In der Linken seine eingeschaltete Handy-Taschenlampe, sich mit der Rechten an den hölzernen Sprossen ober seinem Kopf festhaltend, klettert Paul Schwienbacher über eine senkrechte Hühnerleiter in den dunklen Turm der St. Anna Kirche von Karthaus hinauf. <BR /><BR />Schnaufend, unsicher mit den Händen und Füßen nach Halt tastend, klettere ich hinterher. Ein Sturz, wird mir mit einem Blick in die Tiefe bewusst, hätte hier fatale Folgen. „Bei mir fängt es auch schon an, es lässt eben alles nach!“, antwortet Schwienbacher mit einem Grinsen auf meine Feststellung, dass mein Bewegungsapparat früher geschmierter funktionierte. Mit seinen 41 Jahren und keinem Gramm Fett auf den Hüften hat Schwienbacher leicht jammern.<BR /><BR /> Auf dem Treppenabsatz hält mein Begleiter inne und klopft an einen verwitterten Fensterladen. An hohen Feiertagen, zu Weihnachten und Ostern, am Herz Jesu Sonntag, an Fronleichnam und am Annatag, dem Fest der Kirchenpatronin von Karthaus, wenn geschrockt werde, hänge hier immer die Tiroler Landesfahne, sagt Paul Schwienbacher.<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="881315_image" /></div> <BR /><BR /> „Und da oben“ fügt er hinzu, indem er seinen Kopf in den Nacken legt, werde die gelb-weiße Kirchenfahne gehisst. „Manche, aus bestimmten Kreisen, wollen es umgekehrt. Ginge es nach ihnen“, erzählt Schwienbacher, sollte die Tiroler Fahne oben flattern, als politisches Bekenntnis. Aber schon sein Vater habe ihm eingeschärft: Die Religion kommt vor der Politik, von den Kreuzzügen bis Putins Heiligem Krieg sei sie für politische Zwecke missbraucht worden. „Solange ich lebe – und solange mit mir geschrockt wird, hängt hier im Kirchturm die Kirchenfahne oben, und die Tiroler Fahne unten!“, sagt Schwienbacher.<BR /><BR />Er ist der Schrocker-Dirigent. Das Schrockn, erzählte der 41Jährige mit dunklem 14-Tagebart, nachdem wir uns am Sakristei-Eingang mit einem Handschlag begrüßt hatten, sei ein uralter Brauch, die Anfänge verlieren sich im Zeitendunkel. Zweck des Schrockns sei, die Dorfbewohner auf das bevorstehende hohe Fest aufmerksam zu machen. Bereits am Vortag, um 17 Uhr, um das Angelusgebet anzukündigen, steigen die Schrocker in den Turm hinauf. „Es geht ganz einfach: jeder ergreift einen Glockenklöppel, einen „Klachel“, und dann läuten alle gleichzeitig „ihre“ Glocke. Da hier 5 Glocken sind, braucht es 5 Schrocker, plus einen Dirigenten, und 3 Aushilfen“, erklärte Schwienbacher. <h3> Leben an der Friedhofsmauer</h3>Als ich den 41Jährigen traf, war es bereits finster, auf dem Friedhof hinter der Kirche brannten etliche Kerzen. Paul Schwienbacher wohnt im Elternhaus, es grenzt direkt an die Kirche und den Friedhof. Einerseits sei es schön in dem alten Haus mit dicken, bauchigen Steinmauern, sagte Schwienbacher. Früher, als Karthaus noch ein Kartäuserkloster war (1782 wurde es von Kaiser Joseph II. aufgelöst), habe das Elternhaus, wo hinten hinaus, zum heutigen Dorfplatz noch Teile des Kreuzganges erhalten sind, mitsamt einem kleinen Garten als Wohnung für einen Chormönch gedient. Andererseits, meinte Schwienbacher, indem er seinen Kopf hin und her wiegte, sei ein Leben Mauer an Mauer mit dem Friedhof auch nicht jedermanns Sache. <BR /><BR />Die seine allerdings schon: Vom Vater übernahm Paul Schwienbacher das Schrockn und das Mesneramt. „Mein Vater ist früh gestorben. Ich war damals 18 – der jüngste Mesner, und der jüngste Schrocker.“ Das Wort komme von Schrecken, aufschrecken, weiß Schwienbacher. In dieser Form, darauf ist er stolz, gibt es das Schrocken nur in Karthaus. „Das ist religiöses Brauchtum und hat nichts mit Folklore oder Tourismus zu tun.“ <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="881318_image" /></div> <BR /><BR />Während wir jetzt weiter die steilen Holzleitern hinaufsteigen, vorbei an einem alten mechanischen Turmuhrwerk sowie einer Ratsche, die am Karfreitag an Stelle der Glocken zum Einsatz kommt, erfahre ich von Schwienbacher, dass das Schrockn nach dem Tod seines Vaters beinahe ausgestorben wäre - hätte er die anderen nicht zum Weitermachen überredet. „Heute haben wir sogar 2 Sponsoren – einer spendiert uns die Hüte und einer die blauen Schürzen“, sagt Schwienbacher, und zeigt auf den mit rotem und weißem Faden aufgestickten Kirchturm an der Schürze, die er sich vorhin extra um den Bauch gebunden hat.<BR /><BR /> Auf dem schmalen Podest mit den Glocken angekommen - die zwei größten sind nach den Heiligen Michael und Anna benannt -, pflanzt sich mein Begleiter unter einem Tragbalken auf. Einen imaginären Taktstock schwingend, gibt er hier den Schrockerkollegen den Einsatz. Da die Schrocker nicht üben können, müssen sie gut aufeinander eingespielt sein. Praktischerweise lässt sich in der St. Annakirche die elektronische Läuteanlage ausschalten – damit die automatischen Glocken den Schrockern nicht dazwischenfunken. Nicht jedoch jetzt: Während wir geduckt unter den Glocken stehen, ertönen plötzlich, es ist halb 6, die Anna- und dann die Michaelglocke 2 Mal hintereinander.<h3> Gutmütige Sticheleien</h3> Dass hier enorme Kräfte am Werk sind, spüre ich am leisen Zittern der Balken. Wie oft bei den Einsätzen geschrockt werde, indem der Klöppelballen per Hand an den Schlagring gestoßen wird - da gebe es keine Regel, sagt Schwienbacher. „Wir klären das kurz vor dem Einsatz – entscheidend ist dann der Gleichklang.“ Nicht immer klappt es perfekt. „Das sorgt anschließend für gutmütige Sticheleien seitens der Besucher. Wer aus dem Takt geriet, ist den Schrockerkollegen ein Glas Wein im Gasthaus schuldig.“ <BR /><BR />Eine fehlerfreie Performance entspricht nicht dem höheren Sinn des Rituals: Was gäbe es da zu bereden, zumal mit trockenen Kehlen?, fragt Schwienbacher. <BR /><BR />„Die Brauchtumspflege stärkt die Dorfgemeinschaft“, sagt auf dem Retourweg Paul Schwienbacher. Der Schrocker-Dirigent ist in Karthaus gut vernetzt: als SVP Ortsobmann, Mitglied des Kirchenchores und der Musikkapelle, „die Feuerwehr musste ich aufgeben, es wurde einfach zu viel.“ Bevor Schwienbacher die Falltür öffnet, unter der eine gewundene Stiege aus flachen Steinen zur Sakristei führt, blickt er zurück auf die ineinander verkeilten Holzleitern. Einmal, an einem feuchten, nebeligen Tag, erzählt der Oberschrocker, sei er hier ausgerutscht und auf dem Nacken eines Kollegen gelandet. <BR /><BR /><embed id="dtext86-58959606_quote" /><BR /><BR />„Beim Schrockn trage ich ja schwere Bergschuhe, und ein Glas Wein hatte ich auch getrunken.“ Positiv in Erinnerung hat mein Begleiter hingegen etliche Turmbesteigungen in Begleitung hübscher Mädchen. „Die haben große Augen gemacht.“ Ihn selbst, sagt Schwienbacher, überkomme, wenn er bei den Glocken stehe, und unten am Platz die Schützen böllern, ein besonderes Gefühl. „Ich kriege Pofelhocker, wie die Harpfen zum Heutrocknen, so nennen wir hier die Gänsehaut.“<BR /><BR />Obwohl Paul Schwienbacher in Florenz Wirtschaftswissenschaften studierte und heute außerhalb arbeitet, scheinen ihn tiefe Gefühle an seinen Heimatort zu binden. Offenbar ist er ein Tiefwurzler, einer von jenen, die wie die alten Eichen stehen bleiben, wenn die arroganten Vertreter der Ironie und des Postfaktischen vom Sturm gefällt werden. <BR /><BR />