Es ist ein Geschenk, wenn wir einen Menschen nicht nach dem ersten Eindruck beurteilen, sondern ihm eine Chance geben und näher kennenlernen, schreibt Irina Lino. <BR /><BR />Immer wieder nehmen sich Menschen, die meine Kolumnen lesen, die Zeit, mir zu schreiben. Zumeist sind es anerkennende Worte und manchmal ist auch Kritik dabei. Das ist richtig und wichtig so! Und ich möchte allen von Herzen danken, die mir mit ihren Zeilen Mut machen, die mich inspirieren, anspornen, bekräftigen, tadeln.<BR /><BR />Vorige Woche nun habe ich eine ganz besondere Rückmeldung erhalten. Berührende Zeilen voll ungeschminkter Offenheit und tiefer Introspektion. Von Äußerlichkeiten und meinem Porträt ist da die Rede, das für eine Welt spreche, zu der sie sich nicht mehr zugehörig fühle… Von der Überwindung, meine Beiträge irgendwann dann doch zu lesen und der positiven Überraschung, die ihr manche Inhalte beschert haben.<BR /><BR /> Beschenkt hat SIE mich auch. Weil sie mir eine Chance gegeben hat! Gegen die eigene Überzeugung, die sich am glatt geschönten Stereotyp gerieben hat, das mein Bild in der Zeitung vermittelt. Wie oft passiert das! Man sieht jemanden, und schon hat man sich seine Meinung gebildet. Zumindest auf den ersten Blick, der in 0,5 bis 1,5 Sekunden entscheidet, ob das Gegenüber sympathisch bis anziehend wirkt, oder eben nicht.<BR /><BR /> Viele unbewusste Faktoren spielen dabei eine Rolle, vom Geruch, der die Kompatibilität der Immunsysteme in der Nase hat, bis zur kulturellen Prägung. Dem entkommen wir nicht! Aber gängige Vorurteile und eingefahrene Menschenbilder zu überprüfen, das kann wahrlich eine bereichernde Sache sein. <BR /><BR />Dann entpuppt sich der langweilige Anzugträger vielleicht als leiser Helfer, die wilde Punkerin als feingeistige Gesprächspartnerin und der randständige Einzelgänger als Altruist und Menschenfreund. Da muss man nur hinter den Schein schauen und dem Sein eine Chance geben. Wie meine offenherzige Leserin mir.<BR />