Seit 2017 erforscht die Eurac, wie viel Wasser im gesamten Vinschgau gespeichert ist. „Vieles ist noch ungeklärt“, sagt ein Wissenschaftler der Akademie in Bozen.<BR /><BR /><BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="743465_image" /></div> <BR />Im Sessellift Roter Kofl beugt sich Carlo Marin ein wenig nach vorn und reckt schnuppernd sein Kinn in die Luft: Möglicherweise werde es am Abend und über Nacht etwas Schnee geben. „Wir haben ihn bitter nötig!“ Der 36-Jährige hat in Trient Umweltingenieurwesen studiert, er wohnt in Welschnofen und pendelt zur Arbeit bei der Eurac in Bozen.<BR /><BR /> „Als ich die Wohnung vor einigen Jahren mietete“, erzählt Marin mit einem Grinsen, hätten ihn die Einheimischen gewarnt: Der Ort liege auf knapp 1200 Metern, ob er wisse, dass das im Winter Kälte und Schnee bedeute? „Ich verschwieg ihnen, dass ich aus einem Dorf in den Belluneser Dolomiten stamme, das ungefähr gleich hoch liegt“, sagt Marin, dabei greift er sich an seinen Rauschebart: „Ich ließ ihn zur Akklimatisierung wachsen, mittlerweile gehe ich fast als Einheimischer durch!“ Im Übrigen kennt sich der Umweltingenieur ziemlich gut aus mit Schnee. Er erforscht seit Jahren, wie die Berge als Wasserspeicher wirken, wobei natürlich der Schnee eine wichtige Rolle spielt. <h3> Woraus besteht Schnee?</h3>Ja, Schnee sei faszinierend, mit tollen Kindheitserinnerungen verbunden!, sage ich zu Marin, während wir im Lift am Schnalstaler Gletscher weiter bergwärts schaukeln. Ein schneeloses Weihnachten sei jedes Mal enttäuschend. Während sich umgekehrt, wenn die Welt in Weiß gehüllt ist, fast automatisch eine sonnige, hochgemute Stimmung einstelle. Weiße Weihnachten sind einfach schöner! <BR /><BR />Ganz nüchterner Wissenschaftler, fragt mich Marin, ob ich eigentlich wisse, woraus Schnee besteht? Aus gefrorenem Wasser!, antworte ich, was allerdings nur halb richtig ist: „Schneeflocken entstehen durch physikalische Vorgänge in den Wolken, wenn sich winzige Wassertröpfchen bei minus 12 Grad mit Ruß- oder Staubteilchen verbinden“, erfahre ich von Marin. Wegen der molekularen Struktur des Wassers seien Eiskristalle immer sechseckig.<BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="743468_image" /></div> <BR />Carlo Marin wird von einem etwas jüngeren, ebenfalls bärtigen Kerl unterstützt: Riccardo Barella, der mit einem riesigen Rucksack im Sessel vor uns Platz genommen hat. Im Rucksack sind die Geräte verstaut, die an der Messstation am Teufelsegg benötigt werden. Wir haben unsere Skier angeschnallt, für meine Begleiter ein schöner Außendienst. Die für ihre Arbeit benötigten, von Satelliten ermittelten Daten sind alle im Internet zugänglich, deshalb seien sie leider nur einmal im Monat aus Arbeitsgründen draußen, erfahre ich. Der Besuch der Wetterstationen diene zur Überprüfung. Hin und wieder werde kontrolliert, ob die eigenhändige Datenerhebung mit den automatischen Aufzeichnungen der Wetterstation übereinstimmt. <BR /><BR />Von der Bergstation sind es wenige Gehminuten hinüber zur Messstation. Sie liegt in einer Mulde unter dem 3227 Meter hohen Teufelsegg, von dem sich alte Spuren von Tourengehern herabziehen. „Dort oben“, sagt Marin, und zeigt mit dem Skistock hinauf, habe man einen herrlichen Blick auf den Hintereisgletscher. „Noch ein richtiger Gletscher mit großen Spalten!“ Wie sich der Klimawandel auf die verfügbaren Wasserreserven auswirkt, ist die Fragestellung, welcher Marin und Barella nachgehen. „Wenn sich die Schneeschmelze beschleunigt, ändert sich auch der Wasserhaushalt.“ <h3> Unvorstellbare Wassermengen</h3>Seit 2017 erforscht die Eurac, wie viel Wasser im gesamten Vinschgau gespeichert ist. „Vieles ist noch ungeklärt.“ Während die beiden Wissenschaftler ihre Geräte auspacken, eine Messlatte sowie eine zylinderförmige Sonde, habe ich Zeit, die Umgebung zu betrachten: Gegenüber, über dem steilen, felsigen Gipfelhang der Grawand, habe man vor einigen Jahren toll mit Skiern herabfahren können, erzählt Marin. „O.K., das macht man besser nach Dienstschluss – es wäre peinlich, wegen einer Lawine den Rettungshubschrauber rufen zu müssen!“ <BR /><BR />Riccardo Barella hat unterdessen den Messstab aufgeklappt. Fünf, sechs Mal sticht er damit bis zum Boden durch die Schneedecke, dann notiert er: gut 70 Zentimeter Schnee liegen hier. Anschließend wird die Sonde in den Schnee gerammt. So soll der Wassergehalt der Schneedecke bestimmt werden, ein kompliziertes Verfahren, das ich nicht ganz durchschaue. <BR /><BR />Mir gefällt, wie mittels einer Balkenwaage, die an eine Reepschnur zwischen zwei Skiern gehängt wird, das Gewicht des in der Sonde enthaltenen Schnees gemessen wird. Etwa 250 Millimeter Wasser seien momentan im Schnee am Teufelsegg gespeichert, erfahre ich. Im langjährigen Schnitt ist das sehr wenig. Unvorstellbare 10 Gigatonnen Schnee lagerten hingegen im rekordverdächtigen Jahr 2020 im Schnalstal. <BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="743471_image" /></div> <BR />Durch derartige Messungen versuchen die Wissenschaftler herauszufinden, wie die Situation bei steigenden Temperaturen und sich mehrenden Platzregen, wenn der Boden kaum Wasser aufnimmt, in 30, 40 Jahren, aussehen wird. Während Barella mit dem Wassergehalt der Schneedecke beschäftigt war, hat Marin ein paar Meter abseits mit einer Schaufel ein Loch bis zum Boden gegraben: Interessant, dass Marin, immerhin hier der Chef, die schweißtreibende Arbeit übernimmt, während sich sein Gehilfe Barella kaum zu bücken braucht! Auch sonst bemerke ich keinerlei Hinweise auf eine Hierarchie oder ein Machtgefälle, doch vielleicht drücken sich Rangfragen an der Eurac auch subtiler aus? <BR /><BR />Das gegrabene Loch dient dazu, die verschiedenen Schichten, die Geschichte des Schnees zu verstehen – so macht man es auch, um die Stabilität der Schneedecke zu untersuchen, was Aufschluss über die Lawinengefahr gibt. Marin erklärt mir, dass Schneekristalle, die anfänglich als perfekte Sechsecke vom Himmel fallen, durch verschiedene Prozesse allmählich ihre Struktur ändern. <BR /><BR />Am senkrechten Schnitt im Loch erkenne ich mit freiem Auge, dass der Schnee nicht überall gleich ist. Deutlich zeichnen sich sogenannte Gleitschichten ab: finderdicke horizontale Bänder mit etwas dunklerer Farbe – ein Zeichen, dass hier die Schneeoberfläche aufgetaut und dann gefroren ist, schließlich fiel Neuschnee darüber. Mit einer schwarzen Plastiktafel kratzt Marin ein Häufchen Kristalle vom senkrechten Schnitt, holt anschließend eine Lupe aus der Tasche. Achtfach vergrößert, sehe ich jetzt diese Wunderwerke der Natur. Gott ist ein Künstler, denke ich angesichts der Schönheit dieser filigranen Gebilde, die im Sonnenlicht wie Diamanten funkeln. <BR /><BR /><embed id="dtext86-53119671_quote" /><BR /><BR /><BR />Man könnte viel Zeit damit verbringen, wie beim Wolkenschauen seine Fantasie schweifen lassen, und in diesen zusammenklebenden Stäbchen, Bechern, Kugeln, Nadeln, eckigen Klumpen plötzlich Märchenschlösser, Kamele, Elefanten oder groteske Fratzen erblicken. Die Vielfalt scheint unerschöpflich. „Kein Kristall ist gleich wie der andere“, sagen meine Begleiter.<BR /><BR />Beim Mittagessen auf der Teufelsegghütte bestellt jeder ein großes Bier, alle drei drücken wir unser Staunen über den Formenreichtum der Natur aus. Riccardo Barella meint, Schnee präge den Zyklus der Jahreszeiten, stehe am Anfang und am Ende. Stimmt, ergänzt Marco Marin: Wie das Wasser bilde Schnee die Quelle des Lebens, bringe aber auch Zerstörung.<BR /><BR /> Mir fällt der „König des Tanzes“ ein: Shiva, einer der Hauptgötter des hinduistischen Pantheons, führt einen kosmischen Tanz auf, in dem sich die Schöpfung, Zerstörung und Erneuerung des Universums spiegelt. Klar, warum ich immer hinausmuss, wenn es schneit, um mich von den tanzenden Flocken einhüllen zu lassen, meine Trittsiegel in die unberührte weiße Weite zu setzen: Es ist der Ruf Shivas. In solchen Momenten fühle ich mich immer ziemlich göttlich. <BR /><BR />Dass sich unser Philosophikum, wir haben inzwischen noch ein kleines Bier bestellt, auf einer Hütte namens Teufelsegg abspielt – das ist natürlich reiner Zufall. <BR /><BR />