Kommen Suizidgedanken bei Jugendlichen derzeit häufig vor? Was kann man Eltern empfehlen, wenn Jugendliche in Krise sind? Michael Reiner gibt wertvolle Ratschläge.<BR /><BR /><b> Gibt es in der Corona-Zeit seit 2020 mehr Jugendliche mit Depressionen oder depressiven Verstimmungen als vorher?</b><BR />Michael Reiner: Im Austausch mit anderen Diensten haben wir festgestellt, dass Depression und auch viele andere Schwierigkeiten sich vermehrt zeigen. Solche globalen Krisen sind ein Nährboden, auf dem alles Mögliche wachsen kann. Wir erleben in der Praxis vermehrt Niedergeschlagenheit als einen der Aspekte von depressiven Verstimmungen und wir erleben vor allem Ängste.<BR /><BR /><b> Welche Ängste?</b><BR />Reiner: Ängste in Bezug auf Leistung – also Versagensängste, aber auch vermehrt Zukunftsängste: Wie wird meine Zukunft sein? Wie werde ich meinen Platz finden? Krisen und Krisenzeiten nehmen Sicherheit. <BR /><BR /><b>Wie äußern sich Depressionen bei Jugendlichen?</b><BR />Reiner: Depressionen und depressive Verstimmungen zeigen sich vermehrt auch im Jugendalter. Je älter die Jugendlichen werden, desto ähnlicher äußern sie sich wie bei Erwachsenen. Typisch sind Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Rückzug, das Verlieren von Selbstvertrauen, Ängste, Konzentrationslosigkeit und vor allem der Verlust von Interesse und Motivation – Gleichgültigkeit. Im Alltag kommt es dann zu Leistungsschwierigkeiten. Jugendliche leisten dann nicht mehr, was sie sonst geschafft haben – nicht nur im schulischen Alltag, sondern auch allgemein. Psychosomatisch kommt es dann beispielsweise zu Kopf- oder Bauchschmerzen. <BR /><BR /><embed id="dtext86-56270284_quote" /><BR /><BR /><b> Was empfehlen Sie besorgten Eltern?</b><BR />Reiner: Meine Empfehlung an Eltern ist, zu schauen: Gibt es längerfristig größere Veränderungen? Wenn ein Jugendlicher vorher an allem Interesse hatte und dann plötzlich nicht mehr, dann kann es eine normale Umbruch- oder Veränderungsphase sein. Gleichzeitig ist es aber gut, wenn man als Eltern die Antennen hochfährt und sensibler an dieses Thema herangeht. Es ist aber nicht notwendig, sich gleich in Angst und Panik zu versetzen und von A bis Z zu jedem Fachdienst oder Fachmensch zu laufen. Viele Symptome einer Depression kommen auch im Rahmen einer normalen pubertären Entwicklung vor.<BR /><BR /><b> Bei welchen Verhaltensweisen sollten Eltern oder Lehrer besonders hellhörig werden? </b><BR />Reiner: Wenn man über Wochen oder Monate radikale Veränderungen bemerkt. Eltern sollten darauf achten, wie hoch der Leidensdruck ist. Oft ziehen sich Jugendliche ins Schneckenhaus zurück, ohne dass etwas Dramatisches passiert ist. Es macht dann aber einen Unterschied, ob Jugendliche unter einem Rückzug leiden oder nicht. <BR /><BR /><b> Statistisch gesehen: Wie viele Jugendliche leiden unter Depressionen?</b><BR />Reiner: Man geht davon aus, dass ein bis 3 Prozent der Kinder unter Depressionen leiden. Bei Jugendlichen sind es zwischen 3 und 10 Prozent. Wenn man von einer ausgewachsenen Depression spricht, dann sind die Zahlen bei Jugendlichen relativ gering. Trotzdem sind viele Jugendliche im Ansatz in diese Richtung unterwegs. Da gilt es frühzeitig, sie dazu zu bringen, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was ihnen gut tut und dass es sinnvoll ist, sich um das eigene Wohlbefinden zu kümmern, ohne dass man da gleich an Therapie und Medikamente denkt. Jugendliche können schon frühzeitig sich Gutes tun, um diesen Phasen gegen zu steuern. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="816866_image" /></div> <BR /><b> Wie gehen Jugendliche im Unterschied zu Erwachsenen mit länger anhaltenden Krisen um?</b><BR />Reiner: Jugendliche schaffen es deutlich besser als Erwachsene, eine Maske aufzusetzen und sich anders zu zeigen, als sie sich tatsächlich fühlen. So schaut es aus, als wäre alles in Ordnung. Erwachsene haben dazu oft gar nicht mehr die Kraft, weil die Depression so fortgeschritten ist. Sie haben dann oft gar kein Interesse mehr, alles zu verheimlichen und zu verstecken. Jugendliche schaffen es hingegen, sehr lange zu „funktionieren“ und alles auszugleichen. Im Alltag gelingt es ihnen, sich gegenüber den Gleichaltrigen so zu verhalten, dass es niemandem auffällt. Gleichzeitig arbeitet es aber in ihnen.<BR /><BR /><b> Kommen Suizidgedanken bei Jugendlichen häufig vor?</b><BR />Reiner: Explizite Suizidgedanken, bei denen Jugendliche suizidale Absichten äußern und sich den Suizid ausmalen, sogar bis ins letzte Detail, sind bei Jugendlichen nicht besonders häufig. Sehr häufig beschäftigen sich Jugendliche aber mit der eigenen Sterblichkeit, mit ihrer Rolle in der Gesellschaft und damit verbunden geht Unsicherheit einher. Sie hinterfragen ihre eigene Existenz und suchen nach Antworten. Gesellschaftlich ist Suizid aber nach wie vor ein großes Thema und zwar gerade dann, wenn Prominente sich das Leben nehmen. Dann wirkt dies auch auf Jugendliche. Bei sehr vielen Jugendlichen und auch Erwachsenen ist es oft praktisch unmöglich, irgendwelche Symptome oder Kriterien zu erkennen, die auf Suizidalität hinweisen. <BR /><BR /><b> Wie versuchen Sie da, als Jugendring entgegen zu steuern?</b><BR />Reiner: Als Netzwerke und Einrichtungen setzen wir uns ein für einen bewussteren Umgang mit der eigenen psychischen Gesundheit – bereits bei Kindern und vor allem bei Jugendlichen. Dabei geht es um Fragen wie: Was kann ich für mich machen? Was tut mir gut? Wo kann ich mir Unterstützung holen? Nicht nur fachlich, sondern ganz allgemein.<BR /><BR /><embed id="dtext86-56270704_quote" /><BR /><BR /><b> Erhalten depressive Jugendlichen eher Psychotherapie oder Medikamente bei der Behandlung – oder beides?</b><BR />Reiner: Das hängt vom Schweregrad einer Depression oder depressiven Verstimmung ab. Im Idealfall würde ich als Psychologe immer für eine Psychotherapie sein, für eine psychologisch-therapeutische Intervention. In häufigen Fällen ist auch eine medikamentöse Behandlung nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig. Eine parallel medikamentöse und psychotherapeutische Behandlung ist der Weg, der sicher am häufigsten erfolgt, weil eine medikamentöse Behandlung teilweise auch notwendig ist, um intervenieren zu können. Wenn ein Jugendlicher so antriebslos ist, dass er sich auf eine Psychotherapie gar nicht einlassen kann, mag er noch so wollen, dann wird es schwierig. Anzunehmen, dass das Eine – Psychotherapie – oder das Andere – Medikamente – besser oder schlechter ist, sollte überholt sein. Da muss immer individuell betrachtet werden, was gebraucht wird. Grundsätzlich würde ich sagen: Psychotherapie immer – und wenn notwendig, durchaus auch beides.<BR /><BR /><b>Welche Anlaufstellen gibt es für Jugendliche bei Depression?</b><BR />Reiner: Wenn sich Jugendliche bei einer noch nicht fortgeschrittenen Depression selbst Hilfe und Unterstützung holen wollen, weil sie niemanden involvieren möchten, dann können sie sich an unsere Beratungsstelle Young+Direct wenden. Young + Direct ist, weil niederschwellig und ohne großen Aufwand für die Jugendlichen, <i>die </i>Anlaufstelle schlechthin. Bei ausgeprägteren Formen von depressiver Verstimmung sind die öffentlichen Dienste – in erster Linie die Fachambulanzen – Ansprechpartner für die betroffenen Familien, weiters die Psychologischen Dienste sowie konventionierte Einrichtungen wie Familienberatungsstellen, ebenso die niedergelassenen Psychologen, die therapeutisch mit Jugendlichen arbeiten.<BR /><BR />