Unser Kolumnist macht sich heute gemeinsam mit einem Experten auf die Suche nach einem gefiederten Freund, der „gar nicht so lieb“ ist wie es auf den ersten Blick scheint. <BR /><BR /><BR /><BR /><BR />Es geht diesmal um das Rotkehlchen, diesen lustigen gefiederten Gesellen mit rotem Wams, Vogel des Jahres 2021, ein Sympathieträger, zu dem<BR />der Mensch seit je eine innige Beziehung pflegt - die vielen Namen, unter denen er im deutschsprachigen Raum bekannt ist, von Krätschrötele bis Routschatzla, beweisen seine Popularität. <BR /><BR />„Der Anschein täuscht. Das Rotkehlchen ist gar nicht lieb“, sagt hingegen Patrick Egger. Das zarte Vögelchen, im Winter ein gern gesehener Gast am Futterhäuschen, habe eine ausgesprochen raue, ruppige Natur. „Es ist zänkisch, Harmonie ist dem Rotkehlchen überhaupt kein Bedürfnis. Nicht nur zwischen rivalisierenden Geschlechtsgenossen, auch wenn Männchen und Weibchen zum V... zusammen kommen, werden Hiebe ausgeteilt.“<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="668699_image" /></div> <BR /><BR />Es war halb acht Uhr Abend, nach einem schwülheißen Tag Anfang Juli. Ich hatte mein Auto in der Industriezone von Lana geparkt. Die lange Gerade in dieser Gegend, links hinter Buschwerk das Flussbett der Falschauer, rechts zuerst ein begrünter künstlicher Hügel - eine ehemalige Müllhalde -, dann Hallen, Tennisplätze und schließlich Ostwiesen, verleitet sehr zum Gasgeben. Wegen erhöhter Geschwindigkeit habe ich hier schon einen Strafzettel kassiert. <BR /><BR />Auch an diesem Abend schien es jeder eilig zu haben. Im Fahrtwind der Autos bogen sich die Äste hinter den Leitplanken, wo eine Hinweistafel<BR />zum Biotop Falschauer weist. Als ich die Straße überquerte, vorbei an einem weiteren verblassten „Müllabladen-strengstens-verboten-Schild“, leuchteten im Licht der tief stehenden Sonne Richtung Hafling senkrechte Felswände in<BR />einem matten Kupferton. Vor einer Brücke über den Fluss, wo die Gischt über runde Steine sprühte, die Pegelstation Falschauer. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="668702_image" /></div> <BR />Hier stand Patrick Egger, schlank, Stoppelfrisur, um den Hals ein Fernglas, aus dem geschulterten Rucksack lugte eine Trinkflasche hervor. Der Mittvierziger ist Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Vogelkunde und Umweltschutz (AVK) und hat sich zu einer gemeinsamen Falschauer-Runde bereit erklärt. „Wegen dem Glaggele-Wetter, es sah ja den ganzen Tag nach Gewitter aus, obwohl dann nur ein paar Tropfen fielen, bin ich nicht wie üblich mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto gekommen“, sagte Egger. <BR /><BR />Er wohnt in Lana, das Falschauer Biotop kennt er in- und auswendig. Gut 30 Hektar messe die geschützte Fläche - Lebensraum für 50 Brutvogelarten, und wichtiger Rastplatz für etwa 250 Arten, Durchzügler und Wintergäste, erfuhr ich von meinem Begleiter. Das Rotkehlchen liebt die Nähe des Wassers, niederen Bewuchs, Sträucher und Hecken, wo es sich verstecken kann. In Bodenvertiefungen, Baumhöhlen oder Mauerlöchern baut es seine Nester. <BR /><BR />In der Stunde vor und nach Sonnenuntergang ist der kleine Vogel am aktivsten. „Höher als einen oder anderthalb Meter fliegt das Rotkehlchen normalerweise nicht“, sagte Egger. „Wir müssen in Bodennähe Ausschau halten“. Mit seinen Auen und feuchtem Unterholz bildet das Falschauer Biotop ein ideales Habitat für das Rotkehlchen. „Es badet sehr gerne, im Winter notfalls auf Eis“, erzählte Egger.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="668705_image" /></div> <BR /><BR />Nun ist der rotbewamste Vogel nicht gerade selten - jeder, der schon mal seinen Garten umgrub, hat die Erfahrung gemacht, dass sich ein Rotkehlchen an seine Fersen heftet. Mit großen Augen, seinen Kopf leicht geneigt, verfolgt es das Tun des Gärtners. Kommt ihm dieser zu nahe, hüpft es einen Meter weiter, bleibt jedoch hartnäckig auf Tuchfühlung. „Das Rotkehlchen lernt schon in der Kinderstube, dass große Tiere Insekten aufwirbeln, Beute also – in seiner Wahrnehmung sind wir große, ungefährliche Tiere“, sagte Egger. <BR /><BR />Allerdings, schränkte er ein, sei es jetzt im Sommer schwierig, das<BR />Rotkehlchen zu Gesicht zu bekommen. „Während der Brutzeit singt es nicht. Seine ganze Energie gilt jetzt der Futtersuche, um die hungrigen Schnäbel der Jungen zu stopfen.“ Jede Wette, behauptete Egger, „dass du einen Jungvogel gar nicht erkennen würdest!“ Erst im Herbst bekämen junge Rotkehlchen ihren orangefarbenen Brustlatz. Egger zeigte mir auf seinem Handy Bilder eines kleinen, graubraunen Vogels, für mich ein Spatz. „Siehst du“, grinste mein Guide, „du hättest die Wette verloren - das ist ein nicht ausgewachsenes Rotkehlchen!“ <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="668708_image" /></div> <BR /><BR />Unspektakulär wie dieser Vogel erschien mir das ganze Falschauer Biotop. Während wir flussabwärts gingen, hörte man die Autos auf der gegenüber liegenden Max-Valier-Straße vorbei pfeifen. Nach einem Badenachmittag traten Radfahrer, ihre Sachen in Rucksäcken verstaut, den Heimweg an. „Die Schleichwege zur Falschauer hinunter stammen von diesen Leuten“, sagte Egger, und wies auf einen Pfad durch das dschungelhafte Grün. „Dabei ist es hier verboten, den Hauptweg zu verlassen“. Kiesbänke und Flussinseln bilden Nistplätze für bedrohte Vogelarten - etwa den Flussregenpfeifer und Flussuferläufer. „Beide sind in Südtirol sehr selten geworden. Wenn sie hier keine Ruhe haben, verschwinden sie.“ <BR /><BR />Mindestens gleich schlimm wie die Trampel, die die brütenden Vögel stören, seien Hunde, die frei herumlaufen, erklärte Egger. „Den Schaden, den sie hier anrichten, verursachen in bewohnten Gebieten die Katzen. In Japan dürfen Katzen nicht ins Freie.“ Zweibeiner, die in ihre letzten Refugien eindringen, außerdem streunende Hunde und Katzen - alles Stress für die Vögel, das hatte ich bisher nicht bedacht. <BR /><BR />Inzwischen hatte Egger wiederholt sein Fernglas gezückt. Er zeigte mir den Nistplatz von Wasseramseln (weil offene Flächen, Kies- und Schotterbänke wucherndem Grün wichen, sind sie hier selten geworden). Er machte auf Singdrosseln aufmerksam. Mit einem gellenden „Kjückjückjück“ flatterte ein Grünspecht vorbei, eine leichtere Übung war es, ihn am wellenförmigem Flug und dem olivgrünen Gefieder zu identifizieren. Hoch am Himmel kreisten Mauersegler und stießen schrille Schreie aus. Sie seien größer als die hier heimischen Schwalben, mit denen sie oft verwechselt würden, dabei bestünde keine Verwandtschaft, erklärte Egger. „Man erkennt sie am gegabelten Schwanz und den sichelförmigen Flügeln.“ <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="668711_image" /></div> <BR /><BR />Mein Begleiter deutete auf zwei mächtige Silberpappeln, die sich an einem Teich gegenüberstanden - in beiden niste die Wacholderdrossel: „Im Gegensatz zum Rotkehlchen ein geselliger Vogel, er lebt in Verbänden“. Im dichten Gehölz, wo es düster war, Mücken und andere Insekten um unsere Köpfe schwirrten, reckte Patrick Egger sein Kinn in Richtung eines Baumes mit zerklüfteter Rinde. Dort kletterte, weil perfekt getarnt, für mich natürlich bis auf den Hinweis unsichtbar, ein Baumläufer kopfabwärts den Stamm hinunter. Wenn es besonders kalt sei, erfuhr ich vom Vogelkundler, schliefen die Gartenbaumläufer in Gruppen. „Jeder darf mal in die Mitte, wo es am wärmsten ist, da könnten wir Menschen und das raubeinige Rotkehlchen uns ein Beispiel nehmen“.<BR /><BR /> Bei Revierkämpfen versuche letzteres, dem Rivalen die Augen auszuhacken. Weniger süß war auch, was einem Vogelkundler-Kollegen widerfuhr, erzählt Egger: „Er wurde von einem Rotkehlchen attackiert, vermutlich eine Verwechslung - der Mann trug einen fuchsroten Vollbart“.<BR /><BR /><BR />Das Rotkehlchen ist schlau, das finde ich sympathisch, Schlauheit ist die Waffe des physisch Unterlegenen. Fühle sich das Rotkehlchen beim Nestbau beobachtet, lege es dem Eindringling eine falsche Fährte. „Es tut so, als schleppe es Blätter und Gräser zu seinem Nest, das sich gar nicht an dieser Stelle befindet. Wenn die Gefahr vorüber ist, kehrt es auf Umwegen zum richtigen Nistplatz zurück“, erzählte Egger. Die Hauptfeinde des Rotkehlchens sind der Kuckuck, Mäuse, Ratten, Eichhörnchen, Eichelhäher und Wiesel - alle haben es auf die Eier in seinem Nest abgesehen. Zwei Bruten, von Mitte April bis August, sollen die Nachkommenschaft sichern. Das ist notwendig, das Leben eines Rotkehlchens dauert durchschnittlich nur etwa ein Jahr. <BR /><BR /><b>Extreme Birdwatcher</b><BR /><BR /><BR />Zwei oder drei Mal hielt mein Begleiter plötzlich inne, blickte gebannt zum Fluss hinunter. Dort sah dann auch ich einen graubraunen Vogel mit hängenden Flügeln von Baumstumpf zu Baumstumpf springen. Vielleicht ein Rotkehlchen, vielleicht ein Zaunkönig. Uns näher heranzupirschen, lehnte Egger ab, „aus ethischen Gründen“. Dass ich ihm für die gemeinsame Runde kein Geld geben könne, sei schon in Ordnung, erklärte er: „Es kommt ja den Vögeln zugute“.<BR /><BR />Zweifelsfrei sichten konnten wir das Rotkehlchen an diesem Abend nicht. Birdwatcher, die eine Strichliste führen, kann Patrick Egger verstehen. „Es geht immer auch um das Adrenalin“, sagte er. Besonders die Engländer verhielten sich in dieser Hinsicht etwas krass. Wenn es im sozialen Netzwerk heiße: An diesem oder jenem fernen Ort komme der seltene Vogel X vor, „lassen die alles liegen und stürmen ein Flugzeug“, sagte Patrick Egger. Er selbst unternimmt seine Ausflüge in die Vogelwelt zur Entspannung. „Dabei schärfe ich meine Sinne“. Ob er einen gesuchten Vogel sichte, sei eher unwichtig. „Nichts erzwingen, einfach akzeptieren - mit diesem Motto ziehe ich los.“ <BR /><BR /><BR />Auch das Rotkehlchen, dieses zutrauliche, im Winter oft am Futterhäuschen anzutreffende Vögelchen hat also seine Geheimnisse. Es kann sich rar machen. „Umso gespannter bin ich auf das nächste Mal!“, sagte Patrick Egger. An den folgenden Tagen spähte ich dann eifrig ins Gebüsch. Rotkehlchengeeignet oder nicht - nach diesem Beobachtungsraster sortierte ich nun meine Umgebung. <BR /><BR />* <b>Helmut Luther, Jahrgang 1961,hat in Innsbruck Philosophie und Geschichte studiert, unterrichtet seit über 30 Jahren an einer Oberschule in Meran. Zum Schreiben fand er über den Umweg der Landwirtschaft. Nachdem er mehrere Weinberge gepflanzt hatte, reifte in ihm die Erkenntnis, lieber zu beobachten, was dort kreucht und fleucht, als - damit die Rechnung aufgeht - mit viel Technik dagegen anzukämpfen. Im Oktober erscheint bei Athesia sein Buch Mary de Rachewiltz, meinem Vater Ezra Pound verpflichtet.</b><BR />