Der bekannte Primar erklärt im Interview auch, wo unser Bildungssystem Aufholbedarf hat, warum er ein Grundeinkommen für alle bis 18 Jahre fordert und warum wir eine grundlegende Reform der Politik brauchen. <BR /><BR /><b>Herr Primar, fahren Sie jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit und wieder zurück?</b><BR />Prof. Dr. Andreas Conca: Ja, von Vilpian nach Bozen und retour; für mich ist das auch eine Resilienzübung. Denn eine wichtige Frage in der Resilienz lautet: Wie bereitet man sich auf Stresssituationen vor? Wenn ich jeden Tag bei fast jeder Witterung zur Arbeit fahre, trainiere ich Herz, Körper, Geist und Seele. Damit kann ich u. a. in unerwarteten Situationen fokussiert und leistungsfähig sein. Ich kann mich dafür „geschmeidig“ – resilient – machen. Ich kann anpassungsfähiger werden, aber gleichzeitig ich selbst bleiben. Anpassungsfähigkeit bedeutet nicht, sich einfach anzupassen, sondern kreativ mit der Situation umzugehen, in der man sich befindet. Und das muss trainiert werden.<BR /><BR /><b>Woher kommt der Begriff Resilienz?</b><BR />Dr. Conca: Der Begriff Resilienz kommt aus dem Bereich der Physik. Es ist die Anpassungsfähigkeit von Material. Als gutes Beispiel gilt das Wasser, das sich temperaturabhängig verändern kann: flüssig, fest und gasförmig. So können auch wir unseren Zustand verändern, anpassungsfähiger, kreativer, schneller, sensibler und aktiver werden. Zwischen diesen Zuständen zu wechseln, muss geübt werden. Warum ist der Resilienz-Begriff jetzt en vogue? Während man in den 1960er- und 70er-Jahren vom Vulnerabilitäts-Stressmodell sprach und sich auf die Schwächen, die Defizite und die Verletzbarkeit konzentrierte, geht man heute davon aus, dass es nur Stressmodulationen gibt. Stressmodulation ist jener Zustand, in dem unser Körper und Geist, unsere Seele, ja sogar unser Sein sich an Situationen anpasst und sich entwicklungsorientiert, überlebensorientiert oder auch regressiv der Situation stellt.<BR /><BR /><b>Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Resilienz sind also nicht angeboren?</b><BR />Dr. Conca: Nein, eben nicht. Es ist wie fast alles im Leben: Man wird mit irgendwelchen Talenten ausgestattet. Aber es hängt dann im Wesentlichen davon ab, wie gesellschaftliche Wirtschafts- und Bildungssysteme, sozioökonomische und Sozialbildungsverhältnisse auf die gesamte Gesundheit einwirken.<BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-57698527_quote" /><BR /><BR /><b><BR />Wie trainiert man Resilienz?</b><BR />Dr. Conca: Gutes Essen, gute Bewegung, gute Beziehungen/Begegnungen und gute Bildung sind die Basis für ein gesundes und damit resilientes Leben. Das gehört zur Resilienzübung. Ich sage immer, Resilienz besteht aus den großen 3 „B“: Begegnung, Bildung, Bewegung. Körperliche Aktivität ist ganz wichtig: Sie bestimmt unsere geistige und seelische Welt, und umgekehrt bestimmt unser Geist unsere körperliche Aktivität. Deshalb kann man etwa über mentale Prozesse extrem gute körperliche Leistungen erbringen.<BR /><BR /><b>Zum Beispiel?</b><BR />Dr. Conca: Denken Sie an Leistungssportler. Was macht ihre Sonderstellung, abgesehen von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wirklich aus? Das körperliche Training? Jein. Es macht vielleicht 33 Prozent aus. Dann kommen etwa 15 Prozent Talent dazu. Der Großteil ist Regenerations- und Fokussierungsfähigkeit. Regenerieren und fokussieren. Ich war kürzlich bei der Buchvorstellung von Eva Lechner, die bei der Cross-Country-Weltmeisterschaft den zweiten Platz erreicht hat. Sie erzählt, dass sie mit einer Schweizerin im Kampf um den dritten Platz war. Irgendwie hat sie es nicht geschafft, sie abzuschütteln. Sie war so mit dem Kampf beschäftigt, dass sie nichts anderes gesehen hat. Bis der Trainer in einer Kurve schreit: „Eva, da vorne ist die Australierin, sie ist nur noch 30 Sekunden weg!“ In dem Augenblick kommt sie aus diesem verdichteten Kampf heraus, schaut auf, sieht vor sich die Australierin, konzentriert sich nicht mehr auf den verdichteten Kampf und entscheidet sich dafür, die Australierin „anzudocken“ – das ist alles mental. Das kann man körperlich nicht trainieren, es ist eine Einstellung. Dadurch entsteht eine Form, nicht von Optimismus oder Pessimismus, sondern von Zuversicht. Man hat plötzlich eine Vision, im wahrsten Sinne des Wortes ein Ziel vor Augen. Und das brauchen wir. Eine Form von Zuversicht, eine Vision, wissend, dass man leiden, Schmerzen ertragen und Rückschläge aushalten, sich die Hände schmutzig machen muss, aber man gleichzeitig auch Glücks- und Liebeserlebnisse hat. Zuversicht bedeutet, mit dem, was man zur Verfügung hat, zielgerecht zu handeln. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="851495_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Und das gilt für den Leistungssportler genauso wie für den Büroangestellten?</b><BR /> Dr. Conca: Was mich immer fasziniert hat, ist der Mensch an und für sich und wie er Resilienz übt, Leistungen bringt, Herausforderungen annimmt und die extreme Situationen erlebt. Jeder von uns, von der Hausfrau bis hin zum Extremsportler, hat jeden Tag seine Herausforderungen. Jeden Tag müssen wir etwas leisten, jeden Tag müssen wir Spitzensport betreiben, und jeden Tag sollten wir eigentlich regenerieren, weshalb ein Motto meiner Resilienzübung lautet: jeden Tag 8 Minuten Urlaub machen und 2 Minuten sterben. <BR /><BR /><b>2 Minuten sterben?</b><BR />Dr. Conca: Nichts tun. Im Nichts versinken. Sich in Leichtigkeit üben, Erwartungen abschütteln, sich dem Universum zugehörig fühlen und Erwartungen abschütteln, um dann wieder fokussiert zu sein. <BR /><BR /><b>Welche Rolle spielt dabei die Freizeit?</b><BR />Dr. Conca: Andere Bedürfnisse und Zielsetzungen prägen die heutige Zeit; denken Sie an die „Life-Balance-Culture“ oder auch an die Nachfrage von Wellness-Angeboten im weitesten Sinne. Der Mensch muss die freie Zeit neu definieren. Ich bin in der Generation aufgewachsen, die sich über den Job definiert hat. Meine Kinder sagen mir zurecht: ,Papa, ist schon gut, dass du im Job brav bist, aber wo bleibst du als Papa?„ Und ich bin so erzogen worden, dass ein Papa, der in seinem Job gut ist, auch in der Familie tolle Arbeit leistet. Aber das ist in der Zwischenzeit kein Thema mehr. Ich bin ein Auslaufmodell! Aber die Fähigkeit, einzusehen, dass man ein Auslaufmodell ist und die Verantwortung für die nächste Generation trägt, ist eben ein Zeichen von Resilienz. <BR /><BR /><b>Ist Verantwortung lernen und pflegen auch eine Resilienzübung?</b><BR />Dr. Conca: Jeder, der resilient ist, trägt auch Verantwortung für sich und andere und hat nicht nur Rechte. Seien wir froh, dass die Aufklärung Rechte mit sich gebracht hat, das hat aber nichts mit Gerechtigkeit, sondern nur mit Rechtsprechung zu tun. Resilienz ist eine Herausforderung an uns alle, es ist eine kollektive Frage, die wir beantworten müssen. Und es gibt sie, die Antworten – man muss nur früh genug damit beginnen. <BR /><BR /><b>Bei den Kindern und Jugendlichen? Begegnungen, Bewegung und Bildung: Das ist eigentlich genau das, worauf Schulen vorbereiten bzw. was man in der Schule trainiert.</b><BR />Dr. Conca: Was man dort tun sollte. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-57698529_quote" /><BR /><BR /><b><BR />Wird das nicht getan?</b><BR />Dr. Conca: Das hat sich in der Corona-Zeit deutlich gezeigt: Der Lockdown war ein Stresstest für die Gesellschaft. Bei diesem Stresstest wurde uns innerhalb der ersten 14 Tagen klar, dass es nicht nur den Tod gibt, der uns alle gleichmacht, sondern auch einen Lockdown. Aber nach dieser Zeit hat man auch gesehen, dass die Kinder in der Schule nicht gebildet, sondern geschult und betreut werden. Zur Bildung gehört nämlich fächerübergreifender Sprachunterricht. Die Begegnung von Kulturen und Menschen ist entscheidend bei der Entwicklung von Toleranz und Solidarität und Resilienz. Naturwissenschaftlich ist es so, dass wenn wir fächerübergreifenden Sprachunterricht hätten, hätten unsere Kinder am Ende ihrer Grundschulzeit 150 Milliliter Hirn mehr, was mit mehr Lernpotenzialität einhergeht. Auch muss man ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle bis zu 18 Jahren einführen, denn nur so haben die Kinder auf dieser Welt dieselben sozioökonomischen Grundvoraussetzungen, welche ihnen einen gleichgestellten Bildungszugang ermöglichen. <BR /><BR /><b>Hat Corona auch in anderen Bereichen Schwächen des modernen Menschen aufgezeigt?</b><BR />Dr. Conca: Die Frauen kamen nach 150 Jahren Emanzipationsbestrebungen plötzlich an den Herd zurück. Dabei mussten sie eine Leistung, die sie normalerweise auf 40 bis 48 Stunden in der Woche aufgeteilt haben, in 8 Stunden verdichtet erbringen. Auch „nur“ eine Bankangestellte, die zu Hause auf die Kinder schauen musste, musste plötzlich untertags auf den Mann treffen, im Homeoffice arbeiten, alles innerhalb von 8 Stunden. Warum macht man aber einen Stresstest? Um zu sehen, ob man strukturell resistent ist, oder ob es inhaltliche Abläufe gibt, die eben nicht funktionieren. Man schaut sich die Strukturstärken oder -schwächen an und die Inhaltsstärken und -schwächen. Man überprüft die Resilienzfähigkeit respektive Vulnerabilität. Weiters hat sich innerhalb von 14 Tagen herausgestellt, dass sich die Armutsschere noch weiter geöffnet hat und noch weiter öffnen wird. Der Lockdown war ein Beschleuniger, aber sicherlich nicht ursächlich für diese sozio-ökonomische Schere.Was mich in dieser Zeit auch persönlich bedrückt hat: Die Alten wurden einfach weggesperrt. Da geht es mir nicht darum, dass man Leute weggesperrt hat, weil man das sicherlich in guter Absicht getan hat, weil man sie retten wollte. Ich will niemanden Böses unterstellen und es geht mir auch nicht darum, dass man Leute weggesperrt hat, um sie zu retten. <BR /><BR /><b>Aber...</b><BR />Dr. Conca: ...aber wie kann man einer Generation, die uns erlaubt hat, durch ihr eigenes Blutvergießen die freie Meinung zu äußern, nicht um ihre Meinung fragen, was sie möchten? Und ich kann Ihnen garantieren, dass es 80- bis 90-Jährige gegeben hat, die es als tödlich empfunden haben, ihre Liebsten nicht mehr sehen zu dürfen. <BR /><BR /><b>Wie erreicht man mehr Selbstbestimmung für alle?</b><BR />Dr. Conca: Wir haben eine repräsentativ gewählte Demokratie, die sich selbst vertritt. Die Interessensvertretung der Regierung sind die eigenen, nicht jene des Volkes oder im Hinblick auf das Volk und auf das Sein des Menschen. Wir brauchen eine transgenerationale Politik, eine transgenerationale Gesundheits- und Bildungspolitik, wir brauchen eine Reform der Politik. Die Form der Politik, die in den letzten 200 Jahren entstanden ist, war ungemein wertvoll und eine große Errungenschaft. Doch sie ist mittlerweile nur noch vulnerabel. <BR /><BR /><b>Warum?</b><BR />Dr. Conca: Weil der Antagonismus zwischen Kommunismus und Kapitalismus uns Ideen gegeben hat, um Gesellschaften zu organisieren. Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde klar, dass es diesen Antagonismus, diese Dialektik, nicht mehr gibt, darum überwiegt eine dieser beiden Formen. In dem Augenblick wird die Idee zur Ideologie, und wenn eine Idee zur Ideologie wird, ist sie nicht mehr wachstumsorientiert. Das ist das Paradoxon: Wir haben eine wachstumsorientierte Marktwirtschaft, die aber in sich alles zerstört. Man ist zwar wachstumsorientiert und gleichzeitig absolut toxisch.<BR /><BR /><b>Also findet derzeit eine Rückentwicklung statt?</b><BR />Dr. Conca: Man kann in Zeiten radikaler, universeller und geopolitischer Veränderungen nicht nur an Transformation arbeiten; Regressionen und Rückschritte sind notwendige Zustände. Man muss zumindest teilweise rückwärtsgehen. Auch in der Psychotherapie gibt es Phasen, in denen man sich rückentwickelt. Wenn man an den Punkt gelangt, an dem es nicht nur Krisen, sondern Katastrophen gibt, dann tut man gut daran, jene Strategien, die dazu geführt haben, nicht mehr anzuwenden. Stattdessen sollte man Neues probieren. Lieber neue Fehler machen, als immer dieselben. Wir müssen die Fähigkeit erlernen, auch zu scheitern, ohne die Visionen für uns selbst und die Gesellschaft zu verlieren. <BR /><BR />