Bydgoszcz. Ein Namen wie ein Zungenbrecher und einer, der in Südtirol wohl kaum jemandem geläufig sein dürfte, allerdings ist in der 350.000-Einwohner-Stadt im Herzen Polens eines der bedeutendsten Musikzentren des Landes beheimatet. Die 1956 gegründete Musik-Institution „Opera Nova“ bietet dem Publikum ein Repertoire von rund 40 Opern, Operetten, Musicals sowie klassischen und zeitgenössischen Ballettaufführungen, im großen Aufführungssaal des prachtvollen Opernhauses finden über 800 Zuschauer Platz. Der Zuspruch ist groß, nur selten bleiben während der Vorstellungen Plätze frei. Hier hat Matthias Kastl seine großen Auftritte, hier tanzt er beispielsweise als Kavalier der Zuckerfee in Tschaikowskis Ballett „Der Nussknacker“ das weltbekannte Pas de deux mit der Zuckerfee.<h3>Tänzerisches Talent mit Ausdruckskraft vereint</h3>Auch „Coppélia“, basierend auf einer Erzählung von E. T. A. Hoffmann, zählt zum Standardrepertoire des klassischen Balletts, darin verkörperte Matthias Kastl den Protagonisten Dr. Coppélius, einen rätselhaften alten Kauz, der beständig vom Wunsch getrieben ist, seine Puppe Coppélia zum Leben zu erwecken. Die Handlung ist im ehemaligen Österreich-Ungarn angesiedelt, weshalb viele osteuropäische und slawische Tänze zur Aufführung kommen. „Eine sehr interessante Rolle, denn man genießt große Freiheiten und kann sich auch schauspielerisch richtiggehend austoben“, kommentiert Matthias Kastl seine Interpretation dieser Figur. Im Märchenballett „Alice im Wunderland“ hat er den weißen Hasen gespielt, die Rolle wurde ihm gewissermaßen auf den Leib geschneidert. Nur 3 von vielen Rollen, die das vielseitige Repertoire des Kalterer Solotänzers verdeutlichen. Der 27-Jährige liebt es, derartige Figuren tänzerisch zu interpretieren und ihnen dabei Leben einzuhauchen. Dabei sei Eigeninitiative und künstlerische Ausdrucksstärke gefragt, als Grundlage braucht es die obligaten tänzerischen Qualitäten, sehr wohl aber auch die verspielte Note eines Schauspielers. „Da kann man sich so einiges einfallen lassen, das liegt mir“, kommentiert er diese Rollen. <h3>Im Kindergarten entdeckt er ein Faltblatt</h3>Diese Freiheit hat allerdings auch ihre Schattenseiten. „Tatsächlich arbeitet es immerzu in meinem Kopf, da muss man sich immer wieder mal selbst zum Abschalten zwingen“, meint der Kalterer, während er an seinem Macchiato nippt. Matthias Kastl hat es nicht bloß wegen seiner idealen körperlichen Voraussetzungen und seiner außergewöhnlichen Willenskraft zum Solotänzer gebracht, er hat sich schon immer für diesen speziellen Kosmos interessiert, hat die Werke, Figuren und Musik längst verinnerlicht, ordnet nach wie vor alles dieser großen Passion unter. Matthias Kastl erklärt: „Für das Verständnis von gewissen Epochen oder Charakteren ist es von Vorteil, wenn man sich damit eingehend beschäftigt. Das schwingt immer mit, wenn ich ins Kino oder ins Museum gehe oder ein Buch lese.“ Als er sein Rollendebüt des Demetrius in „Ein Mittsommernachtstraum“ gab, lag es für ihn auf der Hand, das Ausgangswerk von William Shakespeare zu lesen. Auch wenn es ihm nicht immer leichtfällt, hat er mittlerweile doch gelernt, seinem Geist und seinem Körper die notwendige Ruhe zu gönnen. Dann geht er mit dem Hund spazieren, erkundet mit anderen Mitgliedern des Ensembles die Umgebung oder stattet so wie jetzt im Sommer seinen Eltern Prisca und Josef Kastl einen Heimatbesuch ab. <BR /><BR />Mit 16 Jahren ist er bereits von Zuhause weggegangen, hat damals den Sprung nach Dresden gewagt, um sich an der Hochschule für Tanz „Palucca“ zum Profitänzer ausbilden zu lassen. Da stand bereits fest, dass er das Zeug und den notwendigen Biss dazu hatte. „Ich habe nie etwas anderes gewollt, mein Weg war praktisch vorgezeichnet“, meint er schmunzelnd. Er selbst wurde im Alter von 5 Jahren auf Tanzkurse in Kaltern aufmerksam, als im Kindergarten Faltblätter für Kindertanzkurse auflagen. Seine Mutter erklärte ihm zwar, das sei etwas für Mädchen, aber der junge Bub ließ sich nicht beirren, er bewog sie dazu, ihn zum Kurs zu bringen. Bereits 2 Jahre später kam er unter die Fittiche der landesweit bekanntesten Ballettlehrerin Renate Kokot in Neumarkt. Matthias Kastl hat sie als „fordernde und strenge Lehrerin mit einem sehr guten Auge“ in Erinnerung. Das seien genau die richtigen Impulse für seine Weiterentwicklung gewesen. <BR /><BR />Renate Kokot hat im Laufe ihrer 40-jährigen Unterrichtsaktivitäten eine Vielzahl an Südtiroler Tanztalenten geformt, so haben es etwa auch Timoteo Mock aus Leifers oder der Bozner Tommaso Tezzele zu Solotänzern gebracht. Im heurigen Sommer hat die 75-Jährige, die 1983 als Ballerina der Deutschen Staatsoper aus Berlin der Liebe wegen nach Neumarkt zog, das Ende ihrer Tätigkeit bekanntgegeben. <h3>Renate Kokots harte Schule</h3>Bereits in seinen frühen Jugendjahren eröffnete sich somit für Matthias Kastl eine faszinierende Welt, denn Renate Kokot ermöglichte ihren Schützlingen zu Tanzaufführungen in England, Kanada oder Deutschland zu reisen. Mit 16 wurde er an besagter Hochschule in Dresden genommen, im Abschlussjahr mussten sich die Eleven eigenhändig um Engagements an Theatern und Opernhäusern kümmern. Das bedeutet, sich gegen Hunderte weitere Bewerber zu behaupten.<BR /><BR />Im tschechischen Ostrava (Ostrau) bekommt der damals 18-jährige Kalterer schließlich seinen ersten Job als professionell ausgebildeter Tänzer. Mit dem notwendigen Biss erarbeitete er sich die schwierigsten Rollen, darunter etwa Vicomte de Valmont, den Protagonisten aus „Gefährliche Liebschaften“. Das sei aus technischer und künstlerischer Hinsicht „ein Killer“ gewesen, eine immense Herausforderung, erinnert sich Matthias Kastl. Im gleichnamigen Film aus dem Jahre 1988 hatte US-Schauspieler John Malkovich diese Figur interpretiert. Natürlich bleiben in der Szene derartige Auftritte nicht unbeachtet, der nächste logische Schritt war das Engagement als Solotänzer und somit die Verwirklichung eines Kindheitstraums. Nach 5 Jahren in Tschechien folgte die aktuelle Station in Polen: Als fixes Ballettmitglied heuerte er 2019 an der „Opera Nova“ an, dort galt es zwar die schwierigen Coronajahre zu überbrücken, aber letztlich hat er sich dort gut eingelebt und sich einen Namen gemacht.<h3>Man will sich selbst beweisen, dass man es draufhat</h3>„Heimweh hatte ich eigentlich noch nie, das hat wohl damit zu tun, dass ich mich in der Ballettwelt voll und ganz aufgehoben und verwirklicht fühle“, beteuert er. Daran ändert auch nichts, dass in seinem Umfeld die allermeiste Zeit Polnisch gesprochen wird, nicht gerade eine einfach zu erlernende Sprache.<BR /><BR />„Osteuropa hat eine lange Tradition, was Ballett, Opern und klassische Musik betrifft, und diese Kultur wird nach wie vor stark gepflegt und erfreut sich eines großen Zuspruchs“, sagt Matthias Kastl, der mit seiner schlanken Statur die Gardemaße eines Tänzers hat, dazu ein elegantes Auftreten und eine selbstbewusste Ausstrahlung an den Tag legt. Natürlich sei dieses Leben kein Zuckerschlecken, hin und wieder könne man angesichts der vielen Trainingsstunden und des allgegenwärtigen Leistungsdrucks schon einen Durchhänger bekommen.<BR /><BR /><embed id="dtext86-60793529_gallery" /><BR /><BR />Der Kalterer erklärt: „Aber man will sich immer wieder selbst beweisen, dass man das eigene Niveau weiter hochschrauben kann und wenn es dann gelingt, ist das die pure Genugtuung. Natürlich sind nicht alle, die es wollen, dazu gemacht, manche scheitern, weil sie mit dem Kopf durch die Wand wollen. Sicherlich kann man diesen Antrieb auch als egoistisch oder gar masochistisch beschreiben, aber sollte mir dazu irgendwann die Lust fehlen, so höre ich auf.“ Jedoch hat er als Ballett-Tänzer noch mehrere Jahre vor sich, gerade weil er von seinem Körper positive Signale bekommt. Allerdings weiß er jetzt schon, dass er dieser Welt auch nach Abschluss seiner Tanzkarriere erhalten bleiben wird, womöglich als Ballettmeister in einem großen Opernhaus. Matthias Kastl ist von Kindesbeinen an seiner inneren Bestimmung gefolgt, man darf getrost behaupten, er ist für das Ballett prädestiniert.<BR />