<b>von Carla Norrlöf</b><BR /><BR />Der aktuell heftigste Schlagabtausch in der amerikanischen Politik findet nicht zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten statt, sondern zwischen Bundesstaaten, die die Wahlkreisordnung bestimmen, welche wiederum darüber entscheidet, wer im Kongress sitzt. <BR /><BR />Auch wenn Republikaner und Demokraten nicht auf Armeen, sondern auf Kampagnen zur Neufestlegung der Wahlkreise setzen, lässt sich ihr Konflikt am besten durch geopolitische Zusammenhänge erklären. Schließlich streiten sie nicht um Ideen oder bestimmte politische Maßnahmen, sondern um Territorium.<h3>Kartografie in Kontrolle umgemünzt</h3>Die als Gerrymandering bezeichnete Neufestlegung der Wahlkreisgrenzen ist zu einem entscheidenden Instrument in diesem Kampf geworden, das es den Behörden auf Bundesstaatenebene ermöglicht, Karten so zu erstellen, dass die Wählerschaft des politischen Gegners neutralisiert wird. Die Parteien können Kartografie also in Kontrolle ummünzen.<BR /><BR /> Das geschieht entweder durch die Zusammenfassung von Wählerinnen und Wähler in einer Handvoll Wahlkreise, sodass die meisten dieser Wahlkreise an die eigene Partei gehen, oder durch die Aufteilung der Wählerschaft auf viele Wahlkreise, wodurch es unmöglich wird, irgendwo eine Mehrheit zu erringen. Gewählt wird zwar weiterhin, aber das Ergebnis steht schon vorher fest.<h3>Abgeordneten wird mit Polizei gedroht</h3>Texas ist das anschaulichste Beispiel dafür. Die Republikaner haben gerade eine Karte für die Kongresswahlen verabschiedet, die ihnen bis zu fünf zusätzliche Sitze im Repräsentantenhaus verschaffen soll. Als demokratische Abgeordnete den Bundesstaat verließen, um die Beschlussfähigkeit zu verhindern, drohte der Gouverneur von Texas, Greg Abbott, mit der Entsendung von Polizeikräften, um sie zurückzuholen.<BR /><BR /> Kalifornien – ein stark demokratisch geprägter Bundesstaat – reagierte darauf mit einer ähnlichen Maßnahme. Gouverneur Gavin Newsom will die unabhängige Wahlkreisreformkommission seines Bundesstaates überstimmen, um den Vorsprung der Demokraten abzusichern. Seiner Ansicht nach dürfe Kalifornien nicht untätig bleiben, wenn Texas die Rahmenbedingungen verändere.<h3>Demokratische Schutzmechanismen ausgehebelt</h3>Wohin wird das alles führen? Umfragen zeigen, dass die meisten Menschen in den USA eine solche parteipolitisch motivierte Wahlkreiseinteilung als Bedrohung der Demokratie betrachten. Die Wahlkreisreformkommission Kaliforniens ist verfassungsmäßig unabhängig. <BR /><BR />Mit ihrer Vorgehensweise nach texanischem Vorbild zeigt sie, wie leicht parteipolitische Vorgaben demokratische Schutzmechanismen außer Kraft setzen können. In Mainstream-Kommentaren wird der Konflikt zunehmend als eine Art „Krieg“ bezeichnet. <BR /><BR />Da andere Bundesstaaten ebenfalls eine Wahlkreisreform außerhalb der regulären 10-Jahres-Frist in Betracht ziehen und wichtige Persönlichkeiten wie der ehemalige Präsident Barack Obama das Vorgehen Kaliforniens als verantwortungsvolle Gegenstrategie befürworten, gewinnt das Thema stark an Brisanz und Tragweite.<h3> Oberster Gerichtshof mischt sich nicht in „politische Frage“ ein</h3>Zwar wird es zweifellos rechtliche Einsprüche gegen die neuen Wahlkreiskarten geben, doch hat der Oberste Gerichtshof bereits 2019 entschieden, dass parteipolitisch motivierte Wahlkreismanipulationen eine „politische Frage“ seien, die außerhalb der Zuständigkeit der Bundesgerichte liegt. Mit dieser Entscheidung ist die letzte Absicherung auf nationaler Ebene weggefallen. <BR /><BR />Jeder Bundesstaat kann seine Wahlkreiskarte ungehindert neu zeichnen, und die Ergebnisse präsentieren sich nicht gerade subtil. Im Jahr 2024 zeigte eine Analyse des Brennan Center for Justice, dass die aktuellen Wahlkreiskarten bereits eine Verschiebung von etwa 16 Kongresssitzen zugunsten der Republikaner bewirken – genug, um über die Kontrolle des Repräsentantenhauses zu entscheiden.<h3> Grenzen entscheiden über Macht</h3>Natürlich ist Gerrymandering nicht die einzige Verzerrung in der amerikanischen Demokratie. Auch der Senat, das Wahlkollegium, die Wahlkampffinanzierung und die Voreingenommenheit der Medien verfälschen die Repräsentation. Aber kein Instrument verzerrt die Lage auf so direkte Weise wie die nach parteipolitischen Interessen erstellte Wahlkreiskarte. Deshalb lässt sich dieses Thema am besten aus geopolitischer Sicht verstehen. <BR /><BR />Grenzen entscheiden darüber, wer ein Gebiet kontrolliert, und die Kontrolle über ein Gebiet verleiht Macht. Bei der Neufestlegung von Wahlkreisen geht es nicht nur darum, bereits gehaltenes Terrain zu verteidigen. Es geht auch um Expansion. Wahlkreisgrenzen werden verschoben, um Gleichgesinnte einzubeziehen und politische Gegner von strategisch wichtigen Korridoren abzuschneiden (wo sonst Stimmen zusammenfließen könnten). Einmal festgelegt, werden diese Wahlkreise wie Landesgrenzen verteidigt, und Zugeständnisse werden als strategische Niederlagen betrachtet.<h3> Politisches Wettrüsten</h3>Der Nobelpreisträger, Ökonom und Spieltheoretiker Thomas Schelling warnte, dass derartig eskalierende Auseinandersetzungen nicht zum Sieg, sondern zu Instabilität führen. Sobald eine Seite ihre Frontlinien neu zieht, muss die andere reagieren. Keine Seite kann sich zurückziehen, ohne eine langfristige Niederlage zu riskieren. Was als gerechtfertigte Verteidigungsmaßnahme beginnt, entwickelt sich zu einer Spirale aus permanenter Expansion und Gegenexpansion – zu einem politischen Wettrüsten.<BR /><BR />Warum entfaltet diese Taktik derart große Wirkung und warum ist sie so gefährlich? Die Antwort liegt in den starken politischen Identitäten, die Staaten wie Texas, Kalifornien und New York pflegen. Sich als Texaner, New Yorker oder Kalifornierin zu bezeichnen, heißt, einer politischen Gemeinschaft mit einem ausgeprägten Wir-Gefühl anzugehören.<BR /><BR /> Gerrymandering nutzt diese Identität aus und verwandelt Solidarität in garantierte Wahlsiege, die selbstverständlich erscheinen, obwohl sie die Spaltung innerhalb der Republik vertiefen.<BR /><BR />Wenn Abgeordnete ihre Wählerinnen und Wähler durch Neueinteilung der Wahlkreise auswählen, verschwindet jeglicher Wettbewerb. Durch Gerrymandering manipulierte Wahlkreiskarten verwandeln vorübergehende Vorteile in dauerhafte Grenzen. Aus geopolitischer Sicht werden sie zu befestigten parteipolitischen Enklaven und strategischen Korridoren, die eher der Sicherung der Vorherrschaft dienen als der Förderung des demokratischen Wettbewerbs.<h3> Der Handlungsspielraum ist gering</h3>Freilich verfügen auch kleine Staaten über Mittel, sich gegen Imperien zu wehren. Sie haben die Möglichkeit, Bündnisse zu schließen, Veränderungen der Lage auszunutzen oder unkonventionelle Kampfmethoden anzuwenden. <BR /><BR />Darüber hinaus können demografische Veränderungen, Mobilisierungen der Basis, parteiübergreifende Koalitionen und Klagen vor Gericht selbst die am besten befestigten Enklaven erschüttern. Diese Optionen verdeutlichen zwar, dass die auf diese Weise vom aktiven Wahlrecht ausgeschlossenen Menschen nicht völlig machtlos sind, doch dauerhafte Erfolgen erzielt man damit nicht.<h3> Beispiele aus andren Ländern</h3>In anderen Ländern zeigt sich, wie zerstörerisch diese Spirale sein kann, wenn sie einmal in Gang gekommen ist. In Polen etwa hat die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nach 2015 das Wahlrecht geändert, um das System zu ihren Gunsten zu beeinflussen, wodurch die Polarisierung noch verstärkt wurde. <BR /><BR />Ungarn lieferte eine Warnung in Form einer unerwarteten Wendung. Als die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán 2011 die Wahlkreise neu einteilte, verschaffte ihr dies zwar kurzfristig einen Vorteil, führte aber später zu Verzerrungen, die sich als Belastung erwiesen. Zu hohe Zugewinne in einigen Gebieten bedeuteten Stimmenverluste in anderen. <BR /><BR />Gerrymandering mag auf kurze Sicht zu sicheren Siegen führen, aber mit der Zeit führen verzerrte Wahlkreise zu unvorhergesehenen Schwachstellen.<h3>Wenn Wahlen zu bedeutungslosen Ritualen verkommen</h3>Wenn Landkarten über Wahlergebnisse entscheiden, besteht die Gefahr, dass Wahlen zu bedeutungslosen Ritualen verkommen. Die eigentlichen Auseinandersetzungen verlagern sich zu den Vorwahlen der Parteien, wo sich Kandidatinnen und Kandidaten um die treuesten Wähler bemühen. Extremisten haben Hochkonjunktur, Gemäßigte geraten ins Abseits, und die Polarisierung vertieft sich. <BR /><BR />Die Hauptleidtragenden dabei sind Minderheiten. Sie leben entweder konzentriert in wenigen Wahlkreisen oder verstreut über viele und haben kaum eine Chance auf effektive Vertretung. Da sie über weniger Ressourcen für langwierige Rechtsstreitigkeiten verfügen, sind sie die wehrlosen Opfer der Wahlkreisplanung.<BR /><BR />Die wahre Gefahr besteht nicht darin, dass Wahlen abgeschafft werden, sondern dass sie an Bedeutung verlieren. Eine Partei kann landesweit die Wahl verlieren und dennoch die Mehrheit der Mandate erringen. Die Vertretung spiegelt dann nicht mehr den Wählerwillen wider. Das Resultat ist eine Regierung, die nicht von der Bevölkerung gewählt wurde, sondern von denen, die zum Zeitpunkt der Wahlkreisreform an der Macht waren. Die größte Gefahr für die USA geht nicht von einem äußeren Gegner aus, sondern von einem inneren Zusammenbruch: einer geopolitischen Implosion.<BR /><BR /><b>Zur Autorin</b><BR />Carla Norrlöf ist Professorin für Politikwissenschaft an der University of Toronto.