In den Wochen der strengen Ausgangssperren hatten wir auf STOL mehrere Artikel zu Skifahrern, Snowboardern und Paragleitern veröffentlicht, nachdem uns von Lesern die entsprechenden Fotos und Videos zugespielt wurden. Die Reaktionen darauf waren mitunter sehr heftig, auch in den Kommentaren auf Facebook. „Denunziantentum“, „liegen lassen und nicht retten“ stand geschrieben, aber auch „wen soll ein Paragleiter in der Luft schon infizieren“ bzw. „dann sind wir wohl die Idioten, wenn wir zuhause bleiben“.<BR /><BR />Auch Peter Koler, der Direktor vom Forum Prävention in Bozen, hat sich in der STOL-Redaktion gemeldet, um seine Sicht der Dinge zu erklären. Daraus ist im Gespräch mit Ivo Zorzi folgendes Interview entstanden:<BR /><BR /><b>STOL: Für jeden von uns war die Coronakrise eine neue Lebenssituation. In welche Richtung driftet die Gesellschaft?</b><BR /><b>Peter Koler:</b> „Was wir alle merken ist, dass das Denunziantentum zunimmt, bzw. zugenommen hat. Eine Erklärung dafür ergibt sich aus der Dynamik um den Lockdown und der langen Zeit des eingesperrt sein. Vor 6 Wochen war plötzlich eine Bedrohung durch das Virus da, es war eine Todesgefahr. Angst war das zentrale Gefühl und das 2. zentrale Gefühl war Ohnmacht. Wir haben keine Impfung und keine Strategie dagegen, das führt natürlich zu einer ganz großen Unsicherheit.“<BR /><BR /><b>STOL: Die Strategie war zuhause bleiben.<BR />Koler:</b> „Dieses kollektive Einverständnis „ich bleibe zuhause“ war zu Beginn die korrekte und einzige Strategie das Virus einzudämmen. Aber: Auch gesunde Menschen wurden sozusagen weggesperrt und es wurden ihnen 2 wesentliche Bewältigungsstrategien genommen: 1. gute Bindungen (Beziehungen) und 2. körperliche Bewegung, etwas tun können. Das alles wurde gekappt.“<BR /><BR /><b>STOL: Welche Folgen ergeben sich daraus?<BR />Koler:</b> „Ungewissheit: Wann ist alles vorbei? Dauert es noch 2 Wochen oder 4 Wochen? Und jedes neue Datum brachte statt der erhofften Erleichterung neue Einschränkungen. Das wirkt belastend. Erst jetzt kommt so langsam wieder Licht, auch weil es die Leute nicht länger aushalten.“<BR /><BR /><b>STOL: Solch extreme Entscheidungen sind in einem freien Land fremd. Trotzdem wurde zu solchen Mitteln gegriffen. Haben Sie eine Erklärung dafür?<BR />Koler:</b> „Die Entscheidungsträger haben offenbar das Vertrauen in mündige Bürger verloren, weil sie selbst von Angst und Unsicherheit geleitet wurden. Die logische Reaktion daraus: wir überwachen und strafen.“<BR /><BR /><b>STOL: Also eingesperrt auf der einen Seite und eine ungewohnt strenge Polizei auf der anderen Seite. Wie reagieren Menschen auf so eine doppelte Bedrohung?<BR />Koler:</b> „Bei Extremsituationen, z.B. einem Überfall, können Menschen nur auf 3 Reaktionen zurückgreifen: Angriff, Flucht oder totstellen. Die meisten haben sich totgestellt, weil die anderen Alternativen nicht brauchbar waren. Wen angreifen? Das Virus? Für einige war häusliche Gewalt das Ventil. Andere flüchten in den Konsum von Substanzen, von Fernsehen bis Drogen, andere in den Sport, doch auch das war bzw. ist verboten. Die einzige Strategie war also das Totstellen, aber auch das führte zu dichtem Stress. Stressfaktoren sind nicht nur die Angst vor dem Virus, sondern auch vor Überwachung, Denunzianten, die Hubschrauber in der Luft und die Polizei auf den Straßen.“<BR /><BR /><b>STOL: Bei Stress braucht es ein Ablass-Ventil. Waren das die Berichte über Skifahrer und Paragleiter?<BR />Koler:</b> „Das Ganze war für viele zu viel und zu lang. Es blieb als Ventil zur Entladung Aggression und Projektion. Und es braucht Sündenbücke. Medien haben Sündenböcke geliefert und auf diese können viele ihre Aggression entladen. Denunzieren ist insofern eine „normale“ Reaktion auf eine außergewöhnliche Situation. Die Menschen sind außer sich und wir erschrecken. Die Bösartigkeit der Leute ist abgekoppelt von ihrer Menschlichkeit, reine Entladungswut. Die Nachfrage auf das telefonische Beratungsangebot ist auch deshalb eher schwach, das sind nicht 100 Telefonate pro Tag. Sind die Menschen „außer sich“, dann ist Beratung auch unmöglich. Zuerst muss man ihnen wieder Sicherheit und Bindung geben und dann die Beratung.“<BR /><BR /><b>STOL: Wo sehen Sie die aktuellen Schwierigkeiten jetzt?<BR />Koler:</b> „Wenn das Totstellen zu lange dauert, dann wird’s zur Unterwerfung. Und diese Unterworfenen werden es in Phase 2 sehr schwierig haben, weil sie alleine nicht mehr aus dieser Haltung aus Unterwerfung bzw. Totstellen herauskommen.“<BR /><BR /><b>STOL: Was haben wir aus der neuen Situation gelernt?<BR />Koler:</b> „Wir müssen mit dem Virus umgehen, er ist ja da. Aber wir können ihn gut eindämmen durch Distanz, Mundschutz, Händewaschen und Hygiene. Menschen sollten sich wieder aktivieren können. Damit Denunziationen zurückgehen braucht„s andere Entladungsmöglichkeiten. Das heißt, ich darf hinaus ins Freie unter bestimmten Regeln, ich darf aber auch zuhause bleiben. Den Bürgern wieder eine Wahl geben ist das um und auf.“<BR /><BR /><b>STOL: Ist die Lockerung des Lockdown bzw. der Ausgangssperren gerade noch rechtzeitig gekommen? <BR />Koler:</b> „Am Anfang wurde die Politik von Virologen beraten, das war in der 1. Phase auch richtig um das Virus einzudämmen mit dem Ziel, die Zahl der Infektionen zu reduzieren. Nach der ersten Panikattacke wurde reflektiert und schnell wurde klar: Normale, gesunde Menschen sitzen zuhause und entwickeln Existenzängste. Hier helfen Virologen nicht, sondern das ist das Spezialgebiet von Psychologen, Pädagogen und Soziologen. Das hat auch die Politik mittlerweile bemerkt, denn auch auf ihren Profilen wurden die Kommentare in den sozialen Netzwerken gehässiger, inhumaner. Wir wurden ja praktisch alle ins eiskalte Wasser geworfen, es wurde alles ausgehebelt was Sicherheit gegeben hat. Daraus entstehen Spaltungen auch innerhalb von Familien oder Gruppen. Diese Angriffslust geht nur weg, wenn man Ventile findet.“<BR /><b><BR />STOL: Können auch Medien hier eine Ventil-Funktion übernehmen?<BR />Koler:</b> „Zunächst müssen wir wieder den Leuten einen sicheren Kontext bieten, mit Mundschutz, Reinigungsmitteln, Abstandsregeln usw., dass das Mitgefühl wieder startet. Wenn Medien in der Berichterstattung bei den Fakten bleiben, dann wirkt das deeskalierend. Wir haben in den letzten Wochen viel zu viel von Toten gelesen, in einer Gesellschaft, die Tote bisher immer versteckt hat. Wer von uns hat schon eine Leiche gesehen, außer im Krimi?“<BR /><BR /><b>STOL: Wie könnte eine Exit-Strategie aus der Coronakrise aussehen?<BR />Koler:</b> „Diese Regeln, die es jetzt gibt – Mundschutz, Distanz usw. müssen weiter beibehalten werden. Dann die Ausgangsbeschränkungen stufenweise aufheben, freies Bewegen in der Gemeinde, so wie jetzt. Danach sinnhaftes Tun den Menschen geben, sprich Arbeit. Wenn diese neue Regeln in der Gesellschaft greifen, dann wäre das für das gesamtgesellschaftliche Wohlbefinden super. Denn es braucht einen Spagat zwischen Virus eindämmen und die Leute nicht narrisch machen. Deshalb sollten in den Krisenstäben nicht nur Mediziner, sondern auch Wirtschaftler, Psychologen, Sozialforscher usw. sitzen, damit der Ausstieg nicht einseitig wird. Es braucht viel mehr Kooperation als wir vorher gehabt haben. Daran ist System wohl auch gescheitert, weil wir aufeinander nicht gut abgestimmt waren.“<BR /><BR /><b>STOL: Wie sehen Sie Südtirol in einem Jahr, am 17.04.2021?<BR />Koler:</b> „Ich bin von Grund auf Optimist, ich muss es schon von Berufswegen sein. Ich glaube in einem Jahr haben wir einen neuen Alltag gefunden. In einem Jahr werden wir wohl ohne repressive Maßnahmen auskommen, ohne Denunzianten. Vielleicht wird es eine Impfung geben und wir werden gut leben. Zentral ist, dass der Geldkreislauf in Schwung kommt, aber Wachstum muss nicht unbedingt das Ziel sein, vielleicht reicht Stabilität. Und wir werden aus der Krise gelernt haben, da brauchen wir nur mal schauen was wir in den letzten Wochen geleistet haben. Trotz aller Pannen sind viele Potentiale da, die gilt es in Zukunft zu nutzen. Klar, es ist nicht alles gut gegangen, aber es war eine absolute Notsituation.“ <BR /><BR /><i>*Peter Koler (54), Psychologe und Pädagoge, seit 2001 Direktor Forum Prävention in Bozen</i><BR />