Vienne ist eine Grenzgängerin zwischen Tanz und bildender Kunst – konturiert einzelne Körperteile, hebt kleine und größere Gruppen plastisch hervor, verleiht dem Geschehen etwas Irreales, nächtlich Spukhaftes. Zu hämmerndem Techno steigert sich die Szenerie zu raumgreifend Ekstatischem, bis sie diesen Raum gänzlich sprengt. Die Akteure drängen aus ihrer Haut hinaus, aus ihrem Alltag, aus ihrem Körper, alle scheinen größer, mächtiger, in ihrem Inneren aufgelöst. Unter das Motto „Aufstand“ sind die Performances der diesjährigen Festivalausgabe gefasst, unter Akte der Rebellion in all ihren Facetten. Das Gastspiel „Crowd“ passt bestens dazu.<BR /><BR />Der Bühnenboden ist zunehmend vermüllt mit Dosen, Flaschen und abgelegten Kleidungsstücken. Die Tanzenden spritzen mit Wasser, werfen Sand und liegen schließlich in großer Erschöpfung darnieder. Langsam beginnen sich einige wenige aufzurappeln, erwachen wie aus einem Traum. Nach einer rauschhaften Erfahrung sind sie auf sich zurückgeworfen. <BR /><BR />Hat sie die gemeinsame Erfahrung verändert? Zum Besseren, zum Schlechteren? Zu einem Stück Selbstliebe? Kraft für Veränderung gemeinsam mit anderen? Eine junge Frau verharrt in sich zusammengesunken, lässt kraftlos die Schultern hängen. Ein Jugendlicher nach dem anderen verschwindet einzeln in das je eigene Leben. Drei bleiben übrig. Ende offen.