Auf den ersten Blick unterscheidet sich dieses Ensemble aufeinander hockender, wettergebeizter Gebäude kein bisschen von den drei anderen Bauernhöfen, die sich auf einer Hügelkuppe um eine der Mater Dolorosa geweihte Kapelle scharen und so den Weiler Nufels bilden: Ein schlichtes zweistöckiges Wohnhaus mit grünen Fensterläden, in Tontöpfen blühen Geranien, unter dem Vordach stapelt sich Brennholz. Nebenan Stall und Stadel, das Erdgeschoss aus Ziegeln gemauert, das darüberliegende Stockwerk aus grauschwarz verwittertem Fichtenholz. <BR /><BR />Freilaufende Hühner protzen mit schillerndem Gefieder. Auf die Kühe hinter einer Einzäunung nebenan blickend, sagt der Bauer Anton Wille: <BR />„Heute werden sie auch schon hornlos gezüchtet, oder man brennt die Hörner, wenn die Kälber ein paar Wochen alt sind, mit einem Brennstab aus.“ Wenn es nach ihm ginge, sagt Wille, „soll man alles dranlassen. Eine hornlose Kuh ist wie ein Bauer ohne Zipfel.“ <BR /><BR />Anton Willes Kühe haben Hörner, er selbst, ein hagerer Mann mit ergrauten Haaren, die helmartig an seinem kantigen Schädel kleben, wird von allen Toni genannt. Er steckt in Jeanshosen und einem rotschwarz karierten Wollhemd. Gerade kletterte er von einem uralten Traktor herunter, auf dem Anhänger türmen sich getrocknete Lärchenäste. „Wir kochen und heizen ausschließlich mit Holz“, sagt Wille. Und fügt hinzu, sich Richtung Traktor umdrehend: „Oft kann man ja darauf wetten: Je neuer und größer der Traktor, desto dümmer der Bauer.“<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="959197_image" /></div> <BR /><BR />Er selbst scheint das Alte zu lieben und nicht auf den Kopf gefallen zu sein. In jedem Winkel von Willes Bauernhaus hängen kunstvolle, teils mehrere Meter große, von ihm selbst hergestellte Holzornamente. Sie erinnern an Rosetten in gotischen Kirchen oder an geometrische Gebilde in Getreidefeldern. <BR /><BR />Im Stadel drückt sich Wille ein Bündel duftendes Heu unter die Nase. „Das ist gutes Futter“, sagt er und stellt sich neben einen an der Wand lehnenden Baumstamm, der ihn um einen Meter überragt. „Das war eine Zirbe, sie wurde 700 Jahre alt“, erklärt Wille, während er mit seiner Hand über die raue, mit Astringen übersäte Rinde streicht. Wie viele Dürreperioden, Stürme, Blitzeinschläge der Baum wohl überstanden hat?, sinniert er. <h3> Stamm wird zur Orgelpfeife</h3>Wille hat den Stamm bearbeitet, an der Rückseite klebt ein länglicher, glatt gehobelter Kasten aus einem helleren Holz. Als der Bauer einen Schritt zurück macht, sich den „Baumstamm“ wie ein Alphornbläser an den Mund legt, tief Luft holt und hineinpustet, woraufhin ein dumpfer Ton erklingt, wird klar: Der Stamm ist eine Orgelpfeife. Eine von 5000, die Toni Wille im Lauf von Jahrzehnten aus mehr als 30 einheimischen Holzarten gebaut hat. Holz, sagt der Bauer, klinge weicher als Metall.<BR /><BR /> „Mein Ziel ist eine große schneckenähnliche Orgel, in die man hineingehen kann. Deshalb mache ich lauter Holzpfeifen; sonst wäre es zu laut.“<BR />Der 70Jährige ist nicht nur Orgelbauer und Landwirt, sondern auch Pianist, Organist, Holzkünstler und Philosoph. Ein Original, ungestriegelt wie die Wälder und buckligen Naturwiesen, die den Bauernhof zu Füßen steiler, felsdurchsetzter Hänge umrahmen. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="959200_image" /></div> <BR /><BR />Der Toni, sagt Annemarie Oberfmeiner, seine Lebensgefährtin, sei wohl ein schwererziehbares Kind gewesen. „Weil er als Vierjähriger immer singend durch das Haus rannte, mit dem Kochlöffel auf jede Blechkanne klopfte, schenkten ihm die Eltern ein Akkordeon.“ Annemarie hat in der Wohnküche Kaffee eingeschenkt, im Herd knistert Brennholz. Als sie eine grau getigerte Katze entdeckt, die, ihren Kopf zwischen den Pfoten, eingerollt auf dem Sofa neben der Tür schläft, holt sie ihr Mobiltelefon hervor. <BR /><BR />Dort hat Annemarie ein Bild gespeichert, auf dem man ihren Gefährten auf diesem Sofa sieht, zusammengerollt wie jetzt die Katze – auf und neben ihm ein halbes Dutzend schnurrender Fellnasen. „Wir haben zwölf, nein, dreizehn, vor ein paar Tagen ist uns eine zugelaufen, die nur mehr auf einem Auge sieht“, sagt Annemarie. <h3> Es geht auch ohne Smartphone</h3>Man muss sie anrufen, wenn man Toni treffen will. Sein eigenes Mobiltelefon, erzählt der Bauer, während er einen Schluck Kaffee trinkt, habe er vor einem halben Jahr verloren. „Als es vor ein paar Wochen wieder auftauchte und auf dem Sperrbildschirm lediglich ein Anruf in Abwesenheit angezeigt war, beschloss ich, dass es auch ohne geht.“ Ihr Partner, ergänzt Annemarie, widme sich lieber der Musik, seinen Tieren und den Holzkunstwerken. „Ich kümmere mich um den Rest. Nachdem ich hier einzog, vor 20 Jahren, verbrachte ich die ersten Wochen mit Putzen.“<BR /><BR /> Während man zusammen selbstgemachten Kuchen knabbert, erzählt das Paar abwechselnd, wie sich hier alles entwickelt hat: Tonis Eltern, er wuchs mit einem jüngeren Bruder auf, im Haus wohnten auch die Großeltern, bewirtschafteten als Selbstversorger den kleinen Bauernhof. Ab Anfang der 60er Jahre wurden ein paar Zimmer an Feriengäste vermietet. „Toni machte mit seinem Akkordeonspiel alle verrückt“, sagt Annemarie. „Mit dem Geld, das mir die Gäste schenkten, damit Ruhe einkehrt, konnte ich mir viele Süßigkeiten kaufen“, erzählt Toni.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="959203_image" /></div> <BR /><BR /> Als er 9 Jahre alt war, erhielt er ein Klavier. Ein Musiker aus Berlin, der am Elternhof Ferien machte, erkannte sein Talent und unterwies ihn in einer nahen Wallfahrtskirche im Orgelspiel. Dort spielte der Bub, am Morgen vor und am Abend nach der Arbeit, oft bis in die Nacht hinein. Die übrige Zeit half er am Hof mit. Weggehen, professioneller Musiker werden, sagt Toni, auf diese Idee sei er nie gekommen. „Es war immer klar, dass ich den Hof übernehme. Ich gehöre hierher. Hier ist mein Platz.“ <BR /><BR />Als die Eltern starben und Toni allein weiterwirtschaftete, fing er an, für Hotelgäste in Nachbardörfern Klavierkonzerte zu geben. So lernte er den deutschen Pianisten Ernst Gröschel kennen. „Er hat Mozart und Beethoven auf historischen Hammerklavieren gespielt und empfahl mir, ebenfalls auf historische Klaviere umzusteigen.“ Gröschel wurde Tonis Lehrmeister. „Als Toni per Annonce nach einem alten Flügel suchte, meldeten sich acht Anbieter“, erzählt Annemarie. Ihr Partner sei dann zu jedem hingefahren – und mit sieben Klavieren zurückgekehrt. „Mittlerweile besitzt er 50.“ Die Sammelleidenschaft, meint Toni, und streicht sich dabei über sein Kinn, könne nur verstehen, wer schon einmal über beide Ohren verliebt war: „Man ist unersättlich, bekommt nie genug vom Objekt der Begierde.“ <h3> Ein selbst gebautes Haus</h3>Um seine Schätze unterzubringen, baute Toni Wille mit seinen eigenen Händen ein Flügelhaus. Das Gebäude am Hang unter dem Wohnhaus hat die Form eines Konzertflügels. In das Innere wurde ein 200 Tonnen schweren Findling integriert: „Mein größtes Geschenk“, sagt Wille: „Denn so verbindet sich hier die Natur mit der Kunst, der Stein wirft auch den Schall zurück und atmet genau das richtige Maß an Feuchtigkeit aus, welches die Instrumente benötigen.“ <BR /><BR />Bevor er sich an einen Bechstein aus dem Jahr 1895 setzt, „davon gibt es weltweit nur drei“, zeigt Wille auf einen Stapel sonnengebleichter Partiturenhefte: Etwa 1.500 besitze er. Momentan übt Wille Etüden des französischen Romantikers Camille Saint-Sae´ns. 14 Tage intensives Klavierspielen, dann 14 Tage Orgelpfeifen-Bauen mit nur wenig Zeit für das Klavier, diesen Rhythmus habe er sich angewöhnt, erklärt der Musikus. „Das ist wie eine Klangtherapie“, fordert er anschließend den Besucher auf, sich auf einer Matratze unter dem Flügel auszustrecken.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="959206_image" /></div> <BR /><BR /> Als Toni Wille dann den Canon a 2 von Johann Sebastian Bach zu spielen anfängt, zuerst vorwärts, anschließend rückwärts, zweifelt man kurz an der Platzwahl – die Aussicht auf Tonis Füße, die in Gartenschlappen auf die Pedale steigen, ist nicht berauschend. Doch dann umfängt einen die Melodie, es ist ein sanftes Rauschen, Murmeln und Fluten - als säße man auf einer Insel inmitten eines Flusses, der ruhig über die Steine plätschert. <BR /><BR />Natürlich gebe es viele bessere Pianisten als ihn, sagt Toni Wille, als man anschließend wieder zusammen mit Annemarie am Küchentisch sitzt - sie hat unterdessen eine Brettljause hergerichtet. Wenige hätten jedoch das Glück, im angestammten Habitat zu leben, für Gäste aus der ganzen Welt im eigenen Konzertsaal spielen zu können, „außerdem will ich immer besser werden!“ <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="959209_image" /></div> <BR /><BR />Vorhin, auf dem Weg zurück ins Haus, holte Toni in einem geflochtenen Korb Eier aus dem Hühnerstall. Dabei folgte ihm der Esel Lorenzo auf Schritt und Tritt. Plötzlich bückte sich Toni Wille und schob seinen Kopf unter den des Tieres, worauf der Esel seinen Hals am Nacken des Bauern rieb – Herr und Esel setzten dazu ein füchsisches Grinsen auf. Hätte Toni Wille und sein Esel im nächsten Moment Purzelbäume geschlagen, es wäre einem ganz natürlich vorgekommen. <BR /><BR />Erst als man neben dem Hauseingang ein selbstgemaltes Schild mit der Aufschrift „Flügelhaus“ entdeckt, fällt auf, dass hier nirgends Eintritt kassiert wird. „Ich spiele, weil es mir Freude bereitet, und wenn es dem Gast recht ist, spiele ich auch nur für einen“, erklärt Toni Wille. Annemarie wirft ein, dass ihr Partner keine Ahnung von Buchhaltung habe. „Deshalb muss ich das Geschäftliche übernehmen.“ <h3> Ein rettender Engel</h3>Während man sich beim Gedanken ertappt, was aus dem Bauernbub geworden wäre, hätte er ein Musikkonservatorium besucht, hätte ihn eine Tiger Mom unter ihrer Fuchtel gehabt und zu den besten Lehrern kutschiert, blickt Toni Wille auf eines seiner Holzkunstwerke an der Wand: Eine dünne, fast durchsichtige Scheibe, in die er mit der Säge einen kleinen Kreis und darunter eine Art Halbmond geschnitten hat – von letzterem gehen wie Sonnenstrahlen feine Linien ab: „Das ist ein Engel“, erklärt Wille, und fügt hinzu, dass er mittlerweile Hunderte solcher Holzkunstwerke verkauft habe. „Die Engel haben mich gerettet“, sagt Toni Wille. Dabei blickt er zuerst auf den Engel und dann Richtung Annemarie – man darf annehmen, dass sie mitgemeint ist. <BR /><BR />