Seit bald einem Jahr müssen Krankenhäuser die enorme Last der Pandemie abfedern. Was heißt das konkret für Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und alle anderen, die im Ausnahmezustand arbeiten? Eine Südtirolerin*, die im Universitätsspital Zürich arbeitet, erzählt von ihrer Arbeit und richtet einen eindringlichen Appell an junge Menschen und eine Frage an die heimische Politik. <BR /><BR /><BR /><BR />„Ich liebe meine Arbeit. Ich kann mir auch keine andere Arbeit vorstellen. Und daher will ich dir erzählen, was ich täglich auf der Intensivstation mache. Wir kämpfen eigentlich jeden Tag wortwörtlich um Menschenleben. Wir sehen den Tod und das Leben vor Augen. Wir reanimieren Patienten. Ja, wie im Film. Ich muss lebensrettende Entscheidungen treffen. Schnell. Ohne lange zu überlegen. Das ist meine Arbeit.<BR /><BR />Was siehst du täglich? Du siehst Menschen mit Maske auf der Straße, beim Einkaufen. Wieso sie die Maske tragen und sich vermehrt an die Hygieneregeln halten sollten, ist nicht allen bewusst. Die Jungen gehen heimlich feiern, da ihnen das öffentliche Leben verboten wird. Ich verstehe das. Auch mir fehlt das öffentliche Leben. Dann stecken sie sich mit Corona an. Sie sind jung. DU bist jung. Sie haben kaum Symptome. Wissen manchmal gar nicht, dass sie Corona haben. <BR /><BR /><b>Was Intensivstation bedeutet</b><BR /><BR />Vielleicht spreche ich von dir? Dann isst du mit deinem Vater zu Mittag. Er leidet an Bluthochdruck. Keine große Sache. Er ist ja sonst jung und fit. Du steckst ihn dann aber mit Corona an. Er landet bei mir. Auf der Intensivstation. Wird mittels Maschine beatmet. Hat also einen Schlauch im Mund bis in die Lunge. Wird ins künstliche Koma versetzt. Hat eine Sonde in der Nase, die bis in den Magen verläuft, mittels der er ernährt wird. Dieser Mann ist vielleicht noch nicht einmal 60 Jahre alt. Dein Vater. <BR /><BR />Dann ist es an der Zeit,dass du auf die Intensivstation vorbeikommst und uns besuchen kommst. Deinen Vater besuchen kommst, und ihn siehst: Ausgeliefert. Bewusstlos. Verkabelt. An einem Monitor hängend, der die ganze Zeit alarmiert. Tagelang im Bett ohne es mitzubekommen und sich bewegen zu können. Ohne die Augen zu öffnen. Ohne zu sprechen. Von mir die Zähne geputzt bekommen. Von mir gewaschen zu werden, im Bett. Wenige Meter daneben ein anderer Mann, seine Privatsphäre wird mittels einem Vorhang gewahrt. Der Stuhlgang wird von mir weggewischt. Ich kümmere mich um ihn. Tagtäglich. Um DEINEN Vater, den DU vielleicht angesteckt hast. Um einen Mann, der Kinder und Frau hat, der die Familie ernährte, der am Wochenende gerne mit dir Skifahren ging. <BR /><BR /><b>6 Nachtdienste am Stück</b><BR /><BR />Dieser Mann und viele mehr liegen bei mir. Du bist daheim und weißt, dass er jeden Moment sterben könnte. Du kannst nichts dagegen tun außer zu hoffen und uns zu vertrauen. Ich wünsche niemandem, ein Familienmitglied auf der Intensivstation besuchen zu müssen. Aber ich wünschte mir, dass die Leute sehen könnten, was wir täglich leisten. Gerne leisten. Ohne zu meckern. Ohne Gegenleistung zu verlangen. Mit dem gleichen Gehalt wie eine Sekretärin. Aber mit bis zu 6 Nachtdiensten am Stück.<BR /><BR />Jetzt fragst du dich vielleicht endlich, wie es mir dabei geht..<BR />Ich versuche es dir zu erklären: Kennst du das Gefühl wenn du dringend aufs Klo musst, es aber weit und breit kein Klo gibt? Wenn du im Auto im Stau bist und die nächste Raststätte 20 Kilometer entfernt ist? Du musst es einhalten. Du zählst die Minuten! Ich halte jeden Tag meine Bedürfnisse zurück, um für Deine Angehörigen zu sorgen. Um die Beatmungsmaschine so einzustellen, dass dein Vater genügend Luft bekommt. Genau. Dafür gehe ich auch stundenlang nicht aufs Klo! Ich trinke selten genug, weil ich gerade DEINEN Vater mit lebensnotwendigen Medikamenten versorgt habe. <BR /><BR />Am Ende vom Tag dann habe ich Kopfweh, weil ich zu wenig getrunken habe, weil ich keine Zeit hatte. Weil es unter der Schutzausrüstung zu umständlich ist. Trotzdem gehe ich jeden Tag gerne ins Spital, jeden Tag erwartet mich etwas Neues. Langweilig ist mein Job sicher nicht...<BR />Meine Arbeit kann nicht jeder durchführen. Man muss dafür eine Ausbildung absolvieren und jahrelange Erfahrung haben. Man muss wissen, welches Medikament man jetzt spritzen muss, um das Leben zu retten, und welches Medikament einen umbringen kann. <BR /><BR /><b>Warum der Lockdown?</b><BR /><BR />Dass die Politik noch nicht verstanden hat, dass sich etwas im Gesundheitssystem ändern muss oder sich ein Beispiel an anderen Ländern nimmt, wo es besser läuft, ist ein anderes Thema.<BR /><BR />Wieso der Lockdown? Am Ende geht es darum, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Das System, in das seit Jahren nicht mehr investiert wurde. Es wurde nichts getan, um uns Pfleger nach der guten zweisprachigen Claudiana-Ausbildung in Südtirol zu behalten. Man ließ uns zu Hunderten ins Ausland arbeiten gehen, wo wir bessere Arbeitsverhältnisse haben. Und nun muss die Bevölkerung unter anderem dafür zahlen, dass die Politik sich jahrelang nicht für uns als Personal, für moderne Prozesse eingesetzt hat.<BR /><BR />Doch das Virus gehört irgendwann hoffentlich der Vergangenheit an, WIR werden aber auch in Zukunft da sein, um für Deine Verwandten zu kämpfen. Wir lieben unserem Job.<BR /><BR />Vielleicht denkst du nun ein wenig anders über die gesamte Situation. Über das Corona Virus. Denn es kann jeden treffen. Bleib gesund!“<BR /><BR />* <i>Name ist der Redaktion bekannt</i><BR /><BR /><i>STOL sucht kurze Erfahrungsberichte von Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Krankenhäusern. Es genügt, in wenigen Zeilen Einblick in die Arbeit zu geben, um der Öffentlichkeit zu zeigen, wie sehr viele durch leichtsinniges Verhalten und Missachtung der Coronaregeln die Situation verschärfen. Schicken Sie einen kurzen Bericht an: redaktion@stol.it Die Einsendungen werden überprüft und unter Einhaltung der Anonymität veröffentlicht!</i><BR /><BR />