Heute sind Gisela und Mary glückliche Mütter und Großmütter. Ihre Kindheit auf eine kleinen Bauernhof nahe des Bodensees war aber alles andere als freundlich und zufrieden. Gewalt, Hunger und Entbehrungen gehörten zu ihrem Alltag. Im Alter von 5 Jahren nahm ihr Leben dann aber eine positive Wende. <BR /><BR /><i>von Michael Fink</i><BR /><BR /><BR />Gisela Hafner ist eine gute Erzählerin. Wer ihr zuhört, muss konzentriert sein und sich Leitplanken im Kopf montieren. Was sie zu berichten hat, ist groß und schwer und dunkel und emotional nicht leicht zu verkraften. Es geht um die Erlebnisse der Zwillingsschwestern Gisela und Mary in den 1960er-Jahren, in einem kleinen Dorf nahe am Bodensee. <BR /><BR />Ihre Geschichte handle von einer „Kindheit, die in einem Unglückshaus stattgefunden hat“, sagt Hafner. Vater, Mutter und 3 Kinder leben in Armut und Ausgrenzung auf einem kleinen Bauernhof. Man kommt mehr schlecht als recht über die Runden. Gewalt und Hunger gehören zum Alltag. „Ich habe oft Prügel bekommen. Dass ich mich heute normal bewegen kann, grenzt an ein Wunder“, meint sie. <BR /><BR />Die Schläge kommen vom Vater, „der hoch gewaltbereit“ war. Ein Mann, schwer traumatisiert von Krieg und russischer Gefangenschaft, aber nicht nur: „Er war selbst in einer gewaltvollen Familie groß geworden. Prügel standen auf der Tagesordnung.“<BR /><BR /> Dieses Muster habe er wohl übernommen und später, verstärkt durch die Kriegserlebnisse, an seinen eigenen Kindern abgeladen. Auf der anderen Seiten die Mutter: Schwer depressiv, überlässt sie die Kinder völlig sich selbst. <BR /><BR />Bis vor wenigen Monaten wusste davon niemand etwas. „Du musst deine Geschichte aufschreiben“, habe ihr eine liebe Freundin gesagt, erzählt Hafner. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehrere Ordner voll mit all den schlimmen Erinnerungen an eine „Kindheit in Armut und Verwahrlosung mitten im Wirtschaftswunder-Deutschland“. Daraus geworden ist das Buch „Nichts Gutes kommt aus diesem Haus“, erschienen im Verlag Lübbe. <BR /><BR /> <video-jw video-id="AJDiQmzG"></video-jw> <BR /><BR />Es geht um mehrere Schicksale, ums Wegschauen, um Demütigung und Mobbing, aber genauso um viele kleine Wunder und um einen ganz großen Glauben an das Gute im Menschen und an die Schöpferkraft. <BR />Schon im Baby-Alter sind die Schwestern quasi auf sich allein gestellt. Essen gibt es nur dann, wenn das Hungergeschrei nicht mehr auszuhalten ist, vom regelmäßigen Wechseln der Windeln gar nicht zu reden. Die Mutter ist apathisch, in ihren Augen völlige Leere. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="597428_image" /></div> Sie sei mit dem Tod ihres ersten Sohnes Günther gestorben, sagt Gisela Hafner. Diesen Schicksalsschlag habe die Mutter nie mehr überwunden. „Er war ein wunderschöner Junge, mit langen schwarzen Locken. Gleich nachdem er auf die Welt kam, schrie er, dann hörte ich es knacken – und auf einmal war es totenstill“, zitiert die Autorin ihre Mutter im Buch. Der Arzt hatte dem kleinen Günther „versehentlich“ das Genick gebrochen. Ein unfassbar trauriger Grund für die Dramen der folgenden Jahre. Dieser Unglücksstrudel reißt die Familie immer weiter in den Abgrund. <BR /><BR /><b>Erdenengel stehen den kleinen Mädchen zur Seite</b><BR /><BR />Wer mit solchen Voraussetzungen ins Leben startet, bleibt häufig am Rande der Gesellschaft kleben. Der Bruder Helmut sei an diesen Erlebnissen wohl zerbrochen, weiß Gisela Hafner. Er war in das Muster der Eltern verfallen, oft aufbrausend und wütend, später dann gewalttätig. Die extremen verbalen und körperlichen Verletzungen haben ihn schlussendlich schwer krank werden lassen.<BR /><BR />Gisela und Mary hingegen gelingt es, sich aus dieser kalten Welt zu befreien. Engel spielen dabei eine Rolle. Sie sind den kleinen Mädchen behilflich. Ihr Schlüssel-Erlebnis haben die beiden im Alter von 5 Jahren. „Ich erinnere mich an eine Nacht, als ich wieder einmal ins Bett gemacht hatte (...) Auf einmal spürte ich Licht und Wärme, es war hell um mich herum und wohlig warm. Ich lag nicht mehr im Bett, sondern schwebte, immer höher und höher. Liebe und Licht hüllten mich ein wie eine schützende, weiche Decke (...) Mein Inneres war erfüllt von Frieden und Freiheit, es war ein wunderbares Gefühl (...) ich fühlte mich sicher und geborgen, wie nie zuvor in meinem Leben“, schreibt Hafner. <BR /><BR /><embed id="dtext86-47138320_quote" /><BR /><ZitatAutor></ZitatAutor>Erst viele Jahre später erfährt Gisela, dass in dieser Nacht ihre Schwester Mary Gleiches erlebt hat. „Beide haben wir all die Jahre darüber geschwiegen“, sagt sie. Die Zwillinge zehren von diesem Erlebnis. Es ist ihre Kraftquelle, die sie fortan trägt. Im Nachhinein könne sie es sich nicht erklären, „aber schon als Kleinkinder wussten wir, dass wir stark bleiben müssen.“ Obwohl allen im Dorf bekannt ist, welche Zustände in dem kleinen Bauernhaus herrschen, sieht sich keiner bemüßigt zu helfen, alle schauen weg.<BR /><BR />Ein erster Erdenengel, der ins Leben der Zwillinge tritt, ist Josef, der Großonkel mütterlicherseits. Einmal im Monat kommt er zu Besuch, versorgt die Familie mit Lebensmitteln und hilft bei der Feldarbeit. „Eines Tages haben wir beobachtet, wie sich plötzlich alle Haustiere im Hof versammelt haben. Kurze Zeit später radelte Onkel Josef vollbepackt mit Lebensmitteln heran. Die Tiere haben wohl gespürt, dass er kommt“, erinnert sich Gisela Hafner. <BR /><BR />Der Großonkel kümmert sich um die Mädchen, zeigt Zuneigung und gibt ihnen Halt. Ähnliches erfahren sie später von einer alten Dame, „die auf wundersame Weise in unser Leben trat.“ Die Mutter habe sie wohl irgendwie im Dorf kennen gelernt. Die Frau erklärt sich bereit, ab und zu nach den Mädchen zu schauen. Gisela und Mary spüren in dieser Zeit das erste Mal in ihrem Leben, was Güte, Liebe und Achtsamkeit bedeuten. Und: Lebensfreude. <BR /><BR />Auch eine Mitschülerin freundet sich mit den Zwillingen an. „Sie hat immer zu uns gehalten, egal was war. Bei ihr zu Hause haben wir erlebt, was es bedeutet, ein richtiges Familienleben zu haben. So etwas war uns völlig unbekannt.“ <BR /><BR />Die Zwillingsschwestern reagieren schon als Grundschulkinder nicht mit Wut, Hass und Zorn, wenn sie von den Mitschülern wieder einmal verspottet werden. „Natürlich waren wir traurig, aber wir haben damals verstanden, dass die anderen Kinder nicht wissen, wie es uns wirklich geht“, erklärt sie. <BR /><BR /><b>„Mit 2 Taschen sind wir ins neue Leben gestürmt“</b><BR /><BR />Neben der physischen und psychischen Gewalt leiden die beiden Mädchen aufgrund der schlechten Ernährung auch unter massiven körperlichen Mangelerscheinungen. Mit den kleinen Geldgeschenken, die sie zur Erstkommunion von den Verwandten erhalten, kaufen sie sich im Dorfladen Bananen. Immer wieder. „Der Hunger hat uns förmlich in dieses kleine Geschäft getrieben. Noch heute sage ich, dass uns die Bananen wohl irgendwie das Leben gerettet haben“, meint Hafner.<BR /><BR />In all den Jahren stärken und stützen sich die beiden gegenseitig, geben sich Kraft. Mit dem Erreichen des 18. Lebensjahres ziehen sie einen endgültigen Schlussstrich: Die Schwestern verlassen ihr Heimathaus. „Wir haben Arbeit in einer kleinen Fabrik gefunden und eine kleine Wohnung gemietet. Mit 2 Taschen sind wir weg.“ <BR /><BR />Der Vater, damals schon todkrank, weint. „Gott sei Dank kommt ihr raus aus diesem Elend. Geht möglichst weit weg“, sagt die Mutter zum Abschied. Es ist der Beginn eines neuen Lebens. Die beiden stürzen sich voller Freude in eine ihnen völlig unbekannte Welt. Mit Null Erfahrung. „Wir hatten keine Ahnung, was uns erwartet. Wir wussten nicht, dass man Miete zahlen muss, wie man einen Lebensmitteleinkauf plant, wie Lebensmittel überhaupt schmecken, wie man sie zubereitet“, erzählt Gisela Hafner. In den Jahren zuvor war es ein Überlebenskampf gewesen, nun galt es zu bestehen. Der Alltag überfordert die jungen Frauen, sie stoßen an ihre Grenzen. <BR /><BR /><b>Kurzer Ausflug in eine unbekannte Glitzer-Welt</b><BR /><BR />In dieser Phase ist es der Mut von Schwester Mary, der das Duo vorwärts bringt. „‚Du wirst sehen, wir bringen es noch zu etwas. Sie werden über uns staunen‘, hat sie zu mir gesagt.“ <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="597431_image" /></div> Es sollte sich bewahrheiten. Gisela und Mary lesen in der Zeitung, dass ein Zwillingspärchen für einen Werbefilm gesucht wird. Sie bewerben sich und werden prompt engagiert. „Wir waren blutjung, richtige Wirbelwinde, wissbegierig, sprühend vor Energie und Lebensfreude“, erinnert sie sich. <BR /><BR />Die Schwestern tauchen in eine völlig neue Welt ein und werden langsam zu kleinen Stars. Nachdem der Werbefilm erfolgreich abgedreht ist, kommen die beiden mit den bekannten Kessler-Zwillingen in Kontakt. Zu deren Geburtstags-Show werden die Hafner-Zwillinge eingeladen. Es folgen Interviews in überregionalen Zeitungen und weitere Fernsehauftritte. <BR /><BR />Ein besonderes Erlebnis, an das sich beide noch heute gerne erinnern, war der Kontakt mit Udo Jürgens. „Wir waren zu der Show ‚Vier gegen Willi‘ mit Mike Krüger eingeladen und haben ihn bei dieser Gelegenheit kennengelernt“, erzählt Gisela Hafner. Der bekannte Musikstar ist von den beiden Schwestern begeistert. „Er hat uns später nach Zürich eingeladen. Wie haben ihn dann gefragt, warum er uns näher kennenlernen will, und seine Antwort war: Weil ihr zwei ganz normale, natürliche junge Damen seid.“ Der kurze Ausflug ins Show-Biz zeige laut Hafner, dass, wenn man fest an sich glaube, man auch etwas schaffen könne. <BR /><BR />Seit 1993 lebt Gisela Hafner in Bozen, ihre Schwester kam schon 3 Jahre zuvor der Liebe wegen nach Südtirol. Beide haben 2 Kinder, Gisela ist bereits Großmutter.<BR /><BR />Der Vater stirbt 1979, die Mutter 1999. Sie ist zuletzt ein Pflegefall. Im Jahr 2006 stirbt dann der Bruder Helmut, nach längerer Krankheit. Viele Jahre können die beiden ihr Heimatdorf nicht besuchen, zu schlimm sind die Erinnerungen. Mittlerweile hat sich dieser Schmerz gelegt. „Wir haben noch Kontakt zu einer guten Freundin. Sie hat mit großer Spannung das Erscheinen des Buches erwartet“, berichtet Gisela Hafner.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="597434_image" /></div> <BR />Ihre zu Papier gebrachte Geschichte will die Autorin als Aufruf verstehen: „Es geht mir um die Achtsamkeit für Kinder in Not. Sie sind das schwächste Glied in der Kette. Sie können sich nicht selber helfen, daher ist die Aufmerksamkeit der Erwachsenen umso wichtiger“, sagt sie. <BR /><BR />„Ich danke auch euch, Mutti, Pa, Günther und Helmut“, schreibt Gisela Hafner am Ende ihres Buches und schließt mit einem kurzen Spruch: Nur durch die Schliffe von Herausforderungen und Erfahrungen wird der Rohdiamant zur strahlenden Kostbarkeit.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><BR />