Früh am Morgen wirkt das Stilfser Joch wie ausgestorben. Bevor hier Kolonnen von Motorradfahrern, Wohnmobilisten, Oldtimerfans und schwitzenden Rennradlern sowie Mountainbikern anrollen, verströmt das Hoteldorf an der Grenze zwischen der Lombardei und Südtirol den Charme einer aufgelassenen Goldgräbersiedlung. <BR /><BR />Die extreme Witterung auf 2757 Metern hat den Gebäuden zugesetzt. Man blickt auf vernagelte Fensterfronten, auf Fassaden, an denen der Putz bröckelt. An der Rückseite eines grauen Hotelklotzes hat sich die Dachtraufe aus der Verankerung gelöst und scheppert im Wind.<BR /><BR /> „Skiverleih“ steht in ausgebleichten Lettern an einem Häuschen neben der Passstraße. Die Fensterscheiben rechts von der Eingangstür weisen einen großen Sprung auf. Er wurde mit Kunststoffkleber repariert – offenbar rechnet hier niemand mehr mit der Möglichkeit, durch Skiverleih viel Geld zu verdienen.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="932989_image" /></div> <BR /><BR /> Kurz vor 8 Uhr erwacht das Geisterdorf. Plötzlich drängen sich an der Talstation der Pendelbahn, die hinauf zum Gletscher führt, Dutzende junger Skifahrer. Ihre klobigen Stiefel sind in Rucksäcken verstaut. Sie tragen hautenge, windschlüpfrige Rennanzüge, unter denen sich muskulöse Beine und Oberkörper abzeichnen. Gebogene Skistöcke kratzen über Gitterböden, wie nervöse Rennpferde scharren die jungen Skiprofis mit ihren Füßen, die in Turnschuhen oder ausgelatschten Gummisandalen stecken. Durch die Luft schwirren deutsche, italienische, englische und slawische Wortfetzen. Es riecht nach Sonnencreme. Alle haben es eilig. <BR /><BR /> Laut Eigenwerbung nimmt das Stilfser Joch hinter dem französischen Les Deux Alpes den zweiten Rang unter den höchstgelegenen Sommerskigebieten der Alpen ein, in den Ostalpen ist es die Nummer eins. Doch der Klimawandel hat seine Spuren hinterlassen. Das Thermometer an der Talstation zeigt 4 Grad plus an. „Der Himmel blieb über Nacht bedeckt“, sagt ein Trainer der italienischen Frauenmannschaft, die gerade munter palavernd mit der Seilbahn hinauffährt. „Deshalb sank die Temperatur nie unter null Grad.“ Der Schnee werde heute weich sein, fügt der Trainer hinzu. <h3> Bis zu 250 Skilehrer</h3> Im Rifugio Livrio auf 3117 Metern sitzt unterdessen Stefano Capitani beim zweiten Frühstück. Der Mann aus Bormio gehört zu den lokalen Skipionieren. In den 1960er und 70er Jahren arbeitete Capitani am Stilfser Joch als Skilehrer. Damals boomte der Sommerskilauf. Auf alten Prospekten sieht man Bikini-Schönheiten in Skistiefeln. Viele folgten damals dem Ruf der Werbestrategen, am Stilfser Joch errichtete man neue Hotels, die klapprigen Aufstiegsanlagen wurden eilig modernisiert. <BR /><BR />„Zeitweilig waren hier über 250 Skilehrer beschäftigt. Damals lernte ich hier die Welt kennen“, schwärmt Stefano Capitani. „Zu meinen Kunden gehörten reiche Leute. Sie haben mich nach Rom und Mailand eingeladen, allein von den Trinkgeldern konnte ich auf großem Fuß leben.“ Nach und nach erwarb Capitani ein halbes Dutzend Hotels in Bormio und am Stilfser Joch. An den hiesigen Aufstiegsanlagen besitzt seine Familie die Aktienmehrheit.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="932992_image" /></div> <BR /><BR />Auf Journalisten, die über den Wandel berichten, ist der Skipionier nicht besonders gut zu sprechen. Neulich sei ein Redakteur des Wirtschaftsblattes il Sole 24 Ore hier zu Besuch gewesen, erzählt Stefano Capitani und seine Stimme klingt plötzlich rauer. „Anschließend hieß es in der Zeitung, dass heute nur mehr eine Handvoll Ausgeflippter am Stilfser Joch Ski fahren würde.“ <BR /><BR />Mit einem Kuchenstück in der Hand zeigt der Unternehmer zum Fenster hinaus. Draußen stürzen sich die Mitglieder mehrerer Nationalteams über die steilen Pisten unter dem gleißenden Gipfel der Geisterspitze hinab. „Sind das etwa alles Verrückte?“, fragt Capitani und blickt herausfordernd. Man würde ihm gerne zustimmen und über die italienische Presse schimpfen. Aber es lässt sich nicht leugnen, was vergilbte Bilder in den Hotelfluren beweisen: vor einem halben Jahrhundert reichte der Ebenferner noch bis hinunter zur Passstraße. Heute kränkeln die Firnfelder sogar auf den Hängen über dem Rifugio. <h3> Gähnende Leere auf der Terrasse</h3>Auf der Sonnenterrasse im Freien herrscht gähnende Leere. Drinnen im riesigen Speisesaal sind gerade mal zwei Tische besetzt. Kaum hat man seinen Cappuccino ausgetrunken, stürmt schon ein livrierter Bursche herbei und reißt einem die Tasse unter der Nase weg – wohl um darüber hinweg zu täuschen, dass es wenig zu tun gibt.<BR /><BR /> „Wir mussten damals unsere Gruppen im Schichtbetrieb unterrichten“, erinnert sich Josef Angerer. Auch er hat sich als staatlich geprüfter Skilehrer emporgearbeitet und besitzt heute in Trafoi ein großes Hotel. Von seinen Gästen sei an diesem Tag nur einer zum Sommerskilaufen gekommen. „Die anderen wollen Moutainbiken oder Bergtouren unternehmen.“ <BR /><BR />Die Trendwende habe sich in den 1980er Jahren abgezeichnet, erzählt Angerer und macht dafür das Umweltbewusstsein verantwortlich sowie die Bilder von schwitzenden Gletschern, die jeder im Kopf habe. Josef Angerer nimmt die Entwicklung gelassen. Er hat sich zum Wanderführer ausbilden lassen und geht mit den Gästen im Winter Schneeschuhwandern. Während der Sommermonate seien Kräuterexkursionen sehr gefragt. „Die Touristen wollen heute etwas entdecken und dabei eine intakte Natur erleben.“ <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="932995_image" /></div> <BR /><BR /> Auf den Pisten unter der Geisterspitze ist es inzwischen ruhig geworden. Es ist jetzt kurz vor Mittag, die Alpinprofis pausieren. Nachdem sie am Pistenrand ihre mitgebrachten Stullen verzehrten, haben die wenigen Hobbyskifahrer die Abfahrten nun für sich alleine. Der Firn ist weich wie Sahne und schmatzt bei jedem Schwung unter den Carvingbrettern. Grandios ist die Aussicht, die sich von der Bergstation des Nagler-Liftes bietet. Nach Süden schweift der Blick über ein scheinbar endloses, weiß schäumendes Gipfelmeer. Rechts ragt der Ortler empor, mit 3905 Metern die höchste Erhebung der Ostalpen. Seine von Gletscherspalten zerklüftete Gipfelflanke stemmt sich dem Himmel wie der Rücken eines buckligen Riesen entgegen. Seltsam nahe muten die blau schimmernden Se´racs an, kirchturmhoch und bedrohlich schief, als könnten sie im nächsten Augenblick tosend in die Tiefe stürzen. <BR /><BR /> Zurück auf der Passhöhe herrscht dort am Nachmittag Kirmesstimmung. Euphorische Radfahrer, in Leder gewandete Besitzer schwerer Motorroller und luftig gekleidete Autoausflügler mischen sich bunt durcheinander. Es duftet nach Bratwurst und Bier, an den Souvenirläden bilden sich Menschentrauben. „Gibt es hier Skipisten?“, fragt verwundert ein Rennradler seinen Kollegen, als sich ein Mann mit geschulterten Brettern durch das Menschengewühl einen Weg zum geparkten Wagen bahnt.<BR /><BR /> Der Skifahrer wirkt hier mit seiner Ausrüstung exotisch. Wie ein Bild aus vergangenen Zeiten – die so schnell nicht wieder kommen werden. <BR /><BR />