<BR /><BR />Jahrhundertelang galt der männliche Körper in der medizinischen Forschung und Praxis als Norm, die Frau hingegen als eine Variante davon. Studien, auf denen Behandlungen von Erkrankungen basieren, wurden fast nur an Männern durchgeführt – mit erheblichen Auswirkungen auf die medizinische Versorgung von Frauen. Die Gendermedizin bzw. die geschlechtersensible Medizin, die ihre Anfänge in den 1970er Jahren hat, begann, sich mit den Unterschieden zwischen Mann und Frau im Bereich Vorsorge, Diagnostik und Therapie zu beschäftigen, die nichts mit den Fortpflanzungsorganen zu tun haben.<h3> Männer ticken anders, Frauen auch</h3>Frauen haben beispielsweise ein stärkeres Immunsystem als Männer. Das zeigt sich schon sehr früh. „In den ersten vier Lebensjahren sind Buben häufiger krank, sie müssen öfter wegen schwerer Infektionen in den Krankenhäusern aufgenommen werden als Mädchen“, sagt Dr. Rosmarie Oberhammer, Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin am Brunecker Krankenhaus. Ein Grund: Die Gene für die Immunabwehr liegen auf dem X-Chromosom. Frauen haben zwei davon, Männer nur eines. „Damit hat die Frau bestimmte Geninformationen doppelt. Fällt die Information, die auf einem Gen hinterlegt ist, aus, kann bei der Frau auf dem zweiten X-Chromosom die Information abgerufen werden, beim Mann nicht“, erklärt die Ärztin. Auch Hormone spielen eine Rolle: Das weibliche Geschlechtshormon Östrogen stärkt die Abwehrkräfte, das männliche Testosteron bremst sie. Frauen reagieren schneller und stärker auf Krankheitserreger – und auch auf Impfstoffe. Sie bilden mehr Antikörper, d.h. die Frau hat einen besseren Schutz durch die Impfung. Gleichzeitig sind Frauen anfälliger für Autoimmunerkrankungen, weil ihr aktiveres Immunsystem öfter auch körpereigene Zellen angreift. <BR /><BR /><BR /><embed id="dtext86-70094975_quote" /><BR /><BR />Auch Medikamente können unterschiedlich wirken – abhängig von Körpergröße und -gewicht sowie Wasser-Fett-Verteilung im Körper. „Frauen bauen viele Wirkstoffe langsamer ab“, sagt Dr. Oberhammer. „Außerdem hat die Frau im Vergleich zum Mann eine geringere Menge bestimmter abbauender Leberenzyme, eine verzögerte Magenentleerung, und die Nierenfunktion nimmt mit zunehmendem Alter stärker ab.“ Dies beeinflusst Aufnahme, Abbau und Ausscheidung von Arzneistoffen. Männer weisen z.T. größere Mengen bestimmter Enzyme auf, die neben Medikamenten auch Substanzen, wie Alkohol, schneller abbauen. „Männer vertragen deshalb in der Regel mehr Alkohol.“ Hier gibt es auch ethnische Unterschiede: Japaner haben ebenfalls weniger von diesem Enzym, weshalb sich alkoholische Getränke bei ihnen schneller bemerkbar machen. <h3> Richtige Dosierung für die beste Wirksamkeit</h3>Das zeigt, dass eine gerechtere medizinische Versorgung nicht nur das Geschlecht im Blick haben muss. „Auch Ethnien, Alter, Stoffwechsel, Vorerkrankungen oder Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten werden in der Medizin zunehmend berücksichtigt“, sagt Dr. Oberhammer. Die übliche Dosierung eines Schmerzmittels, die für einen Mann mit 90 Kilo passend ist, kann bei einer Frau mit 50 Kilogramm oder einem kleingewachsenen asiatischen Mann überdosiert sein und häufiger oder stärkere Nebenwirkungen hervorrufen. Das gilt auch für Anästhesien: Art und Dosierung müssen individuell angepasst werden, um die beste Wirksamkeit zu erreichen.<BR /><BR />Dass jede Patientin und jeder Patientin anders ist, das zeigt sich auch in den Symptomen. Bei einem Drittel der Frauen äußert sich ein Herzinfarkt mit Schmerzen im Bauch, Kiefer oder zwischen den Schulterblättern – anders als bei den meisten Männern, wo ein Druckgefühl auf der Brust und ein hinter dem Brustbein auftretender und in den linken Arm ausstrahlender brennender Schmerz mit Übelkeit und Kaltschweißigkeit vorherrschen.<BR />Diese vielfältigen Unterschiede sind heute Ärztinnen und Ärzten weitgehend bekannt, auch in den medizinischen Studien ist Diversität angekommen. Dennoch bleibt Aufklärung und Sensibilisierung wichtig, sagt Dr. Oberhammer – denn stereotype Denkmuster gibt es noch immer.