Martin Kiem ist zertifizierter Natur- und Waldtherapieführer und weiß, warum uns der Wald und die Natur gut tun – und wie wir ihre wohltuende Wirkung erleben. <BR /><BR /><b>Herr Kiem, wann haben Sie zum letzten Mal im Wald gebadet?</b><BR />Martin Kiem: Das war in dieser Woche, da war ich sozusagen informell waldbaden: Wenn ich mit meinen 2 Kleinkindern in den Wald gehe, bin ich als Vater zwar in der Beobachterrolle, versuche aber doch, mich mal hinzusetzen, achtsam zu sein, alle Sinne einzuschalten. Dann gibt es auch das formelle Waldbaden, wenn ich mit einer Gruppe hinaus in den Wald gehe. <BR /><BR /><b>Einmal die Woche reicht?</b><BR />Kiem: Studien sagen: Je häufiger und je länger umso eher stellen sich die psychophysischen Gesundheitseffekte ein. Das ist individuell unterschiedlich und hängt davon ab, wie viel Natur man bereits in seinem Leben hat: Wenn jemand nie im Wald ist, dann ist eine halbe Stunde in der Woche schon ein guter Beginn, wenn man öfter draußen ist, dann ist 2 Mal pro Woche gut. Also: Wenn bisher keine Natur im Leben Platz hatte, dann sporadisch, wenn sporadisch, dann regelmäßig und wenn regelmäßig dann häufig. <BR /><BR /><b>Was ist Waldbaden? Umarmt man dabei einen Baum?</b><BR />Kiem (lacht): Das ist die übliche Frage. Man kann beim Waldbaden einen Baum umarmen, muss es aber nicht. Waldbaden ist eine naturbezogene Praxis, eine Art und Weise, wie wir Natur erfahren und erleben. Der spezielle Fokus liegt darauf, die Naturverbundenheit zu fördern. Es gibt viele Varianten, wie man das machen kann. Das Waldbaden ist ein Zugang, bei dem es um Entschleunigung geht, um Langsamkeit, Achtsamkeit, um das Zur-Ruhe-Kommen. Ganz wichtig dabei ist, einen Zugang über die Sinne zu schaffen, also ganz bewusst über unsere Sinnestüren die Umgebung wirken zu lassen. Und auf diese Weise eine Verbindung herzustellen. <BR /><BR /><embed id="dtext86-58844524_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Kann das nur der Wald oder kann das die Wiese auch?</b><BR />Kiem: Wald ist eine Landschaftsform, von der wir wissen, dass sie Menschen anzieht. Aber ich sage: Nicht nur der Wald, sondern die Natur tut gut. Mein Hauptgebiet ist die Ökopsychologie, die Verbindung von Ökologie und Psychologie, von Mensch und Natur. Es geht darum, dass jeder die Landschaftsform findet, die ihm gut tut. Jemand aus der Stadt fühlt sich oft im Innenstadtpark wohler als im Wald. Weil nicht jeder mit Wald Ruhe, Entspannung und Erholung verbindet, sondern vielleicht an die Gebrüder Grimm, Prozessspinner, Zecken, Bär und Wolf denkt. Wir wissen, dass der Wald klimatologische Vorteile hat: Man hat Reinluft, ein stabileres Klima, weniger Feinstaub und ist UV-geschützt. Aber auch andere Landschaftsformen haben ihre Vorteile. Zum Beispiel das Meerklima, das ein Reizklima ist. Es ist nicht das eine besser als das andere. Die Natur tut gut. Und im Idealfall findet jeder die Landschaftsform, die für einen am geeignetsten ist. Das kann Wald sein, muss es aber nicht.<BR /><BR /><b>Was am Wald tut uns gut?</b><BR />Kiem: Wir sind als Spezies in Abstimmung mit einer Umgebung entstanden und haben uns im Kontext mit unserer Umgebung weiterentwickelt. Für 99,9 Prozent der Lebenszeit eines Menschen war die Natur die natürlichste Umgebung. Und häufig waren das die Wälder. Das hat uns psychisch geprägt, aber auch viele physiologischen Systeme haben sich in der Interaktion mit der Umgebung weiterentwickelt. In den vergangenen 150 bis 200 Jahren ist die Interaktion mit der Natur aber weniger geworden. In der Ökopsychologie nennen wir das Naturentfremdung. Für immer mehr Menschen ist ein Aufenthalt in der Natur Mangelware geworden. Mit dem Waldbaden bieten wir ein Angebot, damit der Mensch wieder mehr mit einer Welt, die ihn geprägt hat und prägt, in Kontakt treten kann. <BR /><BR /><b>Zurück zu den Wurzeln?</b><BR />Kiem: Absolut. Waldbaden ist nichts Neues, das man uns beibringen muss. Es ist ein Erinnern an etwas, das in uns steckt. Waldbaden ist gewissermaßen eine Form von Rückführung, nichts Esoterisches, sondern einfach den Menschen wieder zurück zu den Wurzeln bringen, Momente von Naturerfahrung ermöglichen, die für uns das Natürlichste auf der Welt ist. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="879056_image" /></div> <BR /><BR /><BR /><b>Was macht der Wald mit uns bzw. unserer Gesundheit?</b><BR />Kiem: Von Studien wissen wir, dass Waldbaden eine entspannende Wirkung hat. Es beeinflusst das autonome Nervensystem, das wichtig für Stress und Entspannung ist. Waldbaden wirkt auf unser Hormonsystem und hier vor allem stabilisierend für Cortisol, ein Hormon, von dem die meisten wegen chronischer Anspannung zu viel haben. Und Waldbaden hat eine stärkende Wirkung aufs Immunsystem. Unser Immunsystem wird im Wald trainiert. Wir treffen dort – evolutionstechnisch gesehen – auf viele alte Freunde, nämlich Mikroorganismen, Bakterien, die unser Immunsystem stärken. Wir sprechen hierbei von Immunkonditionierung. Also kurzum: Waldbaden ist eine sehr ganzheitliche Gesundheitsvorsorge. <BR /><BR /><b>Wie geht Waldbaden? Wie Spazieren im Wald?</b><BR />Kiem: Waldbaden hat einige Gemeinsamkeiten mit Spazierengehen oder Wandern, aber auch 3 Hauptunterschiede. Einmal die Langsamkeit. Die normale Gehgeschwindigkeit ist 3 bis 5 km/h, also in 3 Stunden geht man 10 bis 15 Kilometer. Beim Waldbaden mache ich in 3 Stunden vielleicht 300 Meter. Also 10 bis 15 Mal langsamer, als man sich normalerweise fortbewegt. Das ist bis zur Schmerzgrenze langsam. Warum? Beim Waldbaden gilt: Bemerke einfach alles. Je mehr ich mich hetze und stresse, desto mehr verpasse ich; je langsamer und entschleunigter ich bin, desto mehr kann ich aufnehmen. <BR />Das Zweite ist die Gegenwartsbezogenheit. Wenn wir spazieren gehen, sind wir meist mit den Gedanken ganz woanders. Wir nennen das zeit-zonen-versetzt: Der Körper ist im Wald, also in der Gegenwart, der Kopf aber in der Vergangenheit oder Zukunft. Beim Waldbaden versuchen wir durch spezifische Übungen Kopf und Körper in die Gegenwart zu bekommen, sodass die Aufmerksamkeit dort ist, wo wir gerade sind. <BR />Und das Dritte ist das Besinnen auf die Sinne. Wir können über die Welt nachdenken oder wir können sie erleben. Wenn ich denke, fühle ich wenig, wenn ich aber wirklich im Fühlen und Wahrnehmen bin, dann hat der Kopf Pause. Beim Waldbaden lernen wir durch Übungen das Denken zu parken und bewusst die Sinne einzuschalten. Wenn wir in Gedanken sind, können wir nur schwer eine Verbindung mit dem Wald herstellen. Das muss man lernen…<BR /><BR /><embed id="dtext86-58844528_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Sie lehren Waldbaden. Sind Sie ein Waldbademeister?</b><BR />Kiem: Ich habe Psychologie studiert und dann in Neuseeland eine Ausbildung zum zertifizierten Natur- und Waldtherapieführer gemacht. Ich bin aber sehr vorsichtig mit dem Begriff Therapie, weil Waldbaden Prävention ist, Erhalten und Fördern von bestehendem Wohlbefinden. In Österreich aber gibt es in der Tat den Titel Waldbademeister, in Deutschland heißt es Wald-Gesundheitstrainer.<BR /><BR /><b>Sie haben ursprünglich mit burnout-gefährdeten Managern gearbeitet...</b><BR />Kiem: Ich habe nach meinen Psychologiestudium in Australien eine kleine Firma geführt und hauptsächlich in großen Konzernen daran gearbeitet, das Wohlbefinden am Arbeitsplatz zu fördern. Wenn man sich wohlfühlt am Arbeitsplatz, dann leistet man mehr, besser und nachhaltiger. Weil der Südtiroler aber immer Heimweh hat, kehrte ich irgendwann zurück, und es ergab sich die Gelegenheit, im Bereich Ökopsychologie einzusteigen. Das Land Südtirol hat 2017 den Wald zum Ressourcenthema Nummer 1 gemacht, und ich war der erste im Alpenraum mit so einer Ausbildung. Seither bin ich in diesem Bereich tätig. <BR /><BR /><b>Also hatten Sie vorher eher weniger mit Waldbaden zu tun?</b><BR />Kiem: Genau. Als Bauernsohn habe ich Wald und Wiese eher als Arbeitsplatz gesehen. Während ich dem Vater beim Holz helfen musste, sind die anderen coolen Kinder zum Schwimmen gegangen. Erst über die Naturentfremdung in Australien habe ich gemerkt, wie wichtig die Natur ist. Ich habe 6 Jahre in der Innenstadt von Sydney gelebt und irgendwann gemerkt, dass es mir besser geht, wenn ich nach einer intensiven Woche in den Nationalpark fahre. Ich war ruhiger, habe besser geschlafen. Deshalb habe ich die Ausbildung zum Natur- und Waldtherapieführer gemacht. Beruflich nutze ich das, seit ich wieder hier in Südtirol bin. Und natürlich schätze ich es privat sehr. <BR /><BR /><b>Sie haben die Stadt angesprochen. Ist Waldbaden also eher etwas für Städter als für den klassischen Südtiroler, der von Natur umgeben ist?</b><BR />Kiem: Natürlich sind wir hier in Südtirol mehr von Natur umgeben als in Sydney. Aber es gibt ein Sprichwort, das besagt: Wenn du die Art und Weise, wie du auf Dinge schaust, änderst, dann ändern sich die Dinge selber. Man kann also als Wanderer, Bergläufer oder Kletterer viel in der Natur sein, aber manchmal muss man die Linse der Natur gegenüber ändern, dann ändert sich die Wahrnehmung. Außerdem bin ich keiner, der sagt, dass alle Städter hinaus in die Natur müssen, das ist unrealistisch. <BR /><BR /><b>Warum?</b><BR />Kiem: In der EU leben 75 Prozent der Bevölkerung in Städten. Wenn alle 3 Mal in der Woche für 3 Stunden in die Natur strömen, das geht ja gar nicht. Deshalb müssen wir uns fragen, wie wir mehr Natur zu den Menschen bringen. Naturnahe Städteplanung ist für mich daher ein großes Anliegen. Es geht darum, Arbeitsplätze und Wohnräume in den Städten, wo Menschen 90 Prozent ihrer Zeit verbringen, so mit Grün zu gestalten, dass es präventiv und gesundheitsfördernd wirkt. <BR /><BR /><b>Der Baum vor dem Fenster?</b><BR />Kiem: Das ist ein erster Schritt. Und dass wir uns bewusst werden, dass das vor dem Fenster lebt. Dass wir nicht Dinge und Gegenstände sehen, sondern Lebewesen. Eine Koexistenz, wie wir sie von früher kennen. Man muss nicht einen Baum umarmen, aber die Natur und das Grün bewusst wahrnehmen, sich Mikromomente von Auszeit nehmen, die Mittagspause im Park verbringen und fühlen, sehen, riechen. Oder die Zimmerpflanze in der Wohnung, Gemeinschaftsgärten, Parks – wir dürfen die kleinen grünen Oasen nicht unterschätzen und vernachlässigen. <BR /><BR /><BR />ZUR PERSON<BR /><BR />Martin Kiem hat in Innsbruck Arbeits- und Organisationspsychologie studiert. Danach arbeitete er als Coach und Psychologe in Australien, wo er das Beratungsunternehmen „Frontier Wellbeing“ gründete. Er hat mehrere Zusatzausbildungen absolviert, u. a. in Natur- und Waldtherapie. Seit seiner Rückkehr nach Südtirol vor 6 Jahren arbeitet er in diesem Bereich, vorwiegend gibt er sein Wissen bei Lehrgängen weiter. Er begleitet auch Gruppen zum Waldbaden und hält sich auch privat gerne zwischen Bäumen auf.<BR />