Bei einem Spaziergang in fachkundiger Begleitung bekommt unser Kolumnist plötzlich Sehnsucht nach den Wiesenkonzerten früherer Zeiten – allerdings ohne Bier und Blaskapelle.<BR /><BR /><BR />In den vergangenen Wochen hatte ich aus Gründen, die nicht hierher gehören, in meinem Elternhaus zu tun. Als ich die Tür zum Zimmer öffnete, das ich mir mit meinem Bruder teilte, erblickte ich dort vor meinem geistigen Auge in den Regalen die 90 grünen Bände der gesammelten Werke Karl Mays. <BR /><BR />Bei „Briefwechsel mit seinen Kindern I und II“ musste ich passen, alle anderen hatte ich Zeile für Zeile gelesen, die 3 Winnetou Bände sogar mehrmals. Zu den Enttäuschungen meiner Kindheit gehört, dass der Schauspieler Pierre Brice (die Verkörperung Winnetous auf der Leinwand) damals Ende der 60er Jahre, als wir im gerammelt vollen Ariston Kino unserer Stadt heiße Tränen über den Tod des edlen Indianerhäuptlings vergossen hatten, nach der Vorstellung nicht im beigefarbenen Fransenhemd in Wildlederoptik, sondern in einem stinknormalen Anzug an einem Seiteneingang vor der ersten Sitzreihe lehnte.<BR /><BR /><b>Ist ihr Zirpen selten geworden?</b><BR /><BR />Mein Bruder und ich mussten immer früh ins Bett, in den Lesepausen der langen Sommerabende beobachtete ich am langsam verblassenden Himmel vor dem Fenster draußen die Schwalben bei ihren Flugmanövern. Ihr schrilles Sirren ist kaum mehr zu hören. Und wie lange ist es eigentlich her, dass ich, den Kopf auf den verschränkten Armen, auf einer nach frischem Heu duftenden Wiese lag, während ringsum die Heuschrecken hüpften? Ist auch ihr Zirpen seltener geworden, wer zählt die Verluste? <BR /><BR />Um mehr Klarheit zu gewinnen, bat ich Petra Kranebitter um eine gemeinsame Exkursion. Die Zoologin, Konservatorin für Zoologie im Naturmuseum Südtirol und Mitbetreuerin der Biodiversitäts-Plattform FloraFaunaSüdtirol, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Heuschrecken. 85 Arten konnten in Südtirol bisher nachgewiesen werden. Von Anonconotus italoaustriacus und Aeropedellus variegatus, ihren „Kronjuwelen“, zwei Arten, die in den Alpen nur sehr selten und in kleinen, isolierten Gebieten vorkommen, berichtete Kranebitter in einer Videokonferenz zusammen mit ihrem Nordtiroler Kollegen Philipp Kirschner. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="679352_image" /></div> <BR /><BR />Im Forschungsprojekt „Alpine Heuschrecken im Spannungsfeld von Isolation und Klimawandel“ untersuchen die Beiden mit modernen genetischen Methoden die komplexe Evolutionsgeschichte dieser zwei Arten. Die wiederholte Isolation von Populationen während der Eiszeitalter hat einerseits die Bildung von Arten begünstigt, andererseits kann Isolation auch zu Inzucht und dem Aussterben von Populationen führen. „Somit sind wir mitten in der Biodiversitätsforchung und die Ergebnisse lassen Rückschlüsse auf andere Arten zu“, sagte Kranebitter.<BR /><BR /> Viele Heuschrecken stünden heute auf der roten Liste der bedrohten Tierarten – „die Alpenschrecke sogar auf der selben Stufe wie der Eisbär“, ergänzte Kirschner. Weil diese Kronjuwelen weit über der Waldgrenze leben, schwer aufzufinden sind und wechselhaftes Wetter nicht erfolgsförderlich sein würde, „bei Regen verkriechen sie sich “, disponierte Kranebitter kurzfristig um: „Treffen wir uns in Moritzing beim Schießstand?“ schlug sie vor. Auch dort gebe es einige Heuschreckenarten. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="679355_image" /></div> <BR /><BR /><BR />Strahlendes Spätsommerwetter an diesem Nachmittag Ende August. Trotz Hitze – für die Wissenschaft muss man Opfer bringen! – trägt Kranebitter zum Hemd eine graue Weste mit Seitentaschen, aufgedruckt das Logo „Geo-Tag der Artenvielfalt“. In der Hand ein Insektenfangnetz, auf der Schulter einen Rucksack, stapft Kranebitter durch Rebzeilen voran, es geht Richtung Unterglaning mit seinen Streuhöfen hinauf.<BR /><BR /> „Da hüpft schon etwas“, sagt die Zoologin, bückt sich und hascht am Rand des Weinbergs blitzschnell nach einer Gottesanbeterin – an den sonnenaufgeheizten Porphyrwänden über unseren Köpfen hallt unterdessen das Zirpen von Zikaden wider. Letztere hätten mit den Heuschrecken nichts zu tun, sie gehörten zu den Schnabelkerfen. <BR /><BR />In diese Gruppe gehören auch die Wanzen und die Pflanzenläuse, erklärt meine Begleiterin, während wir durch Buschwald über einen alten gepflasterten Steig gehen. Neben Eichen und Mannaeschen wachsen hier Feigenkakteen, Agaven und Mäusedorn. Mit mediterranen und hochalpinen Klimazonen weise Südtirol eine große Artenvielfalt auf, sagt Kranebitter. „Heuschrecken erstaunen durch ihre Lebensweisen und ich finde sie einfach schön“, umschreibt sie ihr Verhältnis zu den Heuschrecken. <BR /><BR /><BR /><BR /><BR />Angefangen hat es früh, mit dem Zylinder tragenden Grashüpfer Flip aus dem Biene-Maya Film. „Im Gegensatz zu anderen Kindern ekelten mich Insekten nie – ich fand sie faszinierend.“ Zu den Vergnügen in Kranebitters Kindheit gehörten von ihr organisierte Spinnenrennen. Inzwischen hat die Zoologin ihr Netz ein paar Mal im schütteren Gras hin- und her geschwenkt. Danach hängen am Nylon ein halbes Dutzend grün-brauner Grashüpfer. Kranebitter hat zwei Bestimmungsbücher sowie ihre Lupe ausgepackt, nun hält sie eine graugelbbraune, kaum größer als daumennagelgroße Heuschrecke am Hinterende fest. <BR /><BR />„Es wird knifflig“, sagt die Zoologin, während sie die Flügel des Tieres auseinander spreizt, zur Sicherheit schlägt sie im Bestimmungsbuch bei Unterscheidungspunkt 67 nach. „Es könnten hier zwei Arten vorkommen, die sich sehr ähnlich sind, der Unterschied liegt in der Färbung der Hinterflügel und in der Genitalkapuze der Männchen. Was die Arten hier im warmen Moritzing betreffe, sei sie etwas aus der Übung. „Normalerweise bin ich ja im baumlosen Gelände auf der Spur von Anonconotus italoaustriacus und Aereopedellus variegatus unterwegs“. <BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="679358_image" /></div> <BR /><BR /><BR />Es ist dann doch eine leichtere Übung für Kranebitter, das Exemplar zwischen ihren Fingern zu bestimmen, Calliptamus siciliae, die Provence-Schönschrecke. „Anfang der 90er wurde genau an diesen warmen Südhängen ober Moritzing zum ersten Mal die Ägyptische Wanderheuschrecke in größerer Anzahl nachgewiesen“, ein Neozoe. Mittlerweile gilt sie bei uns als eingebürgert“, sagt die Insektenforscherin. <BR /><BR />Während meine Begleiterin noch zwei oder drei Mal ihr Netz auswirft, vom Schießstand herauf Schüsse knallen, erfahre ich, dass es auch Arten gibt, die Feuchtwiesen, Hecken oder Wald brauchen. Andere Arten leben in Höhlen, auf Kiesbänken und wieder andere sind sogar auf uns Menschen angewiesen. <BR /><BR />Heuschrecken seien Indikatoren, sagt meine Begleiterin: Ihr Vorkommen oder Nichtvorkommen lasse Rückschlüsse auf die Biodiversität zu. Was das Artensterben betreffe, meint Kranebitter, „kommen wir mit dem Forschen gar nicht nach. Viele Arten verschwinden noch bevor wir sie entdecken konnten“ Verschwinde eine Art, werde z.B. einer anderen die Nahrungsgrundlage entzogen. „Es ist eine Kette, wie wichtig ein Glied ist, wissen wir oft nicht.“ Keine Technik könne eine verschwundene Art wieder zum Leben erwecken. <BR /><BR /><BR /><b>Die Frage nach dem Nutzen</b><BR /><BR /><BR />Während unser Gespräch von den Heuschrecken zu den Bienen abschweift: ohne sie keine Bestäubung, ohne Bestäubung keine Früchte!, spricht Kranebitter einerseits ganz als Wissenschaftlerin. „Die Sache ist sehr komplex, man muss differenzieren“, sagt sie etwa und warnt vor vorschnellen Verallgemeinerungen. Andererseits ist sonnenklar: Forschen bedeutet für Petra Kranebitter eine Herzensangelegenheit. Das Insekten aufspüren und im Bestimmungsbuch-Nachschlagen gehöre zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, erklärt sie. „Ich finde es beruhigend“. <BR />Wir sind auf dem Retourweg, als meine Begleiterin über das geringe Interesse an den Forschungen des Naturmuseums klagt. „Nicht alle verstehen, dass Forschen zu den Grundsäulen eines Museums gehört und dass es mehr als nur ein Zugeständnis dafür braucht“. <BR /><BR />Mein Geständnis, dort noch nie gewesen zu sein, quittierte sie vorhin mit einer hochgezogenen Augenbraue. Der moderne Mensch frage stets nach dem Nutzen, Profit sei heute das Allerwichtigste, sagt Kranebitter. Klar, dass es da die Natur schwer habe. „Ob es den Heuschrecken gut geht oder nicht, erachten viele als ganz unwichtig.“ Dabei würden mittlerweile selbst Weltkonzerne wie Nestle mit Umweltschutz und Artenvielfalt werben. „Man spricht in diesem Zusammenhang von Benefiting“, sagt Kranebitter: Die Wirtschaft profitiere am Ende von mehr Naturschutz. „Ökonomen berechnen heute die finanziellen und nicht monetären Vorteile von intakten Ökosystemen.“<BR /><BR /><BR /><div class="img-embed"><embed id="679361_image" /></div> <BR /><BR /> Die verbreitete „idyllische“ Vorstellung vom Feldbiologen, der aus reiner Freude, zum Spaß, weil er es schön findet, durch die Natur streife und sie erforsche, weist Petra Kranebitter vehement zurück, sie „verniedliche“ ihre Arbeit und sei gefährlich, kontraproduktiv: „Wir sind ja nicht im luftleeren Raum und können machen, was uns die Laune eingibt. Biodiversitätsforschung macht man nicht, weil Tiere und Pflanzen schön sind. Forschung kann knallhart sein.“<BR /><BR /><b>„Weil es schön ist!“</b><BR /><BR /><BR />Auf der Heimfahrt lasse ich mir das Erlebte noch einmal durch den Kopf gehen. Kosten-Nutzen-Erwägungen kenne ich aus der Schule. Was bringen Geschichte, Literatur und die alten Sprachen?, heißt es immer wieder. Dann behaupten wir Pädagogen, es gehe dabei um ein kognitives Training, die Schulung des logischen Denkens. Warum aber nicht gleich Wirtschaftliches Rechnen üben, Prozent- und Zinsrechnung, wenn der Zweck allein im praktischen Nutzen liegt? Warum den mühsamen Umweg Latein? Ein alter Kollege formulierte es so: „Weil es schön ist!“ Das reichte ihm als Begründung. <BR /><BR />Wie recht er hatte! Wegen einem Sonnenaufgang um vier Uhr früh auf einen Gipfel rennen? Und was ist mit der Liebe, dem Allerwichtigsten: schwächt sie etwa nicht die Konzentration und die Leistungsfähigkeit? Wo liegt der Profit? In der Alltagshektik habe ich etwas vergessen: Dass auch die Heuschreckengesänge zu meiner Glücks- und Lebenszufriedenheits-Bilanz gehören. Künftig will ich den Gratiskonzerten bewusster lauschen. <BR /><BR />