Südtirol Online: Wo arbeiten Sie derzeit?Hans Vikoler: Stationiert bin ich in Addis Abeba in Äthiopien. Dort kümmere ich mich um ca. zwölf Millionen Menschen, die von den häufiger werdenden Naturkatastrophen in Äthiopien betroffen sind. Es geht u.a. um produktive soziale Netzwerke. STOL: Was bedeutet das konkret?Vikoler: Die Menschen werden aktiv von vornherein an der Auswahl und der Planung der Projekte beteiligt. Es geht nicht um die klassische Hilfe von außen, sondern um etwas Partizipatives. Die Menschen arbeiten die Projekte in Dörfern – z.B. für den Aufbau von Infrastrukturen wie der Wasserversorgung, in der Landwirtschaft, oder zum Umweltschutz – selbst aus. Sie entscheiden, was vorrangig ist. Langfristiges Ziel des Programms ist es, die Einkommen zu heben. 80 bis 85 Prozent der Äthiopier sind Bauern, die meist von Getreide, das nur auf dem äthiopischen Hochland zwischen 2500 und 3000 Meter Meereshöhe angebaut wird, leben. Das reicht nicht aus, um das ganze Jahr über zu überleben. Deshalb versucht man, ihnen alternative Einkommensquellen zu erschließen. STOL: Sie sprechen von partizipativer Hilfe. Das bedeutet, die klassische Entwicklungshilfe hat nicht funktioniert?Vikoler: Sie hat nicht funktioniert. Bei der letzten großen Dürrekatastrophe im Land im Jahr 2003/04 mussten wieder zehn Millionen Menschen von der UNO und von Geberländern vor dem Verhungern bewahrt werden. Nach dieser Katastrophe hat es ein Umdenken gegeben. 2006 wurde von der äthiopischen Regierung eine neue Entwicklungshilfepolitik beschlossen, die die Bevölkerung einbezieht. Stark unterstützt wird das von mehreren UN-Organisationen und von Geberländern.STOL: Was ist heute anders?Vikoler: Früher wurden die Bedürftigen bei Hilfsaktionen über Jahre oder Jahrzehnte hinweg mit kostenlosen Lebensmitteln versorgt. Sie mussten nichts aufbauen und bekamen kein technischen Know-how, um sich selbst helfen zu können. Die Bauern haben ein altes Wissen über Anbautechniken. Das Programm von Regierung und der UN-Organisationen hilft ihnen, dazuzulernen. Ihr Wissen wir ausgebaut und erneuert. Gab es früher eine Monokultur, werden jetzt – je nach Saison – andere Getreidearten angebaut.STOL: Sie sind von diesem Programm überzeugt?Vikoler: Ja, es ist in Afrika das größte Projekt dieser Art und ziemlich erfolgreich. Es ist ein Beispielprojekt für ganz Afrika.STOL: Wie kann man diesen Erfolg messen?Vikoler: Das kann ich in Zahlen ausdrücken: Als die Hungersnot ausbrach, waren ca. zehn Millionen Menschen von den Hilfen der UNO und der Geberländer abhängig. Heute sind es nur mehr zwei Millionen. In der ersten Phase des Projekts, das 2006 begonnen hat, ging es um reine Notstandsmaßnahmen, mittlerweile sind mehr und mehr Bauern Teil der zweiten Phase, des produktiven sozialen Netzes. Dort werden sie bis zu fünf Jahre lang aktiv unterstützt. Ziel ist es, dass sie selbständig werden und zwar beim Anbau, der Produktion und der Vermarktung. Sie verkaufen ihre Produkte auf dem lokalen, aber auch dem regionalen Markt, also auch im Sudan, in Kenia und Somalia. Etwa dreißig bis vierzig Prozent der Bauern sind heute nicht mehr Teil des produktiven sozialen Netzwerks. Sie haben Mikrokredite bekommen und konnten Geld investieren.STOL: Funktionieren Mikrokredite, die an Frauen ausgezahlt werden gleich gut wie jene die Männer erhalten?Vikoler: Nein. Die Rückzahlquote ist bei Frauen deutlich besser. Die Afrikanerinnen haben also den größeren Erfolg. Aber es ist ja eines der Ziele, die afrikanischen Frauen zu stärken und das Potential der Frauen auszubauen. Denn sie sind die wichtigsten Erwerbsträger in den Familien. STOL: Kein Entwicklungshilfeprojekt, egal wie es ausgerichtet ist, kann ohne die Unterstützung der Politiker des jeweiligen Landes erfolgreich sein. Afrika ist aber bekannt für seine instabilen Verhältnisse, für Korruption, Misswirtschaft, Stammesfehden, Kriege und Bürgerkriege. Wie sieht es in Äthiopien aus?Vikoler: Gut. Seit Anfang der 90er Jahre ist die gleiche Regierung an der Macht. Es herrscht Stabilität im Land, was bei den Geberländern und den internationalen Investoren für viel Glaubwürdigkeit sorgt. Die Regierung ist bei den Entwicklungshilfeprojekten nicht nur aktiv dabei, sie leitet sie. Das äthiopische Projekt des „World Food Programm" (WFP) der UNO, für die ich arbeite, wird von der äthiopischen Regierung getragen und ausgeführt. Meine Mitarbeiter und ich beraten und unterstützen das Projekt und geben die Mittel, ausgeführt wird es von der Regierung und zwar auf kommunaler, auf lokaler, auf regionaler und auf landesweiter Ebene.STOL: Die Verantwortung liegt also ganz bei den Äthiopiern selbst?Vikoler: Ja, allerdings unter genauer Beobachtung.STOL: Äthiopien war jahrelang der Inbegriff für Hungersnöte. Das ist heute nicht mehr so. Warum?Vikoler: Die stabile politische Lage seit Anfang der neunziger Jahre war sehr wichtig. Die Regierung hat klar definierte Programme, die sie verfolgt. Die Wirtschaft wächst um bis zu zwölf Prozent im Jahr, was die internationalen Investoren, vor allem Inder, Araber und Chinesen, ermutigt, ins Land zu kommen, in dem es Bodenschätze, aber auch großes Potential in der Landwirtschaft gibt. Äthiopien ist eines jener Länder, in denen von Ausländern tausende Hektar Land gekauft werden, um freien Zugriff auf zusätzliche landwirtschaftlich nutzbare Gebiete zu haben. Allerdings haben Käufer in Äthiopien die Auflage von der Regierung erhalten, dass die lokale Bevölkerung involviert wird und profitiert. Solange die Investitionen transparent ablaufen, keine Korruption im Spiel ist und alles kontrolliert wird, profitieren afrikanische Länder, die ihre Wirtschaft ja aufbauen müssen. Alleine haben sie das Potential dazu nicht. Deswegen halte ich das für eine gute Sache.STOL: Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?Vikoler: Äthiopien ist heute einer der wichtigsten Produzenten von Rosen weltweit. Ausländische Investoren, vor allem Holländer, sind ins Land gekommen und haben die Blumenindustrie aufgebaut. Die lokale Bevölkerung ist involviert und profitiert stark davon. STOL: Sind Sie ausschließlich in Äthiopien im Einsatz?Vikoler: Nein. Wenn es eine Hungerkatastrophe gibt, werde ich vom WFP dorthin geschickt. Von August bis Dezember 2010 war ich im Tschad, um einen Noteinsatz wegen einer Dürrekatastrophe in der Sahelzone zu koordinieren. Dort ging es um eine Million Bedürftige. Die Regierung dort ist nicht so stabil und etabliert wie jene in Äthiopien und auch nicht so engagiert. Im Tschad ist die Not groß und das WFP kann sich nicht besonders auf die Behörden verlassen. In einem solchen Fall muss ich fast den gesamten Einsatz von A bis Z auf eigene Faust planen und durchführen. Nach dem Einsatz im Tschad musste ich wegen der Krise in der Elfenbeinküste nach Liberia, da die Menschen dorthin flüchteten.STOL: Sie sind seit 1990 in Afrika und haben dort in den verschiedensten Ländern gearbeitet und gelebt. Wie beurteilen Sie die Entwicklung in den verschiedenen Regionen des Kontinents?Vikoler: Man muss jedes Land für sich beurteilen. Jedoch hat sich die Situation im Allgemeinen verbessert. Mozambique hat sich stabilisiert, Angola ist ein Vorzeigeland in Afrika geworden, im Sudan gab es ja nach 40 Jahren Bürgerkrieg zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden im Jänner 2011 ein Referendum, bei dem sich 99 Prozent der Christen für einen unabhängigen Staat Süd-Sudan ausgesprochen haben. Viele Länder haben sich erholt, es gibt eindeutig weniger Konflikte als in der ersten Nachkolonialzeit. Die westlichen Geberländer haben stark auf den Aufbau der Landwirtschaft in Afrika gesetzt und das trägt jetzt seine Früchte. Allerdings haben die Naturkatastrophen zugenommen.STOL: Die UN-Organisation, für die Sie arbeiten, das „World Food Program“, verteilt bei Hungersnöten – egal ob wegen einer Dürreperiode oder weil ein Krieg ausgebrochen ist – Nahrungsmittel. Wo werden diese eingekauft?Vikoler: So weit als möglich in Afrika. Der Anteil der Lebensmittel, die wir in Afrika einkaufen, ist in den vergangenen Jahren sehr stark gestiegen. Die EU verfolgt diese Linie schon länger, die Amerikaner, die die größten Geldgeber sind, folgen diesem Beispiel ein wenig. Möglich wird das aber eben durch Programme wie jenes in Äthiopien: Die lokale Bevölkerung kann sich Schritt für Schritt selbst versorgen, produziert dann mehr, verkauft schließlich die Ware und erhöht damit den eigenen Lebensstandard.STOL: Arbeiten Sie ausschließlich in Afrika?Vikoler: Nein. Ich hätte eigentlich nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti für den WFP tätig sein sollen, musste dann aber nach Kirgistan und kurz darauf in den Niger. Ich bin im WFP eine Art Emergency-Experte, da ich das seit 20 Jahren weltweit mache. STOL: Sie haben in Ihrem Bereich ein sehr großes Know-how. Was machen Sie konkret, wenn Sie in einem Land zu einem Katastropheneinsatz gerufen werden?Vikoler: Ich versuche mit den lokalen Behörden oder Verantwortlichen Hilfsmaßnahmen einzuleiten und umzusetzen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Hilfe nur dann ankommt, wenn die lokalen Behörden aktiv involviert werden. Wir stehen ihnen bei und geben ihnen die Mittel, um zu helfen. Wir führen nicht aus, das ist das Wichtigste. Die Menschen müssen in Katastrophenfällen nicht nur als Bedürftige, sondern als aktiv Beteiligte angesehen werden. STOL: Was passiert, wenn die Behörden – wie in Haiti geschehen – selbst stark vom Erdbeben betroffen sind?Vikoler: Auch wenn Gebäude zerstört wurden bleiben immer noch die Menschen mit ihrem Wissen. Die Infrastrukturen, die bei einem Erdbeben beschädigt wurden, können wieder aufgebaut werden. Wichtig ist es, die lokale Bevölkerung mit einzubeziehen.STOL: Wenn Sie vor Ort sind versuchen sie also die Hilfe zu organisieren. Wie?Vikoler: Ich muss mir die Leute aussuchen, die die Hilfe umsetzen sollen und ich muss verstehen, womit ich konkret helfen kann. Auch hier gilt, dass ich so weit wie möglich auf die Mittel und Ressourcen zurückgreife, die vor Ort vorhanden sind und dass ich das lokale Wissen, die traditionellen Vorgangsweisen und die Art des jeweiligen Landes bzw. der jeweiligen Region berücksichtige, nutze und anwende. STOL: Wie reagieren die Menschen in einem Land, das in Not ist, wenn Sie da sind?Vikoler: Die Bedürftigen sind meist dankbar, mit der Regierung ist es oft schwierig. Der Knackpunkt ist ein gutes Verhältnis mit der Regierung. Man braucht dort Vertraute. Das ist die Voraussetzung für einen erfolgreichen Einsatz, auch zur eigenen Sicherheit und um gewisse Ziele zu erreichen. Wenn ich es nicht schaffe, einen guten Draht zur Regierung aufzubauen, können die Politiker meine Arbeit oft zunichtemachen. Das passiert durchaus. Auch können Hilfsgüter und Geld veruntreut werden. Ich habe zwar nicht in Pakistan gearbeitet, weiß aber, dass das nach dem Erdbeben und der gigantischen Überschwemmung des Landes massiv geschehen ist. STOL: Wenn Sie zu einem Einsatz gerufen werden, verfügen Sie sofort über ein Budget, mit dem die ersten Hilfsmaßnahmen sofort bezahlt werden können?Vikoler: Ja, das WFP hat einen eigenen Notfonds für solche Fälle. STOL: Gibt es eine gewisse Routine für Sie bei einem Einsatz? Vikoler: Im Großen und Ganzen schon. Es gibt einen Plan, der je nach Art des Einsatzes angepasst wird. Ich schaue mir die Situation an, mache eine Bestandsaufnahme, versuche die Lage zu verstehen und zu analysieren. Je nach Ergebnis wende ich verschiedene Methoden an und setzte die Mittel ein. Bei der Dürrekatastrophe im Tschad war ich z.B. nicht von Anfang an dabei, sondern erst nach zwei Monaten. die Hilfe hatte also schon begonnen, meiner Meinung nach war sie aber falsch organisiert. Ich habe deshalb alles umgekrempelt und habe versucht, die Mittel, die da waren, den Bedürftigen zukommen zu lassen: unterernährten Kindern und Müttern, Schwangere und stillende Mütter. Sie waren am schwersten betroffen. STOL: Wie verschaffen sie sich einen Überblick über eine Situation? Überfliegen Sie das Gebiet, lesen Sie Berichte, die andere zur Lage geschrieben haben?Vikoler: Das läuft über Berichte, die eine Bestandsaufnahme machen und analysieren. Wenn es eine Naturkatastrophe gegeben hat, so wie beim Beben in Haiti, greifen wir auf Berichte der eigenen Organisation in Zusammenarbeit mit der Regierung und von anderen UN-Organisationen zurück. Das Wichtigste in so einem Fall ist die Bestandsaufnahme. Natürlich bewege ich mich dann vor Ort selbst fort – entweder mit einem Auto oder einem Flugzeug bzw. einem Helikopter – und mache mir ein Bild von der Lage, um dann entsprechend zu reagieren.STOL: Nicht ungefährlich.Vikoler: Es kann durchaus gefährlich werden. Haiti war wegen der Cholerafrage gefährlich, für die die UN-Helfer verantwortlich gemacht wurden. Der Einsatz an der Elfenbeinküste war sehr gefährlich, weil die UNO von der Regierung und der Armee als Unterstützer der Opposition angesehen wurde. So wird man zum Ziel. Hier sind gute Schutzmaßnahmen wichtig und das WFP hat ein gutes Sicherheitssystem. Die Lage wird permanent analysiert und ich werde permanent beraten und informiert.STOL: Mit wie vielen Personen reisen Sie in ein Land, wenn Sie im Einsatz sind?Vikoler: Ich organisiere mir die Leute, die ich kenne und mit denen ich schon zusammengearbeitet habe. Im Tschad waren es z.B. 20 Personen. Prinzipiell versuche ich, lokale Leute einzustellen.STOL: Sie mussten auch schon mit Personen wie Charles Taylor zusammenarbeiten, als Sie während des Bürgerkriegs in Liberia tätig waren. Taylor wird der Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen beschuldigt und muss sich derzeit vor dem Sondergerichtshof für Sierra Leone, der aus Sicherheitsgründen in Den Haag (Niederlande), tagt, dafür verantworten. Ist es für Sie nicht schwierig, mit solchen Personen zu kooperieren?Vikoler: Bei meiner Arbeit muss ich das ausblenden. Wenn ich in einem Land bin, wird nie jemand von mir meine persönliche Meinung über gewisse Machthaber erfahren. Das würde meinen Job schwierig machen, ich würde sehr schnell in Gefahr geraten. Ich mache mir meine eigene Meinung, trage diese aber nicht nach außen. Aber 1996 musste mit Charles Taylor zusammenarbeiten, um den Bedürftigen im Bürgerkrieg helfen zu können. Mein Ziel ist es, die humanitäre Hilfe zu jenen zu bringen, die sie brauchen. Dazu muss ich eben auch Militär oder eben Despoten benutzen. Ich kann mich nicht politisch äußern.STOL: Wenn es zu gefährlich für Sie und Ihre Mitarbeiter wird, brechen Sie dann einen Einsatz ab?Vikoler: Sicher. Allerdings würde ich nicht „abbrechen“, sondern „suspendieren“ sagen, weil ich in den Fällen zurückgekommen bin. Das war im Süd-Sudan und in den neunziger Jahren in Angola, wo es sehr gefährlich war, der Fall. In Liberia schon öfter. Ich bin auch schon evakuiert worden, weil das WFP nicht mehr zugelassen hat, dass ich bleibe. Nicht immer kann ich das alleine entscheiden. 1999 in Belgrad war so ein Fall, als die NATO die Stadt bombardierte. Im Hotelzimmer habe wurde von den Bombardierungen auf CNN berichtet, vom Balkon aus konnte ich sie selbst sehen. Ich wollte zwar bleiben, aber meine Organisation hat darauf bestanden, dass ich Serbien verlasse.Interview: Rupert BertagnolliZur Person:Hans Peter Vikoler ist im Jahr 1960 in Bozen geboren und in Gufidaun aufgewachsen. Nach dem Studium der Modernen Sprachen und der Literatur in Venedig ging er 1990 für das italienische Außenminsterium nach Mosambik, wo er nach dem Bürgerkrieg beim Wiederaufbau des Landes half. Seit 1993 arbeitet Vikoler bei der UN-Organisation World Food Programme (WFP), die in Kriegs- und Katastrophengebieten die Nahrungsmittelversorgung sichert. Der 51-Jährige war seitdem meist in mehreren afrikanischen Ländern, aber auch in Bosnien, im Kosovo, im Irak und in Syrien im Einsatz. Seine Familie lebt in Brixen.