Irina Lino lobt Leute, die nicht wegschauen und zuwarten, sondern handeln. <BR /><BR /><BR /><BR />Welche Jahreszeit ich am meisten mag? Den Herbst! Wenn der Sommer seine Hitze ausgebrannt hat und Mischwälder gelbrot glühen. Wenn das Licht weich und warm ist wie eine Decke und die Luft so klar, dass man bis über den Rand der Welt zu sehen vermeint... Dann geht mir das Herz auf und meine Lebensgeister tanzen. <BR /><BR />Noch ist der Winter fern. Doch man kann ihn schon erahnen. Am Morgen und in manchen Nächten, in denen Sterne heller leuchten und näher scheinen. So belebend ist das, wenn man nach einem kühlen Abendspaziergang nach Hause kommt und ins Warme tritt – die Wangen rosenrot, obwohl noch keine Eisblumen auf Fenstern wachsen. <BR /><BR />Wie meine Herbstidylle wohl für Menschen aussieht, die kein Dach über dem Kopf haben? Wie sich das anfühlt, wenn die Kälte in Knochen kriecht, wenn der Winter im wahrsten Sinne des Wortes durch Mark und Bein geht und wie ein Vampir am Leben saugt? Wenn Kleiderschichten, ausgestopft mit Zeitungspapier, nicht annähernd genug Schutz bieten, um schlafen zu können... irgendwo auf einer Parkbank, unter einer Brücke, in einem Hinterhof? <BR /><BR />Ich habe keine Ahnung, keinen Vergleich, kein Erlebnis, das nachfühlen kann, wie es Obdachlosen geht, die gegen das Erfrieren ankämpfen müssen. Mindestens 130 sind es in Bozen. In dieser so reichen Stadt, denen die Ärmsten der Armen ein Armutszeugnis ausstellen, weil es „Politik und Verwaltung auch heuer wieder verabsäumt haben, im Winter ausreichend menschenwürdige Schlafplätze bereitzustellen“, wie es „housing first bozen“ auf den Punkt bringt. <BR /><BR />Damit übernimmt der neu gegründete Verein die Verantwortung einer Zivilgesellschaft, die nicht zuwartet, sondern handelt: dormizil heißt das (ausschließlich von Freiwilligen!) betriebene Nachtquartier in der Rittner Straße 25 so trefflich. Ein dormizil, das 25 Obdachlosen von 10. November bis Ende März ein Domizil stellt. <BR /><BR />Sie sind im reichen Bozen weniger arm dran, weil es beherzte Bürger gibt, die nicht wegschauen, die nicht zuwarten, sondern handeln. Wenn Not am Menschen ist, und es die Menschlichkeit gebietet.<BR /><BR /><BR /><BR />ZUR PERSON<BR /><BR />In einer wöchentlichen Kolumne schreibt Irina Lino auf s+ über aktuelle Themen verschiedenster Art. Irina Lino ist 1967 in Klagenfurt geboren und seit 1987 Kulturjournalistin. Zahlreiche Beiträge in Büchern und Katalogen zu Kulturthemen; seit 2009 Kultur-Ressortleiterin der „Kronen Zeitung“ Kärnten sowie Kolumnistin.<BR />