P. Lintner erklärt die neuen Erkenntnisse in Bezug auf die Sexualität des Menschen, ob die Kirche an diesem Punkt umdenken muss, welche stillen Leidensgeschichten sich hier oft abspielen und was der Ordenspriester selbst aus der Begegnung mit Betroffenen für den richtigen Umgang mit ihnen gelernt hat. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="815954_image" /></div> <BR /><b>Die queer-Bewegung nimmt immer mehr Fahrt auf. Verkürzt gesagt geht es vor allem darum, dass sich Menschen frei entscheiden dürfen, welchem Geschlecht sie angehören: Mann, Frau, keines von beiden... Was sagen Sie dazu?</b><BR />P. Martin M. Lintner: Die sogenannten LGBTQI+ und queer-Bewegungen sind komplexe, durchaus nicht einheitliche Phänomene und müssen deshalb differenziert gesehen werden. Es stimmt in der Regel jedoch nicht, dass deren Vertreterinnen und Vertreter behaupten, dass die geschlechtliche Identität frei gewählt werden kann. Was meiner Meinung zu Recht verlangt wird, ist, dass jeder Mensch die Freiheit hat, zu der Geschlechtsidentität zu stehen, die er bzw. sie als die eigene entdeckt, auch dann, wenn sie nicht der Binarität Mann-Frau oder der heterosexuellen Orientierung entspricht. <BR /><BR /><b>Dieses „Entdecken“ klingt schon etwas nach: Ich suche mir etwas aus, was halt gerade gut passt...</b><BR />P. Lintner: Nein, auch ein heterosexueller Mensch entscheidet nicht frei, heterosexuell zu sein, sondern er entdeckt die Heterosexualität als seine sexuelle Orientierung. Die eigene sexuelle Identität wählt man nicht einfach nach Belieben aus, sondern man entdeckt sie. Die entscheidende Frage ist dann, wie ich mit ihr umgehe: Dass ich sie annehme und akzeptiere, wie ich sie gestalte und lebe. Das gilt, wie gesagt, auch für heterosexuelle Männer und Frauen.<h3> „Andere Formen von Geschlechtsidentitäten“</h3><b>Gibt es dann also neben dem Schema Mann-Frau und der heterosexuellen Orientierung auch andere Geschlechtsidentitäten?</b><BR />P. Lintner: Es bestreitet mittlerweile niemand mehr, dass es bereits auf der biologischen und körperlichen Ebene neben eindeutiger männlicher und weiblicher Geschlechtsausprägung auch andere Formen von Geschlechtsidentitäten gibt, sowohl auf der genetischen wie auch auf der chromosomalen und körperlichen Ebene. Zum Beispiel gibt es intersexuelle Menschen, früher wurden sie Zwitter genannt, deren äußere oder innere körperliche Geschlechtsmerkale nicht eindeutig als männlich oder weiblich bestimmt werden können. Ebenso müssen wir differenzieren zwischen der biologischen Ebene und den kulturspezifischen sozialen Geschlechtsidentitäten und schließlich der individuellen sexuellen Orientierung: hetero-, bi-, homo- oder auch asexuell usw. Transidente Menschen zum Beispiel leben in einem Körper, der eindeutig männlich oder weiblich ist; in ihrem psychischen Selbstempfinden und in ihrer sexuellen Selbstwahrnehmung fühlen sie sich aber als eine Person des anderen Geschlechts. <BR /><BR /><b>Wie ist das auch christlicher Sicht zu bewerten?</b><BR />P. Lintner: Diese Unterscheidung der biologischen bzw. körperlichen, soziokulturellen und individuell-psychischen Ebene anerkennt mittlerweile sogar die Kirche, auch wenn sie betont, dass diese Ebenen nicht voneinander getrennt werden dürfen. Das christliche Menschenbild ist dadurch geprägt, dass man davon ausgeht, dass die Geschlechtsidentität entweder männlich oder weiblich ist und dass die heterosexuelle Orientierung der naturgemäße Regelfall ist, der moralisch normativ ist. Dass es davon Abweichungen gibt, wird zwar anerkannt, aber vergleichbar mit einer körperlichen oder psychischen Beeinträchtigung als eine Art Defizit angesehen. Damit wird man den Betroffenen aber nicht gerecht. <BR /><BR /><embed id="dtext86-56230982_quote" /><BR /><BR /><BR /><b>Wie würde man ihnen denn gerecht?</b><BR />P. Lintner: Ich persönlich glaube, dass dieser Umbruch vergleichbar ist mit dem mittelalterlichen Umbruch des Weltbildes. Auch damals hat man geglaubt hat, die Entdeckung, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Kosmos ist, sondern um die Sonne kreist, würde im Widerspruch zum biblischen Weltbild stehen. Vergleichbar müssen wir uns heute fragen, was die neuen Erkenntnisse in Bezug auf die Sexualität des Menschen für das christliche Menschenbild bedeuten. Ohne Umdenkprozesse und Neubewertungen kommen wir nicht aus. <BR /><BR /><b>An welchen Punkten?</b><BR />P. Lintner: In besonderer Weise müssen wir uns fragen, wie wir betroffenen Menschen gerecht werden können, wenn es in Gottes Schöpfung mehr Varianten von Geschlechtsidentitäten gibt als bisher angenommen. Die Mehrzahl der Menschen wird sich weiterhin mit ihrem männlichen oder weiblichen Körper identifizieren, sich als Mann oder Frau empfinden und heterosexuell sein. Aber jene, bei denen es anders ist – es handelt sich vorsichtig geschätzt immerhin um bis zu ca. 10 % aller Menschen –, sollen die Freiheit und die Möglichkeit haben, anders zu sein und von der Gesellschaft in ihrem Anderssein angenommen zu werden.<BR /><BR /><b>Das fällt nicht gerade leicht. So tritt die LGBTQI+ Bewegung oft sehr schrill und provozierend auf: Müssen wir das immer tolerieren oder gibt es auch Grenzen?</b><BR />P. Lintner: Deren Veranstaltungen, besonders die Pride-Paraden, sind tatsächlich oft bunt, schrill und bewusst provozierend. Mit der öffentlichen Zurschaustellung von diversen Geschlechtsidentitäten will man sie sichtbar machen und in die Mitte der Gesellschaft holen, zugleich aber auch infrage stellen, dass das, was die Gesellschaft für normal hält, auch das für alle Normale und moralisch Verbindliche sein muss. Diese Veranstaltungen vermitteln also eine gezielte gesellschaftspolitische Botschaft. Für viele Teilnehmende sind sie oft aber eher so etwas wie ein großes Volksfest, bei dem sie ihr Anderssein bewusst zeigen und ausleben. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="815957_image" /></div> <BR /><b>Also grenzenlose Freiheit, auch wenn sich andere dadurch belästigt fühlen?</b><BR />P. Lintner: Wenn Sie nach Grenzen fragen: Die würde ich gleich ziehen wie allgemein bei Sexualität und Öffentlichkeit, also wenn es zu öffentlich sexuellen Handlungen käme oder absichtlich und wissentlich durch Grenzverletzungen Ärgernis erregt würde.<BR /><BR /><b>Was haben Sie selbst aus der Begegnung mit Betroffenen gelernt?</b><BR />P. Lintner: Persönlich kenne ich homosexuelle, intergeschlechtliche und auch transidente Menschen, die kaum auf solchen Paraden zu finden sind oder die sich höchstens eine Regenbogenfahne auf die Wange malen würden. Es sind nicht die Paradiesvögel, als die sie manchmal dargestellt werden, sondern oft leiden sie im Stillen und sind selbst zutiefst verunsichert, wenn sie an sich entdecken und immer mehr spüren, dass sie anders sind als ihre Gleichaltrigen oder ihre Familienangehörigen. Sie getrauen sich oft kaum, sich jemandem zu öffnen und anzuvertrauen, und haben Angst vor der Reaktion in der Familie oder im gesellschaftlichen Umfeld. Im Konkreten sind es oft lange Leidensgeschichten. Die Suizidalität unter diesen Menschen ist immer noch signifikant höher als bei Menschen, die den gesellschaftlich akzeptierten Geschlechtsidentitäten entsprechen. <BR /><BR /><b>Was lässt sich dagegen tun?</b><BR />P. Lintner: Ich plädiere dafür, dass wir diese Menschen in unserer Gesellschaft wie selbstverständlich annehmen, sodass sie angstfrei zu sich selbst stehen können und sich nicht verstecken müssen, sondern in Freiheit und Selbstverantwortung entscheiden können, wie sie mit ihrer Geschlechtsidentität umgehen. Denn für sie gilt ebenso wie für alle Menschen, dass der Umgang mit der eigenen geschlechtlichen Identität selbstverantwortet in Freiheit und entsprechend menschlichen Werten wie Liebe, Beziehung Achtsamkeit und Treue gestaltet werden soll.<BR />